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Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 30. April 2012)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Die pflegepolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Hilde Mattheis, befürwortet Erleichterungen bei der Zuwanderung ausländischer Pflegekräfte. Mit Blick auf Forderungen nach Einführung einer Green Card für Pflegekräfte aus dem Ausland sagte Mattheis in einem Interview der Wochenzeitung „Das Parlament“: „Ich bin dafür offen.“ Es gehe darum, verschiedene Ansätze zu verfolgen, um den sich abzeichnenden Mangel an Fachkräften einzudämmen. „Es gibt keine eindimensionale Lösung“, betonte die SPD-Abgeordnete. Notwendig werde eine „massive Aufwertung dieses Berufes sein, die sich auch in einer besseren Bezahlung niederschlägt“. Ferner müsse es Verbesserungen bei der Ausbildung und eine Akademisierung der Pflegeberufe geben.
Mattheis sprach sich strikt gegen die von der Bundesregierung geplante Förderung einer zusätzlichen privaten Pflegeversicherung aus. „Unser Weg ist ein anderer. Wir wollen auch für die Pflege die Bürgerversicherung“, sagte die SPD-Pflegeexpertin. Dies sei ein gerechtes System. „Wir wollen keine Zwei- oder Drei-Klassen-Pflege“, sagte Mattheis. Nach dem Konzept der SPD-Fraktion könnten Privatversicherte innerhalb einer Frist von einem Jahr wählen, ob sie in die Bürgerversicherung wechseln oder in ihren bestehenden Verträgen bleiben wollen.
Das Interview im Wortlaut:
Frau Mattheis, Demenzkranke sollen vom Jahr 2013 an mehr Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten. Haben Sie ein Lob für Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) übrig?
Niemand wird sich gegen zusätzliche Leistungen für Menschen wenden, die ein solches Krankheitsbild haben. Das kleine Plus täuscht aber nicht darüber hinweg, dass die Regierung das Wichtigste nicht anpackt: die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs.
Was ist eigentlich so wichtig daran, neu zu definieren, wer pflegebedürftig ist und Leistungen aus der Pflegekasse erhält?
Die geltende Definition ist zu eng gefasst. Es werden nur körperliche Einschränkungen berücksichtigt. Heute wird Pflegebedürftigkeit nach Minuten berechnet, es geht um den Zeitaufwand für personelle Hilfen. Das wollen wir ändern. Wir wollen den individuellen Bedarf erfassen und nicht den Mangel. Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen sollen die Hilfen bekommen, die ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sichern.
Auch Minister Bahr plädiert für einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Die jetzt geplanten finanziellen Verbesserungen für Demenzkranke bezeichnet er als Vorgriff auf eine umfassende Reform. Ein Expertenbeirat soll die Umsetzungsschritte ausarbeiten. Das klingt doch vernünftig, oder?
Mich überzeugt das nicht. Bereits im Jahr 2009 hat ein von der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) eingesetzter Beirat, an dem alle wesentlichen Verbände und Experten beteiligt waren, Vorschläge für einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff vorgelegt. Natürlich gibt es bei der Umsetzung an der einen oder anderen Stelle Fragen. Aber um die zu klären, braucht es keinen neuen Beirat. Der Bundesregierung mangelt es an politischer Entscheidungskraft und Entscheidungswillen.
Warum traut sich Bahr aus Ihrer Sicht nicht?
Der Minister hat zwei Möglichkeiten. Entweder muss er für mehr Einnahmen sorgen. Oder er muss verschiedenen Gruppen von Pflegebedürftigen Leistungen wegnehmen, um sie anderen zu geben. Zu beidem hat Bahr offensichtlich keine Lust, weshalb er die politische Entscheidung auf die lange Bank schiebt. Wir sagen: Eine umfassende Pflegereform ist nicht zum Nulltarif zu haben.
Die Bundestagsfraktion der SPD hat vor wenigen Wochen ein eigenes, 32-seitiges Positionspapier zur Reform der Pflegeversicherung vorgelegt. Was haben Sie konkret vor?
Wir haben uns an ein ganzheitliches Konzept gewagt. Neben einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff geht es unter anderem um die Entlastung pflegender Angehöriger, um eine bessere und schulgeldfreie Ausbildung von Pflegefachkräften und den Ausbau der kommunalen Pflegeinfrastruktur. Analog zum Kinderkrankengeld sollen Angehörige bei einem plötzlich auftretenden Pflegefall einen Anspruch auf Lohnersatzleistungen für die Pflegezeit und eine Freistellung von bis zu zehn Tagen erhalten. Denn Pflege muss man sich leisten können.
Was kostet das? Und wer soll das bezahlen?
