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Sehr geehrter Herr Präsident Franzen,
Frau Landtagspräsidentin,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten,
den Regierungen und Verwaltungen des Bundes,
des Landes, der Stadt und des Kreises,
meine Damen und Herren,
es gibt verschiedene Möglichkeiten, Jubiläen durch Festreden zu ruinieren. Eine eher seltene Variante besteht darin, den Anlass freundlich, aber kurz und bündig zu würdigen und nach einer Gratulation über die erfolgreiche Bewältigung der gefeierten Vergangenheit in einer ebenso allgemeinen Weise gute Wünsche für die Zukunft auszudrücken. Dieses Verfahren hat den Vorteil, dass man die Geduld der Zuhörer sicher nicht überfordert, führt aber unfehlbar zu dem Verdacht, dass man sich ohne erkennbares Engagement oder gar Sympathie einer offensichtlich lästigen Verpflichtung zügig entledigen will. Deshalb ist die zweite Variante viel häufiger. Sie ist durch den Ehrgeiz geprägt, diesen Verdacht gründlich auszuräumen und mit enzyklopädischer Gründlichkeit die Geschichte des jeweiligen Unternehmens, des Verbandes, der Organisation der Reihe nach aufzublättern und die Unternehmens- oder Verbandsgeschichte, wie es sich gehört, in den Kontext der Wirtschaftsgeschichte, der Technikgeschichte, der Wissenschaftsgeschichte, der Kulturgeschichte, überhaupt der Weltgeschichte zu stellen, um die erst aus diesen Zusammenhängen begreifliche, berechtigte Gratulation für die stolze Vergangenheit dann nicht etwa mit lapidaren Glückwünschen für die Zukunft zu verbinden, sondern mit einem mutigen Blick in die nächsten 50, 100 oder 150 Jahre, einschließlich vermeintlich gesicherter Prognosen, welche der stolzen Errungenschaften sich in diesen nächsten Jahren wohl erhalten ließen, auf welche man wohl werde verzichten müssen und auf welche neue man vielleicht hoffen dürfe.
Sie sehen, meine Damen und Herren, ich habe eine ziemlich nüchterne Einschätzung der Hoffnungslosigkeit meiner Lage, weil ich den einen wie den anderen Erwartungen nur begrenzt werde entsprechen können. Nach einiger Überlegung habe ich auch die zeitweilige Absicht aufgegeben, zum Nachweis der Gründlichkeit meiner Vorbereitung Ihnen zunächst die Langversion anzubieten und anschließend sofort, gewissermaßen als Wiedergutmachung, die Kurzfassung hinterher zu liefern. Ich habe mir vorgenommen, das Jubiläum scheinbar auf sich beruhen zu lassen und Ihnen einige Überlegungen vorzutragen über "Rheinischen Kapitalismus in Zeiten der Globalisierung", verbunden mit dem festen Vorsatz, das etwa in dem Zeitrahmen hinzubekommen, den die Veranstalter für die Planung des weiteren Abends zugrunde gelegt haben.
Seit der Gründung dieser Kammer 1831 haben sich die Stadt, die Region, das Land, die Wirtschaft viel gründlicher verändert als irgendjemand sich das damals auch nur hat vorstellen können. Düsseldorf hatte damals, wie ich nachgeprüft habe, etwa 30.000 Einwohner. Deutschland gab es gar nicht, allenfalls als Sammelbezeichnung für etwa drei Dutzend mehr oder weniger souveräne Territorialstaaten. Der deutsche Nationalstaat wurde 40 Jahre später gegründet als die Düsseldorfer Handelskammer. Den Sozialstaat gab es nicht einmal als Begriff. "Industrie- und Handelskammer" konnte die neue Institution auch deswegen schwerlich heißen, weil man sich gerade in der Frühphase des Industriezeitalters befand und der Anteil der im industriellen Bereich beschäftigten Erwerbstätigen gerade einmal gut 20 Prozent betrug - übrigens ähnlich viel wie heute?, während der Anteil der in der Landwirtschaft beschäftigten Erwerbstätigen bei knapp 60 Prozent lag. Die Lebenserwartung der Menschen betrug unter Berücksichtigung einer hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit Anfang der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts bei Männern etwa 34 Jahre, bei Frauen 37. Heute ist nicht nur die Lebenserwartung der Menschen um mehr als das Doppelte höher. Nach den jüngsten Sterbetabellen der Versicherungsunternehmen, die solche Daten als Grundlage ihrer Beitragskalkulation sehr sorgfältig zu ermitteln pflegen, hat ein heute gesund geborenes Mädchen eine Lebenserwartung von 102 Jahren. Die Jungen werden auch in Zukunft bescheidener bleiben müssen, dürfen aber immerhin auch auf 98 Jahre hoffen. Was das nicht nur für die privaten Lebensversicherer, sondern für die Verfassung unserer Gesellschaft im Ganzen und keineswegs nur für die Verfassung unseres Sozialstaates bedeutet, wenn die Zeit der Nichterwerbsjahre einer typischen Biografie deutlich höher sein wird als die Zeit der Erwerbsjahre, das beginnen wir gerade erst zur Kenntnis zu nehmen. Dass wir dafür überzeugende Lösungen bereits gefunden hätten, davon kann ernsthaft keine Rede sein. Tatsächlich gilt für die Kammer wie für die Geschichte eines Landes, dass es Kontinuität und Wandel gibt. Aber wenn man die Herausforderungen, die damals gelöst werden mussten, mit denen vergleicht, die wir heute zu bewältigen haben, dann sind die Unterschiede mindestens so auffällig wie die Gemeinsamkeiten.
Wir leben in einer gründlich veränderten Welt. Der halb kritisch, ein bisschen spöttisch, manchmal auch liebevoll gemeinte Begriff "Rheinischer Kapitalismus" war damals noch nicht in der Welt. Und über Globalisierung gab es noch nicht die Regalmeter von Publikationen, auf die heute jede ordentliche Bibliothek verweisen kann. Ich will freimütig einräumen, dass mich für dieses Thema kein anderer einzelner Beitrag so sehr sensibilisiert, auch elektrisiert hat, wie ein Aufsatz, den Ende der 90er Jahre Ralf Dahrendorf zur Globalisierungsperspektive moderner Gesellschaften verfasst hat. Er ist ganz sicher einer der ausgewiesenen, international renommierten Analytiker langfristiger gesellschaftlicher Entwicklungen. Er hat damals seine Beschreibung der Internationalisierung der Wirtschaft mit der ausdrücklichen Befürchtung verbunden, wir befänden uns möglicherweise an der Schwelle zu einem autoritären Jahrhundert. Und gemeint war selbstverständlich das 21., in dem wir uns inzwischen längst befinden. Ich würde Ihre Aufmerksamkeit gerne auf zwei thesenartig zugespitzte Beobachtungen lenken, die er in seinem damaligen Beitrag ausgebreitet hat. Dahrendorf schrieb damals, die unvermeidliche Globalisierung der Weltwirtschaft befördere eine massive Gegentendenz in der entschiedenen Wendung hin zu kleineren Räumen als den Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts. Und es gebe einen neuen Regionalismus, einen neuen Lokalismus, eine neue Suche nach Gemeinschaft in allen möglichen Formen. Dahrendorf befürchtet, dass