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Meine Damen und Herren,
ich begrüße Sie alle ganz herzlich auch im Namen des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, Herrn Professor Papier, zu diesem Verfassungsgespräch, das wir aus Anlass des 60. Geburtstages des Grundgesetzes heute Abend dem Versprechen von Demokratie und Rechtsstaat widmen wollen.
Diese Verfassungsgespräche haben in Karlsruhe schon eine kleine Tradition, die wir heute gewissermaßen fortsetzen, und natürlich habe ich die Anregung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts gerne aufgegriffen, ob nicht dieser besondere Anlass auch ein guter Grund dafür sein könnte, dieses Gespräch heute in Berlin am Vorabend der Geburtstagsfeierlichkeiten der Bundesrepublik und des Grundgesetzes durchzuführen und wenn eben möglich im Deutschen Bundestag, also dem Organ, das die Gesetze und gelegentlich eben auch die Verfassungstexte berät und verabschiedet, den das Verfassungsgericht anschließend seine viele Arbeit verdankt.
Ich freue mich über alle, die heute Abend zu diesem Gespräch gekommen sind. Mein ganz besondere Gruß gilt der Bundeskanzlerin. Ich freue mich über die Teilnahme von Mitgliedern der Bundesregierung und des Bundestages. Ich bedanke mich dafür, dass zahlreiche Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes heute Abend dabei sind, Aktive und Ehemalige. Und mein ganz besonders herzlicher Gruß gilt Bundespräsident Roman Herzog, der zu all den Themen, die wir heute Abend vielleicht behandeln könnten, beinahe den Abend alleine bestreiten könnte, weil er sowohl aus der Perspektive der Legislative wie der Exekutive wie der Judikative dazu eigene Erfahrungen beisteuern könnte.
Meine Damen und Herren, das Grundgesetz gilt in diesen Tagen seit 60 Jahren. Es ist damit fast so lange gültig wie die Verfassung des Deutschen Reiches und die Weimarer Verfassung zusammengenommen. Ende nächsten Jahres wird das Grundgesetz eine längere Geltungsdauer haben als die beiden Vorgängerverfassungen zusammen erlebt haben.
Dieses Grundgesetz gilt inzwischen – jedenfalls nach meinem Eindruck auch und gerade bei internationalen, bei ausländischen Beobachtern und Experten als eine der großen Verfassungen der Welt. Davon konnte man auch nicht unbedingt ausgehen, als man mit den ersten Beratungen zu diesem Grundgesetz begann. Carlo Schmid hat damals im Parlamentarischen Rat von einem Bauriss für ein Notgebäude gesprochen. Daraus ist jedenfalls ein erstaunlich stabiles Gebäude geworden. Dazu hat zweifellos das Bundesverfassungsgericht ganz maßgeblich beigetragen, das seinerseits zu den glücklichen Innovationen dieser Verfassung gehört und seine rechtshistorisch beispiellose Rolle in sechs Jahrzehnten so überzeugend wahrgenommen hat, dass es heute unangefochten die höchste Reputation aller Verfassungsorgane genießt. Mehr als Dreiviertel aller Bürgerinnen und Bürger unseres Landes erklären in jüngeren Umfragen ausdrücklich ihr großes Vertrauen in die Arbeit dieses Verfassungsorgans. Es ist übrigens unter anderen Verfassungsorganen in letzter Zeit besser geworden, aber es gibt nachwievor doch eine beachtliche Distanz. Etwas salopp formuliert, die Deutschen trauen ihren Richtern mehr als ihren Politikern. Warum auch immer das so ist, was ja vielleicht auch ein Thema des Gespräches sein könnte.
Wir können uns heute Abend, meine Damen und Herren, den eher seltenen Luxus erlauben, das im Unterschied zu den meisten Geburtstagsfeiern, bei denen der Jubilar heftig gelobt werden muss, damit die Vorzüge auch um Gottes Willen nicht übersehen werden und mögliche Probleme, wenn überhaupt, eher freundlich zurückgestellt werden. Wir befinden uns heute Abend in der glücklichen Lage, das die Abteilung Lobpreisung des Grundgesetzes jedenfalls nach meiner Wahrnehmung eher knapp gehalten werden kann, weil es einen ernsthaften Streit über die Qualität, über die Geltung, über den Rang dieser Verfassung schon lange nicht mehr gibt. Das sollte uns um so eher in die Lage versetzen, uns in Ruhe, aber auch durchaus selbstkritisch mit der Entwicklung auseinanderzusetzen, die diese Verfassung und dieses Land in den 60 Jahren unter der Geltung dieses Grundgesetzes genommen hat.
Seit 1949 ist das damals verkündete Grundgesetz 54-mal ergänzt oder geändert worden. Das ist bei 60 Jahren im Durchschnitt weniger als einmal pro Jahr, aber es ist immerhin doppelt so häufig wie die amerikanische Verfassung in 200 Jahren. Für jede einzelne dieser Änderungen oder Ergänzungen hat es Gründe gegeben. Mal mehr und mal weniger zwingende. Aber das dem Verfassungsgesetzgeber jede einzelne dieser Änderungen gleich gut gelungen sei, wird man wohl nur zögernd behaupten wollen.
Das Grundgesetz ist in den vergangenen 60 Jahren deutlich länger geworden. Nach Auskunft von Experten, die ich dazu befragt habe, hat es inzwischen nahezu den doppelten Umfang gegenüber dem Text von 1949. Ob es mit der erheblichen Erweiterung auch erheblich besser, jedenfalls präziser geