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"Wir haben in alle Richtungen ermittelt", in Bayern sei der "größtmögliche Aufwand" zur Aufklärung der inzwischen dem "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) zugerechneten Erschießungen von neun türkisch- und griechischstämmigen Kleinunternehmern betrieben worden, von denen in Bayern allein fünf getötet wurden: Mit diesen Worten verteidigte Dr. Günther Beckstein, zum Zeitpunkt der Mordserie zwischen 2000 und 2006 Innenminister in München, am Donnerstag, 24. Mai 2012, im Untersuchungsausschuss vor Beginn seiner Befragung in einer über einstündigen Rede die vielfach kritisierte Tätigkeit der Sicherheitsbehörden.
Die mit den Ermittlungen beauftragte Sonderkommission (Soko) Bosporus der Polizei und das Landesamt für Verfassungsschutz hätten "keine substanziellen Fehler" gemacht, sagte der CSU-Politiker vor den elf Abgeordneten, die Pannen und Fehlgriffe bei den Recherchen der Behörden zu den Tötungsdelikten durchleuchten sollen, zu denen 2007 noch die Erschießung einer Polizistin in Heilbronn kam.
"Es schmerzt mich", so der Zeuge, dass es trotz des "unglaublichen Eifers" der Beamten nicht gelungen sei, "die Mörderbande dingfest zu machen". Es sei die "Tragik dieses Falles", dass trotz intensiver Arbeit kein Erfolg erzielt worden sei.
Beckstein, der einen großen Teil seiner Rede mit der Aufzählung seiner Aktivitäten gegen den Rechtsextremismus bestritt, wehrte sich gegen den "infamen" Vorwurf, in Bayern sei man "auf dem rechten Auge blind". Er selbst habe mehrfach darauf gedrungen, neben der im Vordergrund stehenden Tätersuche im kriminellen Milieu auch einen rechtsextremen Hintergrund der Mordserie zu prüfen.
Auf das NSU-Trio hätten in Bayern jedoch keine fundierten Hinweise existiert. Auch Bekennerschreiben hätten nicht vorgelegen. Generell hätten bei diesen Erschießungen außer den Opfern und Erkenntnissen über die Tatwaffe handfesten Spuren gefehlt. Die von einem Profiler entwickelte und ins rechtsextreme Spektrum weisende Einzeltätertheorie sei ebenfalls "nicht mit Beweisen belegt" gewesen.
Beckstein trat der im Ausschuss aufgrund bisheriger Zeugenvernehmungen und von Aktenzitaten mehrfach geäußerten Kritik entgegen, er habe verhindern wollen, dass die Soko Bosporus in ihrer Öffentlichkeitsarbeit darauf hinwies, es werde neben Spuren im kriminellen Milieu auch die Hypothese der Einzeltätertheorie verfolgt.
Er habe nicht gefordert, dies zu unterlassen, sondern nur gemahnt, angesichts der wegen der Mordserie tief verunsicherten türkischen Bevölkerung "sensibel" vorzugehen, um Ängste nicht weiter zu schüren. Der Zeuge bezeichnete den Vorwurf als "falsch", wegen der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 habe man nur eine zurückhaltende Medienstrategie verfolgt: "Wir haben keine Rücksicht auf die WM genommen."
Zu der Kritik, er habe 2006 zentrale Ermittlungen des Bundeskriminalamtes (BKA) zu der Mordserie verhindert, sagte Beckstein, ein solcher Schritt wäre zum damaligen Zeitpunkt ein "schwerer Fehler" gewesen: Seinerzeit seien bei der Soko Bosporus die Ermittlungen "heiß gelaufen", und "im Galopp wechselt man nicht die Pferde". Dies sei einhellige Meinung in der Innenministerkonferenz gewesen.
Man haben zunächst prüfen wollen, welchen "Mehrwert" die Übernahme der Ermittlungen durch das BKA gebracht hätte. Aus "heutiger Kenntnis", so der Zeuge, hätte das BKA der ins rechtsextreme Spektrum führenden Einzeltätertheorie weniger Gewicht beigemessen als die Soko Bosporus.
Beckstein räumte ein, dass manches hätte "besser laufen können", was etwa für die Kooperation zwischen der Soko und dem Verfassungsschutz gelte. Ein Fehler sei es auch gewesen, öffentlich nach zwei Radfahrern als Verdächtigen zu fahnden und gleichzeitig von der Hypothese eines einzelnen Täters zu sprechen. Aber selbst wenn bei den Ermittlungen alles optimal gehandhabt worden wäre, so hätte dies zum damaligen Zeitpunkt "nach menschlichem Ermessen" nicht zu den Tätern geführt.
