Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Archive > 2010 > Vereidigung > Antrittsrede von Bundespräsident Christian Wulff am 2. Juli 2010 im Deutschen Bundestag
Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident,
sehr geehrter Herr Bundesratspräsident,
sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
sehr geehrter Herr Bundespräsident Köhler,
sehr verehrte Frau Köhler,
sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Bundesrates,
dies ist für mich ein bewegender Moment. Er erfüllt mich mit Freude und Ernst, mit Zuversicht und Demut. Ich weiß um die große Verantwortung, die das Amt des Bundespräsidenten mit sich bringt. Ich bin dankbar dafür, nun in diesem Amt dienen zu dürfen - Deutschland und den Deutschen und allen Menschen, die hier leben.
Einmal mehr gab es für das Amt des Bundespräsidenten eine echte Wahl. Ich danke Frau Jochimsen und Herrn Gauck für den fairen Wettstreit. Jeder faire Wettstreit tut unserer Demokratie gut. Lieber Herr Gauck: Ihre Stimme hat viele Menschen erreicht. Bitte berichten Sie auch künftig über Ihre Erfahrungen mit der SED-Diktatur, bitte erzählen Sie auch weiterhin von Ihrer Liebe zur Freiheit. Das tut besonders denen gut, die das SED-Unrecht erlitten und die Selbstbefreiung der Menschen in der DDR erstritten haben, und es ist unersetzlich für die Jüngeren, die Ihnen zuhören - und verstehen.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, lieber Herr Köhler,
ich danke Ihnen von Herzen für alles, was Sie in Ihrer Amtszeit für unser Land geleistet haben. Der Kummer über Ihren Rücktritt hat noch einmal gezeigt, wie nah Sie unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern waren. Sie haben den Menschen zugehört, Sie haben ihre Sorgen und Nöte ernst genommen, Sie haben ermutigt und die vielen guten Ideen, die es in unserem Land gibt, sichtbar gemacht und unterstützt. Und wo Sie mit den Ergebnissen von politischen, gesetzgeberischen und medialen Prozessen nicht zufrieden waren, da haben Sie es deutlich ausgesprochen.
Sie haben mit Ihrer Frau Deutschland in der Welt würdig und erfolgreich repräsentiert. Besonders Ihr Engagement für Afrika hat viel bewirkt. Sie haben uns bewusst gemacht, wie sehr das Schicksal unseres Nachbarkontinents mit dem unseren verbunden ist. Viele verstehen nun besser, wie wichtig es ist, auch an andere, ja an alle auf dieser Einen Welt zu denken, weil wir nur gemeinsam Zukunft haben. Wir beginnen zu verstehen, wie viel sich lernen lässt von der Würde und Zuversicht, die sich die Menschen in Afrika selbst in bitterster Not bewahren. Ihr Engagement für Afrika bleibt unvergessen.
Sehr verehrte Frau Köhler,
auch Ihnen von Herzen Dank für Ihr großes Engagement. Sie haben vielen Menschen, die Zuwendung und Hilfe brauchen, Gehör verschafft. Besonders als Schirmherrin von „Achse“, der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen, haben Sie wichtige und bleibende Akzente gesetzt.
Liebe Frau, lieber Herr Köhler,
mich hat auch Ihr inniges persönliches Miteinander in Ihrer ganzen Familie tief beeindruckt. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie alles erdenklich Gute und Gottes reichen Segen.
Meine Damen und Herren,
heute vor 15 Jahren war das Reichstagsgebäude verhüllt von einem großen silbrigen Tuch. Hunderttausende kamen und staunten, wie fremd und zugleich wie schön dieser Schicksalsort deutscher Demokratie auf einmal wirkte, dank künstlerischer Kraft und technischem Können.