beide Tendenzen zugleich stärker werden und außer Kontrolle geraten könnten. Und was bei dieser Doppelentwicklung auf der Strecke bleibe, sei der Nationalstaat als Gehäuse für Rechtsstaat und Demokratie. Um kein Missverständnis entstehen zu lassen: Er macht sich nicht Sorgen um den Nationalstaat gewissermaßen als historische Ikone, sondern er macht sich Sorgen um den Nationalstaat als das, wie er meint, bisher einzig verlässliche Gefäß für Demokratie und Partizipation an der Herstellung von Gemeinwohl. "Globalisierung", so schreibt Dahrendorf, "Globalisierung entzieht dem einzigen Domizil der repräsentativen Demokratie, das bisher weltgeschichtlich funktioniert hat, nämlich dem Nationalstaat, die ökonomische Grundlage." Das ist jedenfalls nicht so banal, als dass man es gleich als offenkundig übertrieben oder unbegründet zurückweisen könnte. Und es gibt eine zweite These, die, wie ich finde, einer aufmerksamen Beschäftigung bedarf. Dahrendorf weist darauf hin, dass sich die Volkswirtschaften der Welt, schon gar die so genannten entwickelten Volkswirtschaften, in ihrer Suche nach funktionstüchtigen und zugleich attraktiven Rahmenbedingungen für eine politische und ökonomische Entwicklung, die Wirtschaftswachstum, soziale Sicherheit und demokratische Mitwirkung gleichzeitig ermöglichen soll, längst in einer "Konkurrenz alternativer Kapitalismusmodelle" befänden. Dahrendorf beschreibt den, wie er sagt, asiatischen Kapitalismus, den angelsächsischen Kapitalismus und, wie es sich gehört, den rheinischen Kapitalismus idealtypisch wie folgt: Er sagt, es gibt da ein Modell des Kapitalismus, das sich vor allen Dingen in Asien entwickelt hat, das sich auszeichnet durch hohes Wachstum, ein beachtliches Maß an sozialer Konsistenz und ein sehr geringes Maß an demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten. Und dann gibt es ein angelsächsisches Modell des Kapitalismus. Das zeichnet sich aus durch ein hohes Maß an Demokratie, ein jedenfalls beachtliches Maß an stetigem Wirtschaftswachstum, bei gleichzeitig weitgehendem Verzicht auf jedenfalls rechtlich organisierte soziale Verfassung der Gesellschaft. Und drittens, sagt er, gibt es eben den rheinischen Kapitalismus. Und rheinischer Kapitalismus bedeutet ein hohes Maß an einklagbaren sozialstaatlichen Ansprüchen, ein beachtliches Maß an demokratischer Partizipation bei gleichzeitigem Verzicht auf Wirtschaftswachstum.
Ich habe Ihnen dies jetzt vielleicht ein bisschen zugespitzt wiedergegeben, will deswegen der guten Ordnung halber seine Vermutung im Zusammenhang mit dieser Konkurrenz von Kapitalismusmodellen noch mit einem Zitat unmissverständlich verdeutlichen. Dahrendorf schreibt: "Wenn die Volkswirtschaften denn schon eine Wahl treffen müssen, dann haben sie lieber Wirtschaftswachstum und sozialen Zusammenhalt mit weniger Demokratie, wie in Asien, als Wirtschaftswachstum und Demokratie ohne Solidarität, wie in der angelsächsischen Welt, oder Solidarität und Demokratie ohne Wirtschaftswachstum, wie im rheinischen Modell." Und im Unterschied zu der spontanen Fröhlichkeit, die die Wiedergabe dieser Überlegung hier im Publikum ausgelöst hat, beobachtet Dahrendorf diese Entwicklung mit der ausdrücklichen Besorgnis, wir könnten uns an der Schwelle zu einem autoritären Jahrhundert befinden, weil die hier wiedergegebene vermutete Präferenz eine Prämie auf autoritäre Vorgaben, statt auf ein breites Maß an demokratischer Mitwirkung und Legitimation zur Folge haben könnte.
Nun beschreibt Dahrendorf mögliche und natürlich keineswegs sichere Entwicklungen. Und dass diese Entwicklungen nicht nur nicht sicher, sondern ganz sicher so auch nicht erwünscht sind, bedarf, glaube ich, keiner umfänglichen Beweisführung. Anknüpfend an diese Überlegungen Dahrendorfs möchte ich gerne einige knappe Bemerkungen zur Globalisierung und zu den Zukunftsperspektiven des rheinischen Kapitalismus vortragen.