Als Konsequenz aus den Erfahrungen mit der Mordserie forderte der CSU-Politiker die Einführung der Vorratsdatenspeicherung, "das sage ich auch in Richtung FDP". Zudem müssten Daten länger gespeichert werden. Erforderlich sei eine Erleichterung des Datenaustauschs zwischen den Behörden. Überdies solle man es mit dem Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdienst "nicht übertreiben".
"Das ist kein berechtigter Vorwurf": Mit diesen Worten hatte zuvor Edgar Hegler, Leiter der Abteilung Rechtsextremismus beim bayerischen Verfassungsschutz, Kritik zurückgewiesen, seine Behörde habe gegenüber der mit den Ermittlungen zu der Mordserie an türkisch- und griechischstämmigen Kleinunternehmern beauftragten Sonderkommission (Soko) Bosporus der Polizei die Weitergabe von Daten zu möglichen Spuren in die rechtsextreme Szene blockiert.
Hegler begründete die erst nach über einem halben Jahr erfolgte Zusendung von fast 700 Personendaten zu Rechtsextremisten im Raum Nürnberg mit dem Hinweis, die Soko Bosporus habe erst nach mehreren Monaten ein Ermittlungsersuchen gestellt, das den rechtlichen Standards solcher Begehren entsprochen habe.
Ein Profiler hatte jedoch auch eine im Nachhinein weithin auf die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zutreffende Hypothese von eventuell infrage kommenden Tätern aus der rechtsextremen Szene entworfen, diese jedoch im Raum Nürnberg verortet, wo allein drei Morde passiert waren. Die NSU-Zelle war hingegen in Sachsen und Thüringen beheimatet.
Bei Heglers Anhörung kritisierten der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) und andere Abgeordnete mehrfach das Hin und Her zwischen dem Verfassungsschutz und der Soko Bosporus. Deren Ex-Chef Dr. Wolfgang Geier hatte bei seiner Vernehmung durch die elf Abgeordneten dem Geheimdienst die Schuld für die verzögerte Übermittlung der Daten zu Rechtsextremisten zugewiesen.
Hegler betonte indes, der ersten unpräzisen Anfrage der Soko habe man aus rechtlichen Gründen und aus Erwägungen des Datenschutzes nicht entsprechen können. Beispielsweise sei nicht erkennbar gewesen, zu welchem Zweck die Soko Bosporus die Daten eigentlich habe nutzen wollen, etwa zu einer Rasterfahndung.
Wäre man diesem Ersuchen nachgekommen, hätte man sämtliche 3.500 umfangreichen Datensätze zu bayerischen Rechtsextremisten weiterleiten müssen. Dies sei aber mit dem Trennungsgebot zwischen Polizei und Verfassungsschutz nicht zu vereinbaren, so der Zeuge. Wenn alle Zugriff auf alle Daten hätten, stelle sich die Frage, "ob man noch zwei Behörden braucht". Nach dem Vorliegen einer präzisen und rechtlich korrekten Anfrage seien die fast 700 Personendaten aus dem Raum Nürnberg zügig an die Soko übermittelt worden.
Edathy konfrontierte Hegler mit der Aussage Geiers, wonach die Soko davon ausgegangen sei, der bayerische Verfassungsschutz forsche auch in anderen Bundesländern nach Personen, die der ins rechtsextreme Milieu weisenden Profiler-Theorie entsprechen könnten. Der Zeuge entgegnete, dies habe sich aus dem Ersuchen der Soko nicht ergeben, dieses habe sich "im Gegenteil nur auf den Raum Nürnberg bezogen". Die Polizei habe die Ermittlungen geleitet, weshalb man nur auf deren Antrag hin aktiv geworden sei: So kommentierte Hegler mehrfache Fragen aus den Reihen des Ausschusses, wieso der Verfassungsschutz bei neun Tötungsdelikten nicht von sich aus aktiver geworden sei.
Der Zeuge unterstrich im Übrigen, schon nach dem zweiten Mord habe seine Behörde von sich aus recherchiert, ob es möglicherweise einen rechtsextremen Hintergrund geben könne. Befragungen von "Quellen" in der bayerischen Szene hätten jedoch "keine Erkenntnisse" gebracht. (kos)