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Sehr geehrte Frau Parlamentspräsidentin,
verehrte Frau Kollegin Benaki,
Herr Botschafter, Exzellenzen,
verehrter Herr Erzbischof,
meine Herren Minister,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten,
meine Damen und Herren,
unter den zahlreichen Aufgaben, die Parlamentspräsidenten jedenfalls in Deutschland haben, gibt es neben manchen lästigen Verpflichtungen auch manche angenehme und einige wenige besonders angenehme. Die Teilnahme an diesem Symposium und insbesondere an diesem festlichen Dinner gehört entschieden zur letzten Kategorie. Zum einen ist es für Parlamentarier immer ein Vergnügen, jedenfalls eine unwiderstehliche Versuchung, über Demokratie und Parlamentarismus reden zu dürfen, schon gar in Athen. Zum anderen ist es besonders schön zu wissen, dass man das als Deutscher in einem Land tun kann, bei dem wie wohl in keinem anderen Land Europas, vielleicht noch gerade mit der Ausnahme Österreichs, es so viele gibt, die Deutsch kennen, sprechen und im Großen und Ganzen verstehen. Jedenfalls hat mich immer wieder die Zuneigung besonders beeindruckt und begeistert, die von Griechen gerade gegenüber Deutschland und nicht zuletzt gegenüber der deutschen Sprache zu beobachten ist.
Ich freue mich, welche Resonanz dieses Symposium gefunden hat, wie groß die Anzahl der Teilnehmer ist. Nicht nur heute Abend beim Essen, dafür wären mir dann auch andere Erklärungen eingefallen, sondern, wie ich mich habe informieren lassen, auch heute Nachmittag ohne gleichzeitige Beköstigung. Und noch mehr beeindruckt mich, wie viele von Ihnen immer noch da sind – trotz der angedrohten Rede nach dem Essen. Wer jetzt noch da ist, ist offensichtlich freiwillig da, und ihm ist insofern nicht zu helfen. Sie sind für Ihr Schicksal gewissermaßen selbst verantwortlich.
Meine Damen und Herren, ich bin gebeten worden, ein paar Bemerkungen zu machen zum Thema nationale Parlamente und Demokratie in Europa. Das ist natürlich, wie ich nicht näher erläutern muss, mehr als ein abendfüllendes Thema, und deswegen werden Sie mir nachsehen, wahrscheinlich auch insgeheim hoffen, dass ich das Thema nicht enzyklopädisch behandele, sondern mit ein paar mehr oder weniger vorläufigen Strichen. Und mir wäre sehr recht, wenn Sie außer dem einen oder anderen, was Sie vielleicht einleuchtend finden, auch die eine oder andere Lücke entdecken, die dann morgen während der weiteren Beschäftigung mit diesem und verwandten Themen noch im einzelnen vertieft werden könnte.
Der Parlamentarismus, meine Damen und Herren, ist eine vergleichsweise späte Erfindung in der Menschheitsgeschichte. Auf viele andere kluge Einfälle sind die Leute früher gekommen als auf die Bildung und die mit eher umständlichen Verfahren bestellte Gründung von Parlamenten. Auch im Vergleich zur Demokratie und ihren jedenfalls grundlegenden Ursprüngen ist der Parlamentarismus eine vergleichsweise junge historische Erscheinung. Heute können wir uns das Eine kaum noch ohne das Andere vorstellen, Demokratie ohne Parlament oder gar Parlamente ohne Demokratie. Und schon gar nicht innerhalb der Europäischen Union. Das klassische Griechenland hätte keine Chance, heute Mitglied der Europäischen Union zu werden, die ihrerseits gar nicht zustande gekommen wäre ohne den Beitrag Athens zur abendländischen Zivilisation, die nicht zufällig auf genau diesem Boden gewachsen ist.