1. Ich glaube nicht, dass wir uns um den Nationalstaat ernsthafte Sorgen machen müssen. Das Identifikationsbedürfnis der Menschen, gerade in Zeiten der Globalisierung, ist in Deutschland aus bekannten historischen Gründen nicht ganz so auffällig, aber bei genauem Hinsehen ebenso vital ausgeprägt, wie in fast allen unseren Nachbarländern, auch in den allermeisten Ländern der Welt. Und deswegen erscheint mir, gerade auch unter den historischen Bedingungen des europäischen Integrationsprozesses, der Abgesang auf den Nationalstaat mindestens verfrüht. Richtig ist allerdings,
2. dass die Nationalstaaten im Interesse ihrer Leistungs- und Gestaltungsfähigkeit Aufgaben abgeben müssen, und zwar sowohl nach oben wie nach unten. Zum einen an die Europäische Gemeinschaft, zum anderen an die Regionen, keineswegs nur und vielleicht sogar am wenigsten an die Nationalstaaten. Europäisierung und Regionalisierung entwickeln sich wie siamesische Zwillinge, die nur um den Preis des Überlebens voneinander getrennt werden können. Ich meine das übrigens so, wie ich es sage: Ich glaube nicht, dass wir die Europäisierung ohne Regionalisierung haben können, so wie allerdings eine Regionalisierung ohne Europäisierung ganz sicher keine Zukunftsperspektive hat.
3. Der Standortwettbewerb der Regionen innerhalb Europas und darüber hinaus belegt, dass weniger der Nationalstaat abgedankt hat als vielmehr die Nationalökonomie. Volkswirtschaften gibt es nicht mehr, oder, etwas weniger salopp formuliert, Volkswirtschaften gibt es eigentlich nur noch als Rechengrößen, aber nicht als tatsächlich relevante Handlungsrahmen konkreter wirtschaftlicher Entwicklung. Der Spielraum eines Unternehmens hat längst die Kammergrenzen gesprengt. Er hat auch nicht unbedingt etwas mit den Landesgrenzen zu tun. Der Spielraum eines Unternehmens definiert sich durch die Märkte. Und zwar nicht nur durch diejenigen, die man heute bedient, sondern auch durch diejenigen, die man morgen bedient und übermorgen bedienen muss. Und deswegen werden wir sicher volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen weiter Jahr für Jahr zur Kenntnis nehmen. Aber wir müssen sorgfältig die Illusion vermeiden, das habe etwas zu tun mit den Spielfeldern wirtschaftlicher Akteure. Es sind mathematische Summierungen, aber nicht Beschreibungen der Aktivitäten, die sich in ganz anderen Kontexten längst vollziehen.
4. Der Europäische Binnenmarkt ist unter den Bedingungen der Globalisierung Voraussetzung für die Selbstbehauptung der dazugehörigen Volkswirtschaften. Er erfordert natürlich eine gemeinsame Währung und eine Konvergenz der Wirtschaftspolitik mindestens insoweit, als nur auf diesem Wege deren Stabilität gesichert werden kann. Eine solche Wirtschafts- und Währungsunion wird, wie wir nun seit Jahren in der Regel eher schmerzhaft erfahren, den Binnenmarkt vollenden, die Arbeitsteilung vertiefen, den Wettbewerb verschärfen und als gewollte oder ungewollte Nebenwirkung auch den politischen Integrationsprozess Europas vorantreiben. Und machen wir uns nichts vor: Keine dieser Wirkungen ist populär, keine. Die gemeinsame Währung nicht, der Binnenmarkt nicht, die Verschärfung des Wettbewerbs schon gar nicht. Und was die sich daraus ergebenden Veränderungen in der Ansiedlung von Arbeitsplätzen angeht, dazu erspare ich mir jede Äußerung, um die Gemütlichkeit der Veranstaltung nicht unnötig zu gefährden.