Das Kunstwerk hat damals ein Gemeinschaftsgefühl geweckt zwischen Menschen aller Altersstufen, Nationalitäten, Herkünfte, Berufe. Es hat auch sein Teil beigetragen zu dem neuen, fröhlichen Gesicht unseres Landes in der Welt. Die Entscheidung zur Verhüllung des Reichstags wiederum hatte gelehrt, wie spannend politische Debatten sein können, wenn ernsthaft und leidenschaftlich diskutiert wird. Das hat gezeigt: Wir Deutsche leben in einer gefestigten, in einer selbstbewusst gelassenen Demokratie.
Nebenbei zeigt das Projekt von Christo und Jeanne-Claude: Ein großer Erfolg braucht oft einen langen Atem. Die beiden blieben fast ein Vierteljahrhundert lang überzeugt und begeistert von ihrer Idee, und am Ende waren es fast alle.
Heute sind das Reichstagsgebäude und der Deutsche Bundestag die Mitte unserer parlamentarischen Demokratie und ein Muss für jeden Berlinbesucher. Die Silhouette ist weltweit ein Symbol unserer geglückten Einheit in Freiheit. In diesem Bau herrscht der Geist der parlamentarischen Demokratie, wie es die Mütter und Väter des Grundgesetzes erhofft und vorgedacht haben - friedfertig und wehrhaft, vielstimmig und solidarisch, auf Mehrheiten gebaut und die Minderheit achtend. Auch dieser Geist der Demokratie lebt von Gemeinschaftsgefühl und Begeisterung, von Beharrlichkeit und Durchsetzungsvermögen, von kühnen Ideen und gekonnter Verwirklichung.
Unser Land ist reich an alledem. Seine größte Stärke sind die Menschen, die hier leben. Ihre Vielfalt und ihre Talente machen Deutschland lebens- und liebenswert. Mir ist es wichtig, Verbindungen zu schaffen: zwischen Jung und Alt, zwischen Menschen aus Ost und West, Einheimischen und Zugewanderten, Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Arbeitslosen, Menschen mit und ohne Behinderung. Das ist nicht einfach - es gibt unterschiedliche Interessen, es gibt Vorurteile gegeneinander, Bequemlichkeiten und Anspruchsdenken. Ich will helfen, über all das hinweg Brücken zu bauen. Wir müssen unvoreingenommen aufeinander zugehen können, einander aufmerksam zuhören, miteinander sprechen.
Es gibt so viele Erfolgsgeschichten. Ich erinnere mich an die Begegnung mit dem Vater von Frau Özkan, der ersten Landesministerin muslimischen Glaubens in Deutschland. Ein Mann, der hier seit über 40 Jahren hart arbeitet und auf die Bildung und den Fleiß seiner Kinder Wert gelegt hat und der nun erlebt, wie erfolgreich und geachtet seine Tochter in unserer Gesellschaft ist. Seine Augen strahlten vor Glück.
Ich wünsche mir ein Land, in dem möglichst alle Eltern dieses Glück empfinden können. Dabei weiß ich: Es gibt noch längst nicht genug solcher Erfolgsgeschichten. Wann wird es bei uns endlich selbstverständlich sein, dass unabhängig von Herkunft und Wohlstand alle gleich gute Bildungschancen bekommen? Wann wird es selbstverständlich sein, dass alle Kinder, die hier groß werden, die deutsche Sprache beherrschen, auch die deutsche Sprache beherrschen? Wann wird es selbstverständlich sein, dass jemand mit den gleichen Noten die gleichen Aussichten bei einer Bewerbung hat, egal ob er Yilmaz heißt oder Krause?
Meine Antwort auf solche Fragen lautet: Wenn wir weniger danach fragen, wo einer herkommt, als wo er hinwill. Wenn wir nicht mehr danach fragen, was uns trennt, sondern was uns verbindet. Wenn wir nicht mehr danach suchen, was wir einander voraus haben, sondern was wir voneinander lernen können. Dann wird Neues, Gutes entstehen - aus urdeutscher Disziplin und türkischem Dribbling zum Beispiel, aus preußischem Pflichtgefühl und angelsächsischer Nonchalance, aus schwäbischer Gründlichkeit und italienischer Lebensart - und demnächst vielleicht aus rheinländischer Lebenskunst und chinesischer Bildungsbegeisterung.