Athen war ganz gewiss der erste Staat in der Menschheitsgeschichte, der sich - übrigens ohne vorhergehende Revolution -, nach dem Grundsatz organisiert hat, dass diejenigen, die von Entscheidungen einer Gemeinschaft betroffen sind, diese Entscheidungen selber treffen sollen. Das erscheint uns heute selbstverständlich, aber darauf musste man erst einmal kommen. Und dieser Gedanke ist immerhin, aber eben auch erst zweieinhalb tausend Jahre alt. Und viele Tausende Jahre davor waren, soweit Gemeinschaften überhaupt mehr oder weniger verlässlich politisch verfasst waren, völlig andere Regelungsmechanismen maßgeblich als dieser buchstäblich revolutionäre Gedanke. Dem klassischen Prinzip der Herrschaft, die es immer gab, wenn das Verhältnis von Menschen organisiert werden sollte oder musste, trat zum ersten Mal ein mindestens korrespondierendes Prinzip gegenüber, das wir heute vielleicht mit Selbstbestimmung beschreiben würden. Freiheit entwickelte sich zum ersten Mal aus einem jahrhunderte-, jahrtausende alten Privileg von Monarchen, Tyrannen, Diktatoren und mehr oder weniger abgegrenzten Ständen als herausgehobenen gesellschaftlichen Gruppierungen zu einem Universalprinzip.
Und damit wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass neben dem - im übrigen höchst effizienten - Prinzip von Befehl und Gehorsam als Steuerungsprinzipien einer Gesellschaft in einem natürlich noch lange andauernden, aber unaufhaltsamen Evolutionsprozess Freiheit und Verantwortung treten konnte. Freiheit für sich selbst und Verantwortung für sich und für die Gemeinschaft, für die man handelt. Im übrigen liegt, wie sich ja schwer bestreiten lässt, eine umstürzende Veränderung in der Herbeiführung politischer Entscheidungen durch Volksabstimmungen, Mehrheitsentscheidungen also, bei denen Beurteilungskriterium nicht der Rang der an der Entscheidung Beteiligten war, sondern schlicht und ergreifend die Anzahl derjenigen, die sich eine bestimmte Auffassung zu eigen machten. Damit haben vermutlich zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte Argumente zu einem ernsthaften Kriterium von Entscheidungen werden können. Fairerweise sollte man vielleicht hinzufügen: und Interessen. Und dieses unauflösliche komplizierte Verhältnis von Interessen und Einsichten prägt bis heute die modernen Gesellschaften, die alle in den Grundregeln ihrer Organisation für verbindliche Entscheidungsprozesse ohne die Anfänge, die hier gewesen sind, schwerlich zu verstehen sind.
Mit dem Parlamentarismus als historische Weiterentwicklung ist es wesentlich komplizierter. Es hat eine relativ simple Logik, dass in einem gerade mal entdeckten Regime der Volksherrschaft ein Volk, das sich gerade daran zu gewöhnen begann, selbst zu herrschen, nicht gleich nach Vertretungen suchte, um an seiner Stelle zu herrschen. Denn Parlamente sind Vertretungen und nicht das Volk selbst, was unabhängig von den berühmten Praktikabilitätsfragen, ob denn unter den Bedingungen moderner Massendemokratie es denn überhaupt anders als durch Vertretungen möglich sei, gleichwohl ein relevanter Unterschied bleibt. Ich möchte gerne daran erinnern, dass die Entwicklung des Parlamentarismus in Europa mit der Entwicklung des Nationalstaates eng verbunden war. Und auch da, wo es keinen, jedenfalls keinen direkten Kausalzusammenhang gegeben hat, ist mindestens der zeitliche Zusammenhang augenfällig. Für die Entwicklung des deutschen Nationalstaates im 19. Jahrhundert ist es nur schwer möglich, zwischen dem Interesse an Selbstbestimmung und Freiheit auf der einen Seite und dem Interesse an nationaler Einheit analytisch sauber zu trennen. Politisch war das eine mehr oder weniger unlösbare Verbindung. Diese mindestens zeitlich eng verbundene Parallelität der Entwicklung zum Parlamentarismus und zum Nationalstaat verdient mehr als nur historisches Interesse, zumal die jüngere europäische Geschichte durch Glanz und Elend der Entwicklung der Nationalstaaten nachhaltig geprägt worden ist.
