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Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Frau Bundeskanzlerin!
Herr Bundesratspräsident!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Liebe Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag!
Verehrter, lieber Herr Reich-Ranicki!
Verehrte Gäste! Meine Damen und Herren!
Frédéric Chopin ist einer der großen europäischen Künstler, die der Welt gehören ‑ auch wenn Polen wie Franzosen ihn verständlicherweise gerne als ihren Landsmann für sich in Anspruch nehmen. Seine Werke sind Teil des kulturellen Erbes der Menschheit. Und zu seinen Meisterwerken zählt ohne Zweifel das unscheinbare Nocturne in cis-Moll, das wir gerade gehört haben. Der polnische Pianist und Komponist Wladyslaw Szpilman, dem der beeindruckende Film Der Pianist ein Denkmal gesetzt hat, spielte dieses Nocturne im polnischen Rundfunk, als dieser seine Sendung wegen des Angriffs deutscher Truppen auf Warschau unterbrach. Mit genau demselben Stück ‑ wieder gespielt von Wladyslaw Szpilman ‑ nahm der polnische Rundfunk seine Sendungen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf.
Stellvertretend für viele Gäste, insbesondere Überlebende und Vertreter der Opfergruppen, begrüße ich heute Morgen Detlev Hosenfeld, dessen Vater, der Wehrmachtshauptmann Wilhelm Hosenfeld, seit 1940 in Polen NS-Opfer versteckte, darunter den Pianisten Szpilman, der deshalb überlebte.
In seiner Biografie schreibt Marcel Reich-Ranicki, dass die deutsche Wehrmacht, direkt nachdem sie in Warschau einmarschiert war, ein Chopin-Denkmal sprengte. Die Nationalsozialisten unterstellten seiner Musik revolutionäre Gedanken. Verboten war es ohnehin, Musikwerke aufzuführen, die mit der polnischen Nationaltradition zusammenhingen ‑ schon gar im Warschauer Getto.
Im Sommer dieses Jahres jährt sich zum 70. Mal der Tag, an dem die SS die sogenannte Umsiedlung der Juden aus dem Warschauer Getto befahl. Sie, verehrter Herr Reich-Ranicki, mussten am 22. Juli 1942 ebenjene Sitzung protokollieren, an dem Tag, so schreiben Sie, an dem ‑ Zitat ‑ „über die größte jüdische Stadt Europas das Urteil gefällt worden war, das Todesurteil.“ Von dieser Deportation ausgenommen sein sollten nur wenige, darunter auch jene, die ‑ wie Sie ‑ für den „Judenrat“ arbeiteten. Mit Ihrer im vergangenen Jahr verstorbenen Frau Teofila, die Sie in Freuden und Leiden über Jahrzehnte begleitet hat, entgingen Sie gemeinsam der Deportation und der Ermordung der Juden des Warschauer Gettos im KZ Treblinka. Ein halbes Jahr später, im Januar 1943, sollten auch Sie und Ihre Frau deportiert werden. Sie konnten sich in letzter Sekunde retten, indem Sie flohen und sich versteckten, anderthalb lange Jahre ‑ im Unterschied zu Ihren Eltern und Ihrem Bruder, die von den Nazis ermordet wurden.
Ihr Schicksal steht stellvertretend für das von Millionen Menschen. All jener, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ausgegrenzt, gedemütigt, beraubt, vertrieben, verfolgt, gefoltert und ermordet wurden, gedenken wir heute, am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Wir gedenken der Juden, der Sinti und Roma, der Homosexuellen, der Menschen mit Behinderungen, der Kranken, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der Künstler und Wissenschaftler, der aus rassistischen, politischen oder religiösen Motiven Verfolgten. Wir erinnern auch an diejenigen, die schikaniert, inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden, weil sie Widerstand leisteten oder verfolgten Menschen Schutz und Hilfe gewährten. Wir gedenken aller Opfer des Nationalsozialismus, für dessen Grausamkeit und Menschenverachtung nicht zuletzt die sogenannte Wannsee-Konferenz steht, die sich vor einer Woche zum 70. Mal jährte.
Anfang Januar 1942 hatte Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei, hochrangige Vertreter von SS- und Polizeidienststellen für den 20. Januar zu einer ‑ Zitat ‑ „Besprechung mit anschließendem Frühstück“ eingeladen. Bei diesem Treffen, unter Beteiligung von Staatssekretären aus dem Auswärtigen Amt, dem Justiz- und Innenministerium sowie Görings Superministerium und Hitlers Reichskanzlei, wurde der Holocaust generalstabsmäßig geplant und organisiert ‑ an mehr als 11 Millionen Menschen nach Adolf Eichmanns Berechnungen über die Anzahl der Juden im Herrschaftsbereich des NS-Regimes, in den Staaten der Verbündeten, der Neutralen wie der Kriegsgegner. Beschlossen war der Massenmord damals längst und die Schwelle zum Genozid bereits überschritten, als in der Villa am Wannsee der systematische Ablauf und die perfiden Details für den industriell perfektionierten Völkermord besprochen wurden.
