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Die Opposition ist im Bundestag mit der von der Bundesregierung geplanten Pflegereform scharf ins Gericht gegangen. Der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Prof. Dr. Karl Lauterbach, warf Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) in der ersten Lesung des Gesetzentwurfs "zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung" (17/9369) am Donnerstag, 26. April 2012, vor, lediglich ein "Reförmchen" zustande gebracht zu haben.
"Diese Regierung lässt die Alten und Kranken, weil sie keine Lobby haben, im Stich", betonte Lauterbach. Dagegen verteidigte Bahr seine Pläne: Rund 500.000 Demenzkranke bekämen vom kommenden Jahr an erstmals Leistungen aus der Pflegeversicherung. "Dieses Gesetz stellt keinen schlechter, sondern viele besser", unterstrich der Minister.
Der Gesetzentwurf sieht zum 1. Januar 2013 eine Erhöhung des Beitragssatzes zur sozialen Pflegeversicherung um 0,1 Prozentpunkte auf 2,05 Prozent — bei Kinderlosen auf 2,3 Prozent — vor. Das soll in den Jahren 2013 bis 2015 Mehreinnahmen in Höhe von jeweils rund 1,2 Milliarden Euro einbringen. Diese Mehreinnahmen sollten "nicht mit der Gießkanne" verteilt werden, "sondern ganz gezielt Familien und Angehörigen" zugute kommen, sagte Bahr. Er fügte hinzu: "Die Angehörigen sind der größte Pflegedienst der Nation." Annähernd zwei Drittel aller Pflegebedürftigen würden in den Familien gepflegt.
Versicherte ohne Pflegestufe mit "erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz" (sogenannte Pflegestufe 0) sollen mit dem Gesetz erstmals Anspruch auf ein Pflegegeld in Höhe von monatlich 120 Euro oder Pflegesachleistungen von bis zu 225 Euro erhalten. Auch die Leistungen für ambulant betreute Demenzkranke in den Pflegestufen I und II werden dem Entwurf zufolge erhöht. Der Gesetzentwurf sieht vor, pflegenden Angehörigen eine Auszeit zu erleichtern. Dazu soll das Pflegegeld künftig zur Hälfte weitergezahlt werden, wenn eine Kurzzeit- oder Verhinderungspflege in Anspruch genommen wird.
Die Debatte im Plenum drehte sich im Wesentlichen um eine Reform des sogenannten Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Hintergrund: Der geltende Begriff zielt lediglich auf körperliche Gebrechen ab, geistige und psychische Beeinträchtigungen werden in den bestehenden drei Pflegestufen nicht berücksichtigt.
Seit Anfang 2009 liegen Vorschläge des von der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) eingesetzten Pflegebeirats zur Neudefinition vor. Alle Oppositionsfraktionen fordern eine sofortige Reform, die Koalitionsfraktionen wollen die für Sommer 2013 angekündigten Ergebnisse eines von Minister Bahr eingesetzten Expertenbeirats unter dem Vorsitz des Patientenbeauftragten der Bundesregierung, Wolfgang Zöller (CSU), zu konkreten Umsetzungsschritten abwarten.
Bahr sagte, die neuen und besseren Leistungen für Demenzkranke seien "ein Vorgriff" auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Johannes Singhammer (CDU/CSU) versicherte: "Wir schieben das nicht auf die lange Bank."
Der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Jens Spahn (CDU/CSU), betonte, eine Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs brauche Zeit. Dies sähen alle, die sich auskennen, genauso - im Übrigen auch die frühere Gesundheitsministerin Schmidt. Es gehörten "mehr als Überschriften" dazu, "wenn man vernünftige Politik machen will", sagte Spahn.
Die Oppositionsfraktionen warfen der Koalition hingegen vor, schon zu viel Zeit verstrichen gelassen zu haben. Die pflegepolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke, Kathrin Senger-Schäfer, sagte, das Konzept für eine "tatsächliche Neuausrichtung der Pflegeversicherung" liege seit drei Jahren vor. Die Koalition schaffe es aber "bis heute nicht, eine politische Entscheidung zu treffen".
Zur Ankündigung der Ergebnisse des Expertenbeirats in anderthalb Jahren ergänzte ihr Fraktionskollege Dr. Ilja Seifert: "Sie sagen klar an: Wir machen in dieser Legislaturperiode nichts mehr."
"Sie hätten den Pflegebedürftigkeitsbegriff reformieren müssen", sagte Lauterbach und fügte hinzu: "Sie machen es schlicht deshalb nicht, weil sie die Kosten scheuen." In ihren Anfangstagen habe die Koalition "drei Mal so viel für Hoteliers getan wie nach drei Jahren für Pflegebedürftige", kritisierte der SPD-Gesundheitsexperte.
Die pflegepolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Hilde Mattheis, betonte: "Menschen, die pflegebedürftig sind, haben ein Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe." Das müsse der Kerngedanke einer Pflegereform sein. Für Pflegekräfte verlangte Mattheis "eine ordentliche Bezahlung".
Die Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast, warf Bahr "Schönrednerei" vor. "Die wirkliche Qualitätsoffensive packen Sie nicht an", bemängelte Künast. Die neuen Leistungen seien zwar ein erster Schritt, aber nicht mehr als "ein Tropfen auf den heißen Stein". Die Grünen-Abgeordnete betonte: "So geht keine gute Pflege."
Auch in der Frage der künftigen Finanzierung lege die Koalition nichts Nachhaltiges auf den Tisch. Notwendig sei die Umstellung des Systems auf eine Bürgerversicherung. Diese Position werde auch von SPD und Linksfraktion geteilt. Die Koalition wolle dagegen die freiwillige private Pflegevorsorge fördern. Dies bedürfe jedoch einer eigenen gesetzlichen Regelung.
Der Bundestag lehnte einen Antrag der SPD-Fraktion (17/2480) gemäß der Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses zur Einführung eines neuen Pflegebegriffs (17/7082) im Anschluss an die Aussprache ab. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung wurde ebenso wie ein Antrag der Linksfraktion (17/9393) zur weiteren Beratung an die Ausschüsse überwiesen. Die Linke fordert darin unter anderem eine kurzfristige deutliche Aufstockung der Pflegeleistungen.
Zudem verlangen die Abgeordneten, eine sechswöchige bezahlte Pflegezeit für Erwerbstätige einzuführen, die der Organisation der Pflege und der ersten pflegerischen Versorgung von Angehörigen oder nahestehenden Personen dient. Für Personen, die die Pflege dauerhaft übernehmen, will Die Linke Teilzeitvereinbarungen und flexible Arbeitszeitregelungen ermöglichen. Für Pflegekräfte fordern die Abgeordneten einen Mindestlohn von zehn Euro. (mpi)