Da ich Ihnen angekündigt hatte, das Thema nicht enzyklopädisch, sondern eher exemplarisch und mit ein paar großzügigen Strichen behandeln zu wollen, werden Sie mir nachsehen, wenn ich jetzt einen weiteren großen historischen Sprung mache und das Entstehen der Europäischen Gemeinschaft im Kern als die Antwort Europas auf die Verirrungen des Nationalstaates interpretiere. Das Selbstbewusstsein, Selbstbehauptungsbedürfnis und die daraus entstehende gnadenlose Rivalität der europäischen Nationalstaaten hat zwei Weltkriege verursacht, an denen kein anderes Land maßgeblicher beteiligt war als Deutschland, an deren Ende dieser Kontinent verwüstet war und Europa seine Führungsrolle in der Welt endgültig verloren hatte. Damals ist Europa neu entdeckt worden. Ich gehöre zu der glücklichen Generation, die nach dem 2. Weltkrieg geboren worden ist und die das Elend, das Voraussetzung dieses historischen Fortschritts war, nur aus Dokumenten und Erzählungen und Geschichtsbüchern kennt. Aber der Preis war hoch, um diesen Fortschritt möglich zu machen. Und es hat im übrigen ja nicht mit dem ganz großen genialischen Sprung begonnen, sondern ganz vorsichtig und zögerlich mit einer europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, um zwei strategische und, wie man damals glaubte, für die weiteren absehbaren Jahrzehnte entscheidende Produkte der nationalen Verfügungsgewalt jedenfalls weitgehend zu entziehen und damit zugleich ihren militärischen Missbrauch in Grenzen halten zu können.
In wenigen Wochen werden wir den 50. Geburtstag der Römischen Verträge begehen, 1957 in Rom von damals ganzen 6 westeuropäischen Staaten vereinbart. Das geschah mit dem Ziel, zwischen ihnen eine Wirtschaftsgemeinschaft zu ermöglichen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und aus dieser EWG ist eine Europäische Gemeinschaft und in der Zwischenzeit eine Europäische Union geworden. Es ist, glaube ich, nicht völlig banal, heute daran zu erinnern, dass 1957 in Rom niemand, buchstäblich niemand, für möglich gehalten hätte, dass dieses neue Gebilde seinen 50. Geburtstag mit 27 Mitgliedstaaten feiern würde – aus Ost- und Westeuropa, und nicht als Wirtschaftsgemeinschaft, sondern als politische Union. Die quantitative und qualitative Entwicklung dieser Europäischen Gemeinschaft ist eine der großen Erfolgsgeschichten, nach meiner Überzeugung nicht nur dieses Kontinents. Vielleicht gehört das mal mit dem Abstand von Generationen, den man für solche Beurteilungen braucht, zu den großen Erfolgsgeschichten der Menschheitsgeschichte.
Und im Zuge dieser großen, scheinbar unaufhaltsamen Erfolgsgeschichte, haben wir uns abgewöhnt, eine Frage zu stellen, geschweige dann zu beantworten, die nach meiner festen Überzeugung spätestens im 51. Jahr dieser Erfolgsgeschichte unvermeidlich geworden ist. Die Frage nämlich, ob Europa überhaupt Grenzen hat. Und wenn ja, wo sie verlaufen. Die erste Frage ist relativ leicht zu beantworten, die zweite beinahe hoffnungslos. Niemand wird ernsthaft vermuten, Europa sei grenzenlos. Das würde auf die skurrile Vorstellung herauslaufen, Europa zu einer größeren Miniaturausgabe der Vereinten Nationen erklären zu wollen. Aber wenn denn schon klar ist, dass irgendwo Grenzen sein müssen, dann muss irgendwer die Frage beantworten, wo. Das wird keine fröhliche Veranstaltung, aber sie wird unvermeidlich, zumal im übrigen die letzten dieser 50 Jahre schon hinreichendes Anschauungsmaterial dafür liefern, dass die Gemeinschaft in der Verfassung, in der sie sich jetzt befindet, die nächsten 50 Jahre sicher nicht überleben kann.
