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Martin Schulz trägt sich in das Gästebuch des Bundestages ein; links Bundestagspräsident Norbert Lammert. © DBT/Melde
Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), bemängelt, dass beim Europäischen Fiskalpakt die Rolle des Europäischen Parlaments nicht genau geregelt ist. Es gehe nicht, dass die Europäische Zentralbank und Nicht-Euro-Staaten bei den Verhandlungen vertreten seien, die direkt gewählte Volksvertretung von diesen Beratungen aber ausgeschlossen werde, sagt Schulz im Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament". Schulz hielt sich am Dienstag, 8. Mai 2012, zu einem offiziellen Besuch im Deutschen Bundestag auf. Das Interview im Wortlaut:
Herr Schulz, bei den Wahlen in Griechenland und Frankreich wurden die nationalen Regierungen auch für ihre Europapolitik abgestraft. Ist der Kompromiss zum Fiskalpakt Makulatur geworden?
Das glaube ich nicht. Der Fiskalpakt ist von 25 Regierungen unterschrieben worden. Er hat Bestand, aber ich bin sicher, dass er um einen Wachstums- und Beschäftigungspakt ergänzt werden muss. Wir haben bislang viel zu wenig diskutiert, dass Haushaltsdisziplin kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Zweck ist. Haushaltsdisziplin ist auch eine Frage der Generationengerechtigkeit. Haushalte lassen sich aber auf Dauer nur nachhaltig sanieren, wenn es Wirtschaftswachstum und geringe Arbeitslosigkeit gibt. Deshalb brauchen wir nun ergänzende, stimulierende Maßnahmen für Wachstum und Beschäftigung in Europa.
Wird der Schuldenberg mit solchen Wachstumsprogrammen für kommende Generationen nicht noch größer?
Ganz im Gegenteil. Wir reden immer nur über Kürzungen. Warum reden wir nicht darüber, wie man die Einnahmen verbessern kann? Wir brauchen zum Beispiel eine Finanztransaktionssteuer, so wie sie auch eine breite Mehrheit im Europaparlament fordert. Wenn Sie in Berlin ein Pfund Äpfel kaufen, bezahlen Sie Mehrwertsteuer. Wenn Sie an der Börse ein Aktienpaket kaufen, zahlen Sie keine Mehrwertsteuer. Das ist nicht gerecht.
Wie könnte man das Wachstum ohne drastische Neuverschuldungen ankurbeln?
Wie gesagt: Schon eine geringe Besteuerung von Finanzspekulationen bringt etliche Milliarden für den Haushalt. Und oft sind wir nicht fantasievoll genug. So gibt es beispielsweise bei den EU-Strukturfonds nicht genutzte Mittel in Höhe von 15 bis 20 Milliarden Euro. Die könnten als Anschubfinanzierung benutzt werden, um private Investitionen zu stimulieren, etwa bei den erneuerbaren Energien oder im Bereich von Forschung und Entwicklung.
Was passiert, wenn große Volkswirtschaften wie Spanien ins Straucheln kommen und die Mittel des geplanten Rettungsschirms ESM nicht mehr ausreichen?
Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Der Stabilitätsmechanismus ESM ist zunächst einmal ein Signal an diejenigen, die auf das Auseinanderbrechen der Eurozone wetten. Wir sagen denen: Lasst das sein, wir sind stark genug, ihr kriegt uns nicht auseinander. Griechenland ist ein Testfall. Wenn es einmal gelingt, ein Land aus der Eurozone herauszubrechen, werden als nächstes andere Staaten an die Reihe kommen.
Sollte der ESM eine Banklizenz erhalten?
Auf längere Sicht wird der ESM sicherlich eine Banklizenz bekommen, um sich bei der EZB selbst Geld leihen zu können. Heute ist es so: Die Europäische Zentralbank verleiht Geld der europäischen Steuerbürger für ein Prozent an Banken. Die Staaten müssen es sich bei diesen Banken aber für fünf Prozent leihen. Dann ist es doch besser, der ESM vergibt direkt Kredite an die Staaten, die in der Krise stecken.
In Griechenland haben bei der Wahl am 6. Mai extremistische Parteien enormen Zulauf bekommen. Bedroht die Finanzkrise auch unsere Demokratien?
In Griechenland hat die Demokratie gesprochen. Sie hat Parteien ins Parlament geschickt, die Ausdruck der Volkssouveränität sind. Die mögen uns gefallen oder nicht. Die andere Frage ist, ob die Gewählten sich darüber im Klaren sind, welche Verantwortung sie mit dieser Wahl erworben haben. Man muss den Griechen deutlich sagen, dass nicht neu verhandelt werden kann. Denn Europa steht zu seinen Zusagen, aber das müssen die Griechen eben auch tun. Mit einem Wachstums- und Beschäftigungspakt können wir Athen neue Perspektiven und neue Hoffnung geben.