5. Das künftige Verhältnis von Wettbewerb und Harmonisierung beziehungsweise Standardisierung in Europa wird zum Testfall intelligenter europäischer Wirtschaftspolitik. Nicht Standardisierung, sondern Differenzierung bei Gütern und Dienstleistungen ist das Erfolgsrezept von Wettbewerbsfähigkeit.
6. Die wichtigsten einzelnen Treibsätze der Globalisierung sind Information und Mobilität. Wir leben in einer Welt, und das hätte sich 1831 bei der Gründung dieser Kammer kein Mensch vorstellen können, in der eine Information, die überhaupt verfügbar ist, prinzipiell an jedem Platz der Welt gleichzeitig verfügbar ist. Und wir leben heute in einer Welt, in der nahezu jeder Platz auf der Welt, schon gar, soweit er ökonomisch relevant ist, spätestens innerhalb eines Tages erreicht werden kann. Nur unter diesen beiden Voraussetzungen, weltweite Verfügbarkeit von Informationen zur gleichen Zeit und außergewöhnlich kurzfristige Erreichbarkeit jedes beliebigen Platzes, ist Globalisierung möglich. Unter diesen Bedingungen ist sie gleichzeitig allerdings auch unvermeidlich. Sich vorzustellen, schöner wäre es ohne sie, ist bestenfalls gut gemeint, aber ganz sicher nicht wirklichkeitsnah. Globalisierung ist dadurch, dass sie möglich geworden ist, zugleich unvermeidlich geworden.
7. Die Bedeutung der Industrie für Wachstums- und Beschäftigungsperspektiven moderner Volkswirtschaften wird heutzutage, nach meinem Eindruck, eher unterschätzt. Jedenfalls sinkt die Bedeutung der Industrie für die Entwicklungsperspektiven einer Volkswirtschaft keineswegs im Maßstab ihrer weiter zurückgehenden statistischen Bedeutung. Gerade die wachstumsintensiven, produktionsorientierten Dienstleistungen können nicht ohne die Produkte wachsen, für die sie Planung, Entwicklung, Forschung, Finanzierung, Wartung, Versicherung und Werbung organisieren. Und deswegen gibt es aus vielen Gründen, nicht nur für die Wirtschaftspolitik, aber auch für sie, die Notwendigkeit, über die tatsächliche Hebelwirkung der Relevanz von Sektoren unserer Volkswirtschaft - unabhängig von den statistischen Größenordnungen - neu nachzudenken.
8. Industriepolitik ist, wie die meisten von Ihnen wissen, als wirtschaftspolitisches Konzept ebenso umstritten wie ihre weltweite Anwendung tatsächlich populär ist. Es geht längst nicht mehr darum, ob sie stattfindet, sondern wie. Für Europa stellt sich, wie für jede andere Wirtschaftsregion der Welt, die Frage, wie sie die Entwicklung und Aufrechterhaltung strategischer Technologien und Wirtschaftssektoren gewährleisten kann. Ich verstehe ein bisschen etwas von der Luft- und Raumfahrt, nicht im technischen Sinne, aber was die wirtschaftlichen, die technologischen und die politischen Implikationen dieser Branche angeht, weil ich das ein paar Jahre lang als Koordinator der Bundesregierung betreuen durfte. Und da genügt schon eine oberflächliche Beschäftigung mit dem Thema, um zu dem unvermeidlichen Ergebnis zu kommen, dass eine solche Branche entweder mit politischer Flankierung existiert und sich entwickelt, oder ohne politische Flankierung hierzulande nicht möglich ist. Und die Frage, ob sie stattfindet oder nicht, ist nicht nur eine Frage für die Zusammensetzung des Mitgliederkreises einer Industrie- und Handelskammer, sondern sie hat irrsinnig hohe Implikationen für das Wachstumspotenzial, für das Technologiepotenzial und für die politische Souveränität einer Gesellschaft, die über solche Technologien verfügt oder nicht.