Wenn man denn aber die Frage beantworten muss, wo dieses Europa seine eigenen Grenzen definiert, dann setzt das die vorherige Beantwortung der Frage voraus, als was wir dieses Europa eigentlich verstehen. Ob für uns Europa in erster Linie eine Behörde ist, oder in erster Linie ein Markt, oder in erster Linie eine Idee. Es wird Sie nicht verblüffen, dass ich mit Nachdruck für die dritte Variante plädiere. Der Charme Europas als Behörde hält sich auch bei den sechs Gründungsstaaten in überschaubaren Grenzen. Das wird keine Identifikation stiften. Das Verständnis Europas als Markt ist bestenfalls ein gut gemeintes Missverständnis, denn wenn sich Europa in erster Linie ökonomisch definierte, würde es zu erstaunlichen Konsequenzen mit Blick auf künftige Mitgliedschaften kommen müssen. Es gibt zum einen kaum noch einen Flecken auf dem Globus, auf dem Europa nicht vitale ökonomische Interessen hätte. Und wenn wir es unter Relevanzgesichtspunkten sortieren müssten, also etwa nach dem Volumen unserer Handelsbeziehungen, würden Japan und Indien und China ganz gewiss eher Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden als die Türkei, Georgien oder Moldawien.
Sinn macht eine Definition Europas und eine Festlegung seiner Grenzen überhaupt nur, wenn wir Europa als Prinzip begreifen, als Idee. Und dann müssen wir zurück zu den Wurzeln. Dann ist Athen wichtiger als Brüssel. Was hoffentlich kein Belgier für eine unfreundliche Bemerkung hält. Ich habe ja auch nicht von Berlin gesprochen, das es nicht einmal gab, als hier die ersten grundlegenden Orientierungen der Menschwerdung Europas formuliert wurden. Und dann müssen wir darüber reden, was es uns bedeutet, Freiheit und Selbstbestimmung und Verantwortung zur Grundlage der politischen Verfassung einer Gesellschaft machen zu wollen. In diesem Zusammenhang ist die Frage nach dem Stellenwert von Parlamenten nicht mehr prinzipiell, sondern eher instrumentell. Sie sind unverzichtbare Instrumente zur Ausführung dieses Verständnisses von indivi dueller Freiheit, von Selbstbestimmung, von Verantwortung für die eigene Zukunft und die eigene Gesellschaft.
Und dann gibt es in der Tat eine Reihe von spannenden Fragen, die sich in diesem Zusammenhang für die Rolle von Parlamenten, schon gar von nationalen Parlamenten in einer europäischen Demokratie, stellen. Dazu hat es gerade vor ein paar Wochen eine kurze, heftige Diskussion, ausgelöst durch einen prominenten Artikel eines besonders prominenten deutschen Autors, gegeben, der in diesem Zusammenhang seine große Besorgnis zu Protokoll gegeben hat, die europäische Entwicklung könnte zur Entparlamentarisierung führen und der parlamentarischen Demokratie in Deutschland ihre innere Legitimation entziehen. Hintergrund dieser Besorgnis ist der zweifellos richtige Hinweis darauf, dass im Zuge dieser europäischen Erfolgsgeschichte, der Erweiterung und Vertiefung der europäischen Gemeinschaft, immer mehr Zuständigkeiten aus den Mitgliedstaaten abgewandert sind an die Gemeinschaft. Und dass Zuständigkeiten früher mit dem Ziel der Verbindlichkeit für Regelungen in den nationalen Parlamenten getroffen worden sind, während die Mehrzahl der Regelungen heute in europäischen Institutionen getroffen werden, um anschließend, wenn überhaupt, von nationalen Parlamenten nur noch in nationales Recht umgesetzt zu werden. Dieser Prozess ist als Prozess zweifellos richtig beschrieben. Falsch ist die damit häufig, auch in diesem Artikel, verbundene Vermutung, das sei wie eine Naturkatastrophe über die Gemeinschaft gekommen, sei eine dramatische Fehlentwicklung, die kaum noch zu korrigieren, deswegen aber mindestens heftig zu bedauern sei.