Es stimmt: Gute Pflege kostet was. Wir rechnen mit zusätzlichen Kosten in Höhe von maximal sechs Milliarden Euro bis zum Jahr 2020, wofür vier Milliarden Euro auf die Ausweitung von Leistungen infolge eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs entfallen. Zur Finanzierung wollen wir die Bürgerversicherung Pflege einführen. Das bedeutet beispielsweise auch einen Risikoausgleich zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung. Die Beiträge zur Pflegeversicherung sollen paritätisch von Arbeitgebern und Versicherten aufgebracht werden. Zusätzlich gehen wir von einer Beitragssatzerhöhung in Höhe von 0,1 bis 0,15 Prozentpunkte pro Versichertem aus.
Die Einführung einer Bürgerversicherung streben alle Oppositionsfraktionen an. An dem Konzept gibt es aber verfassungsrechtliche Zweifel. Wie wollen Sie diese ausräumen?
Nach unserem Konzept können Privatversicherte – unabhängig von Alter und Gesundheitszustand – innerhalb einer Frist von einem Jahr wählen, ob sie in die Bürgerversicherung wechseln oder in ihren bestehenden Verträgen bleiben wollen. Bei einem Wechsel in die Bürgerpflegeversicherung erfolgt die Mitnahme der Altersrückstellungen im verfassungsrechtlich zulässigen Rahmen.
Ist es aus Ihrer Sicht in der Bevölkerung ausreichend bekannt, dass die Pflegeversicherung lediglich einen Teilkaskoschutz bietet?
Es gibt bei der Pflege ein großes Informationsdefizit. Deshalb ist es uns auch so wichtig, dass Beratung weit im Vorfeld von Pflegebedürftigkeit ansetzt. Ein zentrales Stichwort ist in diesem Zusammenhang die Prävention. Auch wer jünger als 65 Jahre alt ist, sollte sich Gedanken darüber machen, wie er gepflegt werden möchte und welche Schritte dafür in die Wege zu leiten sind.
Minister Bahr will private Vorsorge fördern. Vor dem Hintergrund, dass die Pflege- eine Teilkaskoversicherung ist: Halten Sie dies für notwendig?
Wir lehnen obligatorische, ergänzende, kapitalgedeckte Zusatzversicherungen ab. Unser Weg ist ein anderer. Wir wollen auch für die Pflege die Bürgerversicherung. Das ist ein gerechtes System, dass alle entsprechend ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit einbezieht und die Lasten fair verteilt. Wir wollen keine Zwei- oder Drei-Klassen-Pflege.
Frau Mattheis, was ist eigentlich so falsch daran, eine private Vorsorge aufzubauen?
Private Vorsorge läuft unserem Gedanken von Solidarität total zuwider. Untere und mittlere Einkommen werden überproportional belastet. Außerdem wissen wir – zahlreiche Gutachten haben das belegt –, dass die Umlage das sicherste Sozialsystem ist, was es gibt.
Sind in diese Überlegungen auch Erfahrungen mit der Riester-Rente eingeflossen?
Die spielen sicherlich im Nachhinein auch eine Rolle.
Für das Jahr 2025 wird bundesweit ein Mangel von rund 150.000 Pflegekräften prognostiziert, der Bundesverband der privaten Anbieter sozialer Dienste erwartet sogar, dass etwa 250.000 Pflegekräfte fehlen. Was muss geschehen?
Es gibt keine eindimensionale Lösung. Notwendig wird eine massive Aufwertung dieses Berufes sein, die sich auch in einer besseren Bezahlung niederschlägt. Es wird Verbesserungen bei der Ausbildung und eine Akademisierung der Pflegeberufe geben müssen. Das Angebot zu Umschulungen in Pflegeberufe auch für Über-40-Jährige wird ausgeweitet werden müssen. Auch Zuwanderung qualifizierter Kräfte ist ein Thema.
Bahr will die Zuwanderung für Pflegekräfte aus dem Ausland erleichtern. Brauchen wir eine Green Card für Pflegekräfte aus dem Ausland?
Ich bin dafür offen. Es geht darum, verschiedene Ansätze zu verfolgen, um den sich abzeichnenden Mangel an Fachkräften einzudämmen.
Die EU-Kommission schlägt vor, eine zwölfjährige Allgemeinbildung zur Voraussetzung für eine Pflegeausbildung zu machen. Was halten Sie davon?
Das lehnen wir ab. Wir brauchen den Einstieg in die Pflegeberufe nach zehn solide abgeschlossenen Schuljahren. Wichtig ist es, dass es dann verlässliche Aufstiegsperspektiven für Pflegefachkräfte gibt.
Wie soll sich die Bezahlung des Pflegepersonals verbessern?
Zum einen muss mehr Geld in das System. Zum anderen muss den Kommunen und Pflegekassen bei Pflegesatzverhandlungen klar sein, dass Personalkosten höher bewertet werden müssen.
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