Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Archive > 2010 > Das Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt
Das eine gilt als Waffe des Parlaments, das andere als Druckmittel des Kanzlers. Und doch dienen die Regelungen, die das Grundgesetz für das konstruktive Misstrauensvotum und die Vertrauensfrage festlegt, ein und demselben Zweck: Sie sollen dafür sorgen, dass Regierungskrisen schnell überwunden werden und kein Zustand eintritt, in dem das Land keine handlungsfähige Regierung besitzt. In der 60-jährigen Bundestagsgeschichte wurde bislang fünf Mal von einem Regierungschef die Vertrauensfrage gestellt, zwei Mal versuchte das Parlament den Kanzler per Misstrauensvotum zu stürzen. Ein Rückblick auf entscheidende Stunden im Plenum. Folge 4: 1982 - das Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt.
Zehn Jahre war es her, dass Oppositionsführer Dr. Rainer Barzel (CDU/CSU) versucht hatte, Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) mit einem Misstrauensvotum zu stürzen. Am 1. Oktober 1982 gelang der Union dann, woran sie 1972 gescheitert war.
Die Mehrheit des Bundestages entzog dem Regierungschef das Vertrauen. Helmut Schmidt (SPD) stürzte, Dr. Helmut Kohl wurde neuer Bundeskanzler. Erstmals in der bundesdeutschen Geschichte vollzog sich ein Regierungs- und Kanzlerwechsel durch ein konstruktives Misstrauensvotum.
So abrupt das Ende der 13 Jahre währenden sozialliberalen Koalition heute erscheinen mag, so zeichnete sich deren Krise doch bereits seit Monaten ab: Die aufgrund des NATO-Doppelbeschlusses drohende Stationierung von US-amerikanischen Mittelstreckenraketen und die problematische wirtschaftliche Lage brachten sowohl den linken und den rechten Flügel der SPD als auch SPD und FDP immer weiter auseinander.
"Der Kanzler hatte praktisch in allen Fragen Konflikte mit den SPD-Linken", zitierte die "Rheinische Post" rund ein Vierteljahrhundert nach der Bonner Wende Günter Verheugen (SPD), damals Mitglied der FDP und Weggefährte von Außenminister Hans-Dietrich Genscher.
Trotz einer Reihe von Konjunkturpaketen entfalteten Ölpreisschock und Weltwirtschaftskrise auch in Deutschland ihre Wirkungen: Die Arbeitslosigkeit stieg im Januar 1982 auf fast zwei Millionen und sollte im November erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik diese Marke überspringen. Die Bundesregierung geriet zunehmend unter Druck - und auch die Differenzen zwischen den Koalitionspartnern über den wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs wuchsen.
Im Februar 1982 versuchte der Bundeskanzler die Koalitionsfraktionen mit einer Vertrauensfrage zu disziplinieren und geschlossen hinter sich zu bringen. Doch obwohl Schmidt die Abstimmung gewann, mit der er den Bundestag um Unterstützung für seinen wirtschafts- und sicherheitspolitischen Kurs gebeten hatte, verstärkte sich der Zerfall der Koalition in den folgenden Monaten.
Die Medien begannen zu spekulieren: Wie lange hält die Koalition noch? Bei der FDP hatten sich indes die Wirtschaftsliberalen um Bundeswirtschaftsminister Dr. Otto Graf Lambsdorff durchgesetzt. Dieser präsentierte am 9. September 1982 mit dem so genannten Wende-Papier Vorschläge zur Reform der Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Seine zentralen Forderungen: Konsequente Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien, Haushaltskonsolidierung, Kürzung einschlägiger Sozialleistungen. Eine Provokation der SPD und ein Signal zur baldigen Trennung der Koalitionspartner? Tatsächlich konnte der Bundeskanzler als Sozialdemokrat solche Positionen nicht billigen, die alles in Frage stellten, was zum engsten Kanon sozialdemokratischer Wirtschafts- und Sozialpolitik gehörte.
Lambsdorffs Reformvorschläge beschleunigten den Koalitionsbruch: Bereits am 17. September 1982 traten die vier FDP-Bundesminister im Kabinett, Hans-Dietrich Genscher (Außenminister und Vizekanzler), Otto Graf Lambsdorff (Wirtschaftsminister), Gerhart Baum (Innenminister) sowie Josef Ertl (Landwirtschaftsminister) zurück. Sie kamen damit der Entlassung durch Schmidt zuvor, der den Rücktritt mit den Worten kommentierte: Eine weitere Zusammenarbeit sei weder den sozialdemokratischen Ministern noch ihm, dem Kanzler, zuzumuten.