Und Deutschland wird auch dann gewinnen, wenn wir weniger danach fragen, wie alt jemand geworden ist, sondern erkennen, wie jung Viele geblieben sind.
Ich bin immer wieder beeindruckt von dem Elan, mit dem bei uns Seniorinnen und Senioren Verantwortung übernehmen und Gutes bewirken - als Berater für Unternehmensgründer zum Beispiel, als Vorlesepaten in Schulen und Kindergärten und als verlässliche Mitglieder in den Kirchengemeinden und in ungezählten Vereinen und Verbänden in Deutschland. Diese Älteren wissen schon, was die Jüngeren noch lernen werden: Es lohnt sich, aktiv zu sein. Es macht reich - nicht an Finanzen, sondern an Freunden, nicht an Zahlungsmitteln, sondern an Zufriedenheit. Es gibt unserem Leben Sinn, und auf Sinn sind wir angelegt.
Darum ist es so wichtig, dass unser Land viele Gelegenheiten bietet dafür, Verantwortung zu übernehmen und für andere da zu sein. In Deutschland ist die Freiheit verbürgt, Vereine zu gründen und Bürgerinitiativen. Aber diese Freiheit ist nichts ohne das Bedürfnis so unendlich vieler Bürgerinnen und Bürger, sie zu nutzen und zu leben.
Das gilt auch für die politischen Parteien. Sie sind viel besser als ihr Ruf. Sie bieten den politisch Interessierten eine Heimat und ringen um die besten Lösungen für unser Land. Dennoch greift das Gefühl um sich, die Parteien seien verschlossen und neigten dazu, die Herausforderungen nicht beim Namen zu nennen und die politischen Angelegenheiten unter sich auszumachen.
Erinnern wir uns: Die politischen Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit. So will es unsere Verfassung. Wenn nun immer mehr politische Entscheidungen von immer weniger auch in Parteien aktiven Menschen vorbereitet und getroffen werden, dann sollten wir weniger diese Aktiven kritisieren als vielmehr die Anderen wieder stärker für die Aufgabe der politischen Selbstbestimmung begeistern und sie daran beteiligen. Das kann auf vielen Wegen und auf allen Ebenen unseres Gemeinwesens geschehen, vom kommunalpolitischen Bürgerentscheid bis zum Bürgerforum im Internet und bis zum stärkeren Einfluss der Wählerinnen und Wähler auf die Listen auch bei Bundestagswahlen. Die politische Willensbildung unseres Volkes braucht möglichst viele Bahnen, auf denen sich neue Ideen, Argumente und Mehrheiten von der Graswurzelebene bis in die Parlamente und Kabinettsäle verbreiten. Auch die Bürgerinnen und Bürger, die nicht in Parteien engagiert sind, müssen leicht die Erfahrung machen können, wie spannend die Mitarbeit an politischen Aufgaben sein kann, wie schwierig diese Aufgaben oft sind und wie befriedigend es gerade deshalb ist, im friedlichen Wettstreit gute und faire Lösungen zu erarbeiten.
Denn genau das geschieht ja tagein, tagaus. Nehmen wir nur das Beispiel der Finanz- und Wirtschaftskrise, die uns seit mehr als zwei Jahren in Atem hält. Seither lastet auf der Bundesregierung eine besonders hohe Verantwortung. Durch rasche und besonnene Entscheidungen ist es gelungen, die Folgen der Krise deutlich abzufedern - vor allem die Folgen für den Arbeitsmarkt. Dazu haben viele beigetragen: die Tarifparteien, vorausschauende Unternehmen, verantwortungsvolle Gewerkschaften und engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das zeigte, wie gut es ist, miteinander statt gegeneinander zu arbeiten. Das ist eine der Grundlagen unserer Sozialen Marktwirtschaft, auf die wir stolz sein können.
Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass sich Krisen diesen Ausmaßes nicht wiederholen. Darum ist es wichtig, die Verursacher der Bankenkrise in Haftung zu nehmen und den Finanzmärkten endlich gute Regeln zu geben. Das kann nur in europäischer und in internationaler Zusammenarbeit gelingen. Das macht die Aufgabe außerordentlich komplex.
Meine Damen und Herren,
das vereinte Deutschland ist mit seinen Nachbarn in Europa und den anderen Erdteilen so eng vernetzt wie nie zuvor in seiner Geschichte. Unsere Wirtschaft agiert global, unsere Bürger haben weltweite gesellschaftliche und kulturelle Kontakte, viele Menschen aus anderen Ländern kommen vorübergehend oder auf Dauer zu uns.
Diese Globalisierung bietet für Deutschland große Chancen. Unsere Wirtschaft profitiert vom europäischen Binnenmarkt, vom Euro, von weltweiten Absatzmärkten und vom Handel. Unsere Bürger reisen in alle Welt, und wir haben gerne die Welt zu Gast.
Gleichzeitig stehen wir vor globalen Problemen, die Deutschland nicht alleine wird lösen können, wie Klimawandel, die Wirtschafts- und Finanzkrise, Migration, Bedrohungen unserer Sicherheit durch Terrorismus und organisierte Kriminalität und andere Fragen.
Und wir müssen uns auf ständige Änderungen im internationalen Umfeld einstellen. Die Bevölkerungszahl steigt in vielen Teilen der Welt stark an, in Europa und gerade in Deutschland ist sie rückläufig. Schwellenländer wie Brasilien, China und Indien wachsen dynamisch. Viele Länder entwickeln ihr demokratisches System, ihren Rechtsstaat und heben den Lebensstandard ihrer Bevölkerungen. Aber es gibt auch weiterhin Armut, Unterentwicklung, fragile Staaten, Ressourcenknappheit, Naturkatastrophen und Krisen.
Für die Gestaltung des Globalisierungsprozesses brauchen wir zunächst einen festen Ankerpunkt in der Europäischen Union. Sie ist ein einzigartiges Friedens-, Werte- und Wohlstandsprojekt, mit dem die Völker unseres Kontinents die Konsequenzen aus Jahrhunderten von Kriegen und Zerstörung gezogen haben. Auch wenn in der augenblicklichen Finanz- und Schuldenkrise Anpassungsbedarf sichtbar wird, so steht für mich außer Zweifel, dass wir mit dem Lissabon-Vertrag eine politische und wirtschaftliche Integration erreicht haben, die uns Europäern jedenfalls erlaubt, kraftvoll und gemeinsam zu handeln, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen.
Aber wir müssen auch offen sein für die Kooperation mit allen anderen Teilen der Welt auf der Grundlage gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens. Dazu müssen wir andere Kulturen besser kennen und verstehen lernen, müssen wir auch hier auf andere zugehen und den Austausch verstärken. Das können wir schon hier bei uns einüben, in unserer Bundesrepublik, in unserer bunten Republik Deutschland. Unsere Vielfalt ist zwar manchmal auch anstrengend, aber sie ist immer Quelle der Kraft und der Ideen und eine Möglichkeit, die Welt aus unterschiedlichen Augen und Blickwinkeln kennenzulernen. Wir sollten neugierig sein und ins Gespräch kommen. Besonders dazu will ich in den kommenden Jahren beitragen. Wenn Viele sich dafür begeistern, dann werden wir unser Land und was in ihm steckt ganz neu entdecken. Ich bin überzeugt: Dann wird uns auch in Zukunft viel gelingen, dann werden wir noch oft so fröhlich und staunend auf das blicken, was da gelungen ist - ganz wie damals vor dem verhüllten Reichstag.