Diesen Eindruck teile ich ausdrücklich nicht. Und ich habe vorhin aus guten Gründen darauf hingewiesen, dass dieser europäische Einigungsprozess mit Kohle und Stahl begonnen hat und nun als Europäische Union nach einer neuen vertraglichen Verfassungskonstruktion sucht. Und in diesen 50 Jahren hat kein anderes Land früher und heftiger und konsequenter und am Ende erfolgreicher auf Mutation der Wirtschaftsgemeinschaft zu einer politischen Gemeinschaft gedrängt als Deutschland. Wir wollten, dass dieses Europa mehr ist als ein Markt. Wir wollten, dass es sich in einer gründlich veränderten Welt gründlich neu organisiert. Voraussetzung für die Möglichkeit dieser Veränderungsabsicht ist aber die Bereitschaft, nationale Souveränitätsrechte abzutreten. Abzutreten! An europäische Gremien weiterzureichen und das, was europäisch besser, überzeugender, vernünftiger geregelt werden kann als auf nationaler Ebene, dort entscheiden zu lassen. Allerdings, es kann allen, mit auch nur Spurenelementen der Erinnerung an das Erbe der attischen Demokratie versehenen Zeitgenossen nicht gleichgültig sein, wie denn die Legitimationsfigur der europäischen Entscheidungen aussieht, die in Zukunft für alle Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten verbindlich ist. Und es kann uns nicht zufrieden stellen, wenn es zwar, ich wiederhole: wie gewollt, eine Abtretung nationaler Souveränitätsrechte an europäische Gremien gibt, aber nach wie vor in einem beachtlichen Umfang diese europäischen Kompetenzen nicht vom Europäischen Parlament, sondern von den Ministerräten wahrgenommen werden, von den Versammlungen der Regierungen der Mitgliedsländer. Etwa 25% der europäischen Gesetzgebung läuft am Europäischen Parlament komplett vorbei. Das ist nicht tolerabel. Und es entspricht, nach meiner Überzeugung, nicht nur dem Bewusstsein, dem Selbstbewusstsein eines Parlamentariers, sondern auch unserem historischen Verständnis der Mindestbedingungen von Demokratie, schon gar von parlamentarischer Demokratie, dass das, was in einer Gesellschaft für alle ihre Mitglieder gilt, von den Mitgliedern dieser Gesellschaft selbst entschieden sein muss und zwar, soweit das nicht mehr auf der Agora in Athen durch Volksabstimmungen möglich ist, durch Volksvertretungen. Bei allem Respekt für Regierungen: sie können und dürfen Parlamente nicht ersetzen.
Und deswegen, verehrte Kollegin Benaki, ist das eine wunderschöne Gelegenheit, an einem nicht mehr überbietbaren geeigneten Platz in Athen über die Zukunftsperspektiven von Parlamentarismus und Demokratie in Europa nachzudenken. Und sich gewissermaßen gemeinsam zu motivieren, einen richtig begonnenen Prozess erstens überhaupt weiterzugehen, aber auch in die richtige Richtung weiterzugehen. Und hinter die Einsichten nicht zurückzufallen, die die attische Demokratie geprägt haben. Dass die Entscheidungen, die für alle Mitglieder einer Gesellschaft verbindlich sein sollen, von diesen Mitgliedern selbst getroffen werden müssen. Und es gibt im übrigen auch einen praktischen Wunsch, weswegen nach meiner festen Überzeugung in diesem Zusammenhang nationale Parlamente keineswegs bedeutungslos werden.
