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Die Präsidentin des litauischen Parlaments (Seimas), Irena Degutienė, bedauert die Wende in der Entwicklung der Ukraine. In einem Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament" sagt Degutienė, dass die Opposition des Landes durch die Inhaftierung der früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko einen heftigen Schlag erlitten habe. Die Entwicklung im Fall Timoschenko sei "besorgniserregend". Im Übrigen betont die Parlamentspräsidentin, die den Deutschen Bundestag vom 24. bis 26. April besuchte, dass Litauen 2014 den Euro einführen will und vorerst auf die Nutzung von Kernkraft angewiesen bleibt. Das Interview im Wortlaut:
Frau Präsidentin, in vielen Ländern Europas mehrten sich in den vergangenen Monaten Stimmen, die für einen raschen Ausstieg aus dem Euro plädierten. Ihr Land möchte möglichst schnell Mitglied der Eurozone werden. Warum?
Wir haben diesen Wunsch immer gehabt, und dabei bleibt es auch. Um unsere Wirtschaft zu entwickeln, brauchen wir eine einheitliche Währung in Europa. Obwohl wir noch nicht in der Euro-Zone sind, haben wir uns mit unserer Währung de facto bereits an den Euro gebunden. Also: Wir streben danach, der Euro-Zone beizutreten.
Bleibt es auch beim Zeitplan? Wird Litauen den Euro 2014 einführen?
Ja, unser Ziel bleibt 2014. In der Krise haben wir strenge Sparmaßnahmen eingehalten. Im Vergleich zu anderen Ländern sind wir relativ stabil. Und: Litauen gehört zu den wenigen Ländern in Europa, deren Wirtschaft stark wächst.
Litauen hat seit seiner Unabhängigkeit sehr stark auf einen "schlanken Staat" gesetzt: niedrige Steuern, eine geringe Staatsquote, wenig Umverteilung, niedrige Löhne. Ist dieses Modell durch die Finanzkrise in Frage gestellt worden?
Es hat sich bewährt, um das Staatsdefizit in den Griff zu kriegen. Es gab zwei Möglichkeiten: entweder die Einnahmen vergrößern oder die Ausgaben verringern. Wenn es aber keine Möglichkeit gibt, die Einnahmen zu erhöhen, muss gespart werden. Und das haben wir gemacht. Deswegen wurden beispielsweise die Renten eingefroren. Mittlerweile haben wir die Renten aber wieder erhöhen können und auch der Mindestlohn wird ab Juli dieses Jahres wieder angehoben. Ich bin den Litauern wirklich sehr dankbar, dass sie das ohne große Proteste oder Streiks mitgemacht haben. Übrigens wurden die Diäten der Parlamentarier auch um 40 Prozent gekürzt.
Wie sollte Europa mit dem Regime Lukaschenko in Ihrem Nachbarland Weißrussland umgehen? Eher mit der Peitsche, also mit Sanktionen, oder mit dem Zuckerbrot der Perspektive einer EU-Mitgliedschaft?
Es gibt keine eindeutige Antwort. Bei strengen Sanktionen besteht die Gefahr, dass das Volk und nicht die Regierung darunter leidet. Das könnte dann dazu führen, dass Weißrussland sich noch stärker nach Osten orientiert. Die demokratischen Kräfte im Land werden dann keine Chance mehr haben, ihre Ziele zu erreichen. Trotzdem müssen Lukaschenko Grenzen aufgezeigt werden. Das ist eine Gratwanderung und eine sehr langwierige und komplizierte Arbeit. Litauen und ganz Europa ist gut beraten, diesen Prozess nicht mit Ungeduld zu gefährden.
Litauen plant gemeinsam mit Lettland und Estland den Bau eines Atomkraftwerkes. Wie hat Litauen den deutschen Ausstieg aus der Kernenergie wahrgenommen?
Die Situationen in Deutschland und in Litauen sind völlig unterschiedlich. Wir sind von Strom aus Russland abhängig. 60 Prozent unseres Bedarfs kaufen wir dort ein. Ähnlich ist es mit der Gasversorgung. Um also auf Dauer auf dem Energiesektor unabhängig zu werden, müssen wir unsere eigenen Kapazitäten ausbauen. Dazu gibt es keine Alternative. In Deutschland ist die Situation hingegen grundlegend anders. Dort kann nach Bedarf Energie aus anderen Ländern zugekauft werden. Wir haben allerdings auch vor, alternative, erneuerbare Energien zu nutzen. Vielleicht ist Litauen dann eines Tages bei der Energiegewinnung so unabhängig, dass wir auch über einen Atomausstieg nachdenken können. Das wird aber sicher noch einige Jahrzehnte dauern. Und bis dahin brauchen wir Kernenergie.
Russland ist nach wie vor Litauens größter Handelspartner, durch Ihr Land geht ein Großteil des Transitverkehrs in die russische Exklave Kaliningrad. Wie sind die aktuellen Beziehungen zu Moskau?
Unsere wirtschaftlichen Beziehungen sind geregelt, wir haben viele Kontakte zu Russland und wollen, dass unsere Unternehmen dort erfolgreich Geschäfte machen.
Besonders auch mit Blick auf die Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine wird über die Inhaftierung der Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko diskutiert. Wie sehen Sie die Entwicklung in der Ukraine?
Es ist schade, dass die Entwicklung in der Ukraine so eine Wende genommen hat. Durch die Inhaftierung von Frau Timoschenko hat die Opposition des Landes einen heftigen Schlag erlitten. Litauen versucht, über Gespräche, auch auf präsidialer Ebene, die demokratische Entwicklung des Landes voranzutreiben. Außerdem gibt es eine parlamentarische Versammlung mit Vertretern aus Litauen, Polen und der Ukraine. Die Entwicklung im Fall Timoschenko ist sehr besorgniserregend. Die Ukraine hat sich damit selbst ein großes Problem geschaffen. Wir dürfen das Land aber nicht isolieren und nach Osten drängen. Wir stehen übrigens auch in Kontakt mit der Opposition in der Ukraine und werden den Fall Timoschenko nicht ruhen lassen. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.
(ahe/jbi)