9. Von den Veränderungen der Märkte, mit denen wir in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt zu tun haben, ist der mit Abstand am meisten betroffene Produktionsfaktor die Arbeit. Diese Bemerkung ist nicht originell, ich gebe es zu. Aber man kann sich die Dramatik der Veränderung, mit der wir es hier zu tun haben, nicht oft genug und vor allem nicht klar genug ins Bewusstsein heben. Die Arbeit hat gewissermaßen begonnen, ihren Aggregatzustand zu verändern. Feste Arbeitsverhältnisse verwandeln sich zunehmend in flexible Beschäftigungsverhältnisse. Starre Arbeitszeiten und Entlohnungsregelungen verflüchtigen sich. Selbst der Arbeitsplatz als Betriebsstätte ist zunehmend eher im Internet als auf der Landkarte wieder zu finden.
10. Ich habe die begründete Vermutung, dass die moderne Gesellschaft des 21. Jahrhunderts weder auf Wirtschaftswachstum noch auf demokratische Mitwirkung wird verzichten wollen. Und sie wird, jedenfalls in Deutschland, auch nicht auf ein Mindestmaß an politisch organisierter Solidarität verzichten wollen. Wenn das aber so selbstverständlich nicht mehr zueinander passt, wie das jahrzehntelang zumindest den Anschein hatte, dann müssen wir entweder, was ich ausdrücklich nicht empfehle, uns von diesen Zielen nun ein für allemal verabschieden, oder wir müssen uns Gewaltiges einfallen lassen, um es in eine neue, verlässliche und funktionsfähige Verbindung zu bringen.
Wie groß diese Herausforderung ist, möchte ich gerne mit ein paar ergänzenden Bemerkungen zum Arbeitsmarkt verdeutlichen. Als vor ein paar Jahren die Landesregierungen Bayern und Sachsen einen gemeinsamen Auftrag an eine dafür eingesetzte Kommission für die Beschreibung der Zukunftsperspektiven der Erwerbsgesellschaft erteilt haben, wurde im Bericht der Kommission unter Vorsitz von Professor Miegel die Vermutung geäußert, wir befänden uns längst am Ende der überkommenen Arbeitsgesellschaft. Vielleicht befänden wir uns schon im Jahre sieben oder acht nach Ende der traditionellen Erwerbsgesellschaft. Wachstum entsteht nicht mehr durch Arbeit, sondern durch Wissen. Weder schafft Arbeit Wachstum noch Wachstum notwendigerweise Arbeit. Die Wohlstandsentwicklung verläuft zunehmend unabhängig von der Beschäftigungsentwicklung. Arbeit vermeidet Not, Wissen schafft Wohlstand. Die Verbindung von Kapital und Wissen für die Wertschöpfung nimmt ständig zu. Der Anteil der Erwerbsarbeit daran nimmt ab, ebenso wie der Anteil der Arbeitskosten. Immer weniger Erwerbstätige haben einen wie der Anteil der Arbeitskosten. Immer weniger Erwerbstätige haben einen immer höheren Anteil an der Wertschöpfung.
Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte ist mit so niedrigem Arbeitseinsatz ein so hohes Sozialprodukt erwirtschaftet worden, wie heute. Die durchschnittliche Arbeitszeit von Erwerbstätigen betrug zum Zeitpunkt der Gründung dieser Kammer weit über 4.000 Jahresarbeitsstunden. Sie betrug zu Beginn des letzten Jahrhunderts deutlich über 3.000 Arbeitsstunden im Jahr. Sie beträgt jetzt etwa 1.500 Arbeitsstunden pro Jahr. Das Sozialprodukt hat sich parallel zu dieser Entwicklung explosionsartig vergrößert. Die Lohnquote an der Wertschöpfung sinkt. Sie sinkt übrigens nicht seit gestern oder vorgestern, sie sinkt, wie jede bereinigte Statistik zeigt, seit Ende der 70er Jahre. Sie sinkt auch nicht nur in Deutschland, sondern in allen im Entwicklungsstand mit uns vergleichbaren Volkswirtschaften. Das Volkseinkommen besteht immer weniger aus Löhnen, es besteht immer stärker aus Gewinnen und Erträgen. Das ist keine billige Polemik von Alt- oder Neumarxisten. Diese simple Wahrheit können Sie Jahr für Jahr den Berichten der Deutschen Bundesbank oder des Statistischen Bundesamtes entnehmen. Und dass dies jenseits ökonomischer Zweckmäßigkeiten Fragen an die Konsistenz dieser Gesellschaft stellt - das empfehle ich uns dringend zur Kenntnis zu nehmen. Das Wachstum, das bescheidene Wachstum unserer Volkswirtschaft geht seit Anfang der 80er Jahre komplett auf das Konto Unternehmenserträge und Vermögenseinkünfte. Das gesamte Arbeitseinkommen unserer Volkswirtschaft ist seitdem nicht mehr gestiegen. Es ist unverändert hoch geblieben. Es verteilt sich auf immer weniger Vollerwerbstätige und immer mehr Teilzeitbeschäftigte mit den unvermeidlichen Folgen für die Einkommens- und Vermögensverteilung in unserer Gesellschaft.
Mit den direkten wie den indirekten Folgen dieser Entwicklung müssen wir uns auseinandersetzen, die Wirtschaft wie die Politik. Sie haben für heute Abend keinen Untenrehmer als Redner eingeladen, sondern einen Politiker. Deshalb nutze ich selbstverständlich die Gelegenheit, dafür zu werben, dass Sie die Politik bitteschön mit der Beantwortung der sich daraus ergebenden Fragen nicht alleine lassen - weil die Politik sie nicht anstelle der Wirtschaft beantworten kann. Und ich möchte auch gerne darauf aufmerksam machen, dass die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, von der wir im gemeinsamen Verständnis unserer Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ganz selbstverständlich ausgehen, sich in Zeiten der Globalisierung doch offenkundig nicht erledigt hat, sie stellt sich neu. Und wenn irgendjemand von Ihnen den Eindruck hat, sie sei aber eigentlich doch beantwortet, dann möge er sich bitte nach Schluss der Veranstaltung bei mir melden. "Shareholder Value" ist sicher nicht die englische Übersetzung von Gemeinwohl. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich rede hier weder über und schon gar nicht gegen die Notwendigkeit von Gewinnen und lieber hohen als niedrigen Erträgen. Ich beziehe mich in diesem Zusammenhang sehr gerne auf eine Rede, die unser Bundespräsident vor wenigen Wochen, Anfang Dezember, in Tuttlingen auf einem Wirtschaftsforum gehalten hat. Dort hat er ausdrücklich das natürlich hoch sensible Thema stattlicher Gehälter angesprochen und mit zwei Hinweisen versehen, die ich mir in vollem Umfang zu eigen mache. Die meisten Unternehmer in Deutschland, so hat unser Bundespräsident in dieser Rede gesagt, werden dem Anspruch, Maß und Mitte zu wahren, sehr wohl gerecht. Ich glaube, das trifft zu. Und zweitens: "Leider scheinen einige Manager aber in der Tat die Bodenhaftung verloren zu haben. In einer Zeit, in der viele Menschen in Deutschland reale Einkommenseinbußen hinnehmen müssen, erwarte ich", so Bundespräsident Köhler, "von Managern das notwendige Einfühlungsvermögen dafür, wo der verdiente Lohn des Tüchtigen endet und die Gier beginnt."