Aber ist es nicht vielsagend, dass das Europäische Parlament gerade bei den Verhandlungen zum Fiskalpakt außen vor bleiben musste?
Noch nie hat ein Parlament von einer Exekutive Rechte geschenkt bekommen. Man muss sich die Rechte erstreiten. Beim Fiskalpakt ist nicht genau geregelt, wie die Rolle des Europäischen Parlaments aussieht. Es geht aber nicht, dass etwa die Europäische Zentralbank und die Nicht-Euro-Staaten bei den Verhandlungen vertreten sind, aber die direkt gewählte Volksvertretung von diesen Beratungen ausgeschlossen wird. Das ist für mich ein Beispiel für Entparlamentarisierung. Es gab in 1960er Jahren die "Politik des leeren Stuhls" des französischen Staatspräsidenten de Gaulle – und ich habe gesagt, ich mache jetzt eben als Präsident des Europäischen Parlaments eine "Politik des besetzten Stuhls", wenn es die Beratungen zum Fiskalpakt gibt.
Aber in der politischen Praxis verliert das Europäische Parlament doch immer mehr an Einfluss?
Wir erleben durch die Selbstermächtigung des Europäischen Rates eine dramatische Entparlamentarisierung in Europa. Beim Europäischen Semester, also der Abstimmung nationaler Haushaltspläne, wird es so sein, dass die Entwürfe der Finanzministerien nicht etwa an die Haushaltsausschüsse der Parlamente, sondern zunächst an die Kommission nach Brüssel gehen. Dort bewerten Beamte den Haushaltsentwurf nach Kriterien, die nicht das Europäische Parlament beschlossen hat, sondern die die Beamten selbst definiert haben. Deshalb fordere ich die Kolleginnen und Kollegen der nationalen Parlamente auf, mit uns gemeinsam einen parlamentarischen Rahmen um dieses exekutive Handeln zu bauen.
Sie haben einen Aufruf unterzeichnet, der ein freiwilliges Jahr für alle jungen Europäer vorschlägt. Wie soll das konkret aussehen, was erhoffen Sie sich davon?
Für diejenigen, die Krieg, Zerstörung und Vertreibung erlebt haben, ist Europa ein Geschenk. Für meine Kinder und deren Kinder verblasst das. Für sie ist Europa eine Selbstverständlichkeit – wie Strom aus der Steckdose. Darin liegt eine enorme Gefahr. Wir haben die Dämonen des 20. Jahrhunderts durch die europäische Integration gezähmt, aber wir haben sie nicht erlegt. Den Wert der Europäischen Union erfahrbar zu machen und junge Menschen zugleich zu ermutigen, diese Werte zu verteidigen, das ist eine der zentralen Ideen hinter dem Aufruf.
Stichwort europäische Werte. Im Fall Timoschenko stellt sich die Frage: Warum gelingt es eigentlich nicht, Länder wie die Ukraine stärker in das europäische Boot zu holen?
Es ist nicht so einfach, diese postsowjetischen Gesellschaften eins zu eins mit unseren Gesellschaften zu vergleichen. Es sind junge Demokratien, die erst seit 1989/1990 souverän geworden sind. Staaten, die davor sieben Jahrzehnte lang nichts anderes als Diktatur oder deutsche Besatzung kannten. Ich glaube, wir sind gut beraten, unabhängig vom Fall Timoschenko, unabhängig von der Fußball-Europameisterschaft, alle Versuche zu unternehmen, die Ukraine an die EU zu binden und sie nicht loszulassen. Aber es ändert nichts daran, dass man der ukrainischen Führung sagen muss, ein Rechtsstaat, der für sich reklamiert, ein solcher zu sein, hat auch als solcher zu handeln — und genau das tut ihr nicht.
Früher haben Sie von den Vereinigten Staaten von Europa geträumt. Wovon träumen Sie heute?
Als junger Mann habe ich von den Vereinigten Staaten von Europa geträumt. Heute weiß ich, dass das nicht realistisch ist. Der Nationalstaat ist eine europäische Erfindung und bietet eine Identität, die die EU eben nicht bieten kann. Europas kulturelle Vielfalt ist ein Reichtum, den wir bewahren sollten. Ich träume heute daher davon, dass wir die Menschen davon überzeugen, dass die Einzelstaaten die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts — Handel, Währung, Umwelt, Migration — nicht mehr alleine lösen können. Dafür brauchen wir eine politische Union.
(ahe/as)