Die Liberalen planten mit der CDU/CSU eine neue Regierung zu bilden - nicht durch Neuwahlen, sondern durch ein konstruktives Misstrauensvotum. Eine Entscheidung, die nicht nur in der SPD, sondern auch in den eigenen Reihen für Empörung sorgte: Einige FDP-Abgeordnete hofften bis zuletzt, dass ihre Partei zur SPD stehen und nicht Kohl zum Kanzler wählen würde. Als es schließlich doch so kam, verließen rund 20.000 Mitglieder aus Protest die Partei. Zwei davon waren Günter Verheugen und Ingrid Matthäus-Maier, die fortan in der SPD Karriere machten.
So verlief die mehr als sechsstündige Debatte im Bundestag, die der Abstimmung am 1. Oktober 1982 über den Misstrauensantrag vorausging, auch überaus emotional: Bundeskanzler Schmidt beschuldigte die FDP des Wortbruchs und der Täuschung. Zwei Jahre zuvor hätten die Liberalen mit ihrem Bekenntnis zur Fortsetzung der sozialliberalen Koalition "ein sehr gutes Wahlergebnis erzielt" und den "Willen zum Zusammenwirken" für weitere vier Jahre ausdrücklich bekräftigt, so der Sozialdemokrat.
Seit August 1981 sei aber der Vorsitzende der FDP "zielstrebig und schrittweise" von allen früheren Erklärungen abgerückt. "Über viele Jahre, Herr Kollege Genscher, werden die Bürger Ihnen dieses Verhalten nicht vergessen."
Das Grundgesetz gebe zu dieser Handlungsweise zwar die legale Möglichkeit, gab Schmidt zu, "aber sie hat keine innere, keine moralische Rechtfertigung". Den "treuen Liberalen", die "innerlich unseren Kurs bejahen", dankte der Bundeskanzler demonstrativ: "Die politischen und menschlichen Gemeinsamkeiten können durch taktische Wendemanöver nicht ausgelöscht werden."
Der namentlich gescholtene Genscher ergriff während der ganzen Debatte nicht das Wort, dafür äußerten sich Liberale wie der zurückgetretene Innenminister Gerhart Baum und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick. Letzterer nannte die Auseinandersetzung um den Misstrauensantrag nicht nur eine "schwere Stunde" für das Parlament und seine Partei, sondern auch für ihn persönlich: "Ich habe diese Koalition vor 13 Jahren bewusst mit herbeigeführt. Ich habe zu ihr gestanden bis zur letzten Minute."
Aber wären nicht die FDP-Minister zurückgetreten, hätte sie der Bundeskanzler selbst entlassen, betonte Mischnick. Dass nun von "Verrat" gesprochen werde, enttäusche ihn tief. Zwischen den Koalitionspartnern sei eine "Kluft" entstanden, eine Grenze, "wo eine Möglichkeit der Zusammenarbeit nicht mehr gegeben ist". Auch Dr. Rainer Barzel, der für die Union den Misstrauensantrag begründete, wies den Vorwurf des Verrats, der zuvor auch vom SPD-Parteivorsitzenden Willy Brandt erhoben worden war, zurück: "Bevor Sie anderen Verrat vorwerfen oder andere so öffentlich anprangern lassen, prüfen Sie selbst Ihre Haltung zu Ihrem Nachfolger", sagte der CDU-Politiker an Brandt gewandt.
Die SPD nannte Barzel zudem "regierungsunfähig". 13 Jahre sozialliberale Koalition seien ein schweres Erbe: "Sie hinterlassen uns geplünderte Kassen (...) und Massenarbeitslosigkeit! Sie haben ein blühendes Gemeinwesen in ein krisengeschütteltes Land verwandelt", kritisierte Barzel.
Gegen 14.25 Uhr eröffnete Bundestagspräsident Richard Stücklen (CDU/CSU) die Abstimmung, eine halbe Stunde später, um 15.10 Uhr, konnte er das Ergebnis bekanntgeben: 256 von 495 Abgeordneten hatten mit "Ja" und damit für den Misstrauensantrag gestimmt, 235 dagegen. Damit war der gemeinsame Antrag von CDU/CSU und FDP angenommen - mit sieben Stimmen mehr als notwendig gewesen wären. "Der Abgeordnete Dr. Helmut Kohl ist zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt", stellte Stücklen fest und fragte unter dem Applaus der Unions- und FDP-Abgeordneten: "Herr Dr. Kohl, nehmen Sie die Wahl an?" Dieser bejahte.
Damit war zum ersten Mal ein Regierungschef durch ein konstruktives Misstrauensvotum an die Macht gekommen. Helmut Schmidt war gestürzt, Helmut Kohl neuer Kanzler. (sas)