Wir alle registrieren ja gelegentlich mit mehr oder weniger großer Verär gerung, dass zur Eigendynamik solcher großen historischen Prozesse gehört, dass neue Institutionen ihre Eigendynamik entwickeln und dass dann eben eine Zuständigkeitsübertragung mehr oder weniger unreflektiert erfolgt. Eine Zuständigkeitsübertragung, bei der nicht mehr jeweils im einzelnen die Frage sorgfältig genug geprüft worden ist, ob es hier einer europäischen Regelung überhaupt bedarf oder ob die vernünftige Regelung nicht mindestens so gut, und das heißt dann in der Regel besser, da getroffen würde, wo es ganz unmittelbar um die Lebensverhältnisse der jeweils betroffen Menschen geht. Das hat im Verfassungsvertrag, der ja bedauerlicherweise bis heute nicht ratifiziert worden ist, in der gesamten Gemeinschaft seinen Ausdruck im Subsidaritätsprinzip gefunden, und ich sehe bei nüchterner Betrachtung überhaupt nur eine einzige Instanz, die mit Aussicht auf Erfolg das Subsidaritätsprinzip in dieser Gemeinschaft verteidigen könnte. Die nationalen Parlamente. Ich sehe keine andere. Das Europäische Parlament wird es nicht tun. Das will europäisch regeln. Die Ministerräte ebenso. Soweit sie nicht bei einer strafferen Kontrolle von ihren jeweils nationalen Parlamenten an eine kürzere Leine genommen werden. Das Interesse an Selbstbehauptung kleinerer Einheiten gegenüber der immer größeren Einheit Europa muss von der Vertretung der kleineren Einheiten wahrgenommen werden.
Wir haben – ganz praktische Bemerkung kurz vor Schluss – gerade am Montag dieser Woche als Deutscher Bundestag in Brüssel eine eigene Vertretung eröffnet, um durch einige wenige Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung und insbesondere durch Vertreter aller politischen Gruppierungen des Bundestages, also aller Fraktionen vor Ort, uns in die Lage zu versetzen, rechtzeitig Einfluss zu nehmen auf europäische Entwicklungen. Insbesondere auf die Fragen, ob wir von einer beabsichtigten europäischen Regelung überhaupt überzeugt sind, oder ob wir im Interesse des Subsidaritätsprinzips nicht rechtzeitig signalisieren wollen und müssen, dass wir eine solche Regelung für völlig verzichtbar und überflüssig halten. Ich bin ziemlich sicher, dass dieses Beispiel Schule machen wird. Und es ist ja ganz gewiss kein Zufall, dass fast alle Mitgliedstaaten inzwischen auch, wenn auch sehr bescheiden, erste Repräsentanzen, meist in den Vertretungen ihrer Regierungen, auch für das Parlament gegründet haben.
Meine Damen und Herren, ich habe vorhin darauf hingewiesen, die Zukunft Europas wird auch die Frage beantworten müssen, ob und wo seine Grenzen verlaufen. Und die Beantwortung dieser Frage setzt voraus, dass wir klären, welches Verständnis wir von diesem Europa haben. Ich muss sicher nicht noch einmal bekräftigen, warum ich davon überzeugt bin, dass dieses Verständnis Europas ein Verständnis einer großen Idee, eine Vorstellung vom Menschen und seiner Würde und seiner Freiheit und seines Anspruchs auf Selbstbestimmung sein muss und nicht eine Reduzierung sein darf auf Märkte oder Administration. Imre Kertész, der große ungarische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger, der 1944 als 15jähriger aus einem Bus in Budapest gezerrt und in die Konzentrationslager in Auschwitz und dann in Buchenwald verschleppt wurde und der sich in seinem gesamten literarischen Werk mit dieser traumatischen Erfahrung, nicht nur der eigenen Biografie, sondern wie er immer wieder schreibt, dieser großen traumatischen Erfahrung der abendländischen Zivilisation auseinandersetzt, hat in einem Interview einmal auf die Frage, womit kann oder wird Europa die Welt noch überraschen, erklärt: „Europa könnte die Welt noch überraschen, wenn es eindeutig und unerschütterlich für die eigenen Werte eintreten würde“. Meine Damen und Herren, ich bin nicht sicher, wie groß die Überraschung wäre, aber ich bin ganz sicher, es wäre eine der besten und der stolzesten Überraschungen, die sich dieser Kontinent in seiner jüngeren Geschichte bisher erlaubt hat.