Das Haus der Wannsee-Konferenz ist heute einer der vielen Orte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die uns erinnern und mahnen, uns dafür einzusetzen, dass in Deutschland alle Menschen frei und gleich und ohne Angst leben können. Das sind unser Ziel und unsere Verpflichtung. Die vergangenen Wochen und Monate mit der Aufdeckung einer beispiellosen Mordserie haben uns allerdings wieder vor Augen geführt, dass wir dieses Ziel noch nicht erreicht haben. Aber: Jeden Tag setzen sich überall in Deutschland Bürgerinnen und Bürger dafür ein.
Da sind Einzelne, Vereine, ganze Dörfer; da sind Menschen, die den Rechtsextremen, die durch ihre Städte marschieren wollen, immer wieder entgegentreten und zeigen: Wir dulden eure Diffamierungen, euren Hass nicht, schon gar nicht eure Gewalt.
(Beifall)
Es sind Menschen, die Zivilcourage beweisen, die nicht wegsehen, Diskriminierungen nicht unwidersprochen stehen lassen. Es sind Menschen, die ein Beispiel geben und die Mut machen.
Dieses Engagement werden wir brauchen und diesen Mut auch. Nach dem Expertenbericht zum Antisemitismus in Deutschland, den der Deutsche Bundestag 2008 in Auftrag gegeben hatte und vor wenigen Tagen erhalten hat, gibt es hierzulande einen latenten Antisemitismus in der Größenordnung von etwa 20 Prozent der Bevölkerung. Das ist für Deutschland genau 20 Prozent zu viel.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, sehr geehrter Herr Reich-Ranicki, Ihr Buch Mein Leben ist, wie Sie schreiben, „voll von kleinen Geschichten, die helfen, die große Geschichte besser zu verstehen“. So heißt es im Vorwort zu jenem Auswahlband Ihrer Biografie, der mittlerweile in vielen Schulen gelesen wird. Ihre Schilderungen vermitteln uns eine Ahnung von dem, was Sie erlitten haben und Sie ‑ wie alle Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ‑ Ihr Leben lang begleitet.
Sie ermöglichen uns den Blick auf den Alltag im Warschauer Getto, in dem nichts alltäglich, sondern alles Ausnahmezustand war: Demütigung, Willkür, Tod. Wie hält ein Mensch es aus, mit der ständigen Bedrohung, mit dieser Angst zu leben? Ihre ganz persönliche Antwort: mithilfe der Liebe, der Poesie und der Musik, in der „die unentwegt um ihr Leben Bangenden“ Schutz und Zuflucht, eine Gegenwelt in Zeiten größter Bedrängnis suchten.
Wir werden im Anschluss an Ihre Rede die Sonate für Violine und Klavier Nr. 3, Opus 37 von Mieczyslaw Weinberg hören. Er wurde 1919 in Warschau in eine jüdische Familie geboren. Mit zwölf Jahren nahm ihn das Konservatorium in Warschau auf. 1939 floh er vor den Deutschen in die Sowjetunion. Seine Eltern und seine Schwester wurden deportiert und 1943 von den Nazis im Zwangsarbeiterlager Trawniki ermordet. Mieczyslaw Weinberg machte es sich zu seiner Lebensaufgabe, mit Musik an das tragische Schicksal seiner Familie und der Millionen ermordeter Juden zu erinnern. „Ich sehe es als meine moralische Pflicht, vom Krieg zu schreiben, von den Gräueln, die der Menschheit in unserem Jahrhundert widerfuhren“, hat er einmal gesagt. In seiner Musik zeigt sich die Kraft der Kunst, der Musik wie der Literatur, der Sie, Herr Reich-Ranicki, Ihr berufliches Wirken gewidmet haben.
Ihnen und all jenen, die ihre erschütternden Erfahrungen aufgeschrieben haben und mit uns teilen, verdanken wir nicht nur Texte; ihre Bücher sind Erinnerungen, die bleiben, auch und gerade für nachfolgende Generationen. Und: Es sind Erinnerungen, aus denen wir als immerwährenden Auftrag gelernt haben.
Nach allem, was Sie erlebt und erlitten haben, bin ich Ihnen wie vielen Überlebenden des Holocaust zutiefst dankbar, dass Sie mit Deutschland nicht nur die eine, die menschenverachtende Seite unserer Geschichte verbinden, die wir nicht vergessen oder verdrängen werden.
Ich danke Ihnen, dass Sie trotz Ihrer angegriffenen Gesundheit unsere Einladung angenommen haben und heute zu uns zu sprechen. - Sie haben das Wort.
(Beifall)