Meine Damen und Herren,
wenn ein großer Kaufhauskonzern im Interesse seines schieren Überlebens das gesamte Unternehmen umkrempeln muss, dann wird man dafür in der breiten Öffentlichkeit nicht auf stürmische Sympathie, vermutlich aber auf Verständnis rechnen können. Das gilt für die unmittelbar Betroffenen naturgemäß in sehr viel engeren Grenzen. Wenn aber dann im Zuge einer solchen überlebensnotwendigen Operation Tausende von Menschen buchstäblich ohne konkrete Zukunftsperspektiven ihren Arbeitsplatz räumen müssen und gleichzeitig der langjährige Vorstandsvorsitzende des gleichen Unternehmens seinen Anspruch auf einen Dienstwagen mit Fahrer, einschließlich Überstundenregelung vor deutschen Gerichten tapfer und erfolgreich verteidigt, und gleichzeitig seinen Anspruch auf Altersversorgung gegen das mögliche Insolvenzrisiko des von ihm selbst jahrelang geführten Unternehmens von diesem mit exorbitant hohen Prämien absichern lässt, dann steht nicht nur die Glaubwürdigkeit dieses Unternehmens, dann steht die Glaubwürdigkeit einer Wirtschaftsordnung zur Debatte, weil Sie das niemandem mehr erklären können. Ich jedenfalls kann es nicht.
Glücklicherweise, meine Damen und Herren, gibt es in diesem Land keinen Streit, auch keine Meinungsverschiedenheiten darüber, dass die Verantwortung von Unternehmen nicht an den Werkstoren endet. Und niemandem von Ihnen muss ich erläutern, wie sehr Sie selbst mit Ihren Betrieben, mit Ihren Unternehmen auch von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängen, die es in unserer Gesellschaft gibt, solange es sie gibt. Ohne politische und rechtliche Stabilität, ohne sozialen Frieden, ohne Zukunftsvertrauen und Gemeinsinn fehlt auch den Unternehmen die Geschäftsgrundlage im übertragenen Sinne des Wortes. Und unser Konzept einer sozialstaatlich flankierten Wettbewerbsordnung, das unter dem Begriff "Soziale Marktwirtschaft" jahrzehntelang weltweit als Modell einer modernen Wirtschaftsverfassung verstanden wurde, hat uns ja nicht nur, das ist die schiere Wahrheit, manche dringlich zu lösende Probleme wegen leichtfertiger Überschätzung unserer eigenen Möglichkeiten eingetragen. Es ist doch auch die Voraussetzung dafür gewesen, dass diese Gesellschaft ihren Frieden mit sich selbst gefunden hat, dass sie das nötige Maß an Identifikation mit dieser Staats- und Wirtschaftsordnung entwickelt hat nach einem in jeder Beziehung kompletten Zusammenbruch nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst in diesem Kontext konnte überhaupt das entstehen, was wiederum ein bisschen übertrieben als deutsches Wirtschaftswunder wahrgenommen wurde. Deswegen müssen wir an diese Aufgabe unter gründlich veränderten Bedingungen gemeinsam neu heran.
"Wir sind Deutschland", nicht nur als vordergründiger Slogan einer im Übrigen sehr gekonnten Marketingkampagne. Wir sind Deutschland, jeder Einzelne, jeder an seinem Platz. Und wir können gemeinsam ganz sicher sehr viel mehr aus unseren Möglichkeiten machen, wenn wir es denn nur tun. Es gehört zu den großen Vorzügen der Lage, in der wir uns befinden, dass man in der deutschen Wirtschaft und schon gar bei ihren Spitzenorganisationen nicht um Verständnis dafür werben muss, dass es diese Zusammenhänge gibt, sondern dass sich zunehmend auf der einen wie der anderen Seite gemeinsame Initiativen entwickeln, dieses Ziel gemeinsam anzupacken und dann sicher auch gemeinsam zu erreichen. In diesem Sinne wünsche ich jedem von Ihnen ein gutes, glückliches und erfolgreiches neues Jahr. Ich wünsche der Industrie- und Handelskammer Düsseldorf alles erdenklich Gute für die nächsten 175 Jahre. Und, Herr Franzen, zum 350. Jubiläum würde ich dann gerne die Kurzfassung vortragen, falls Sie mich noch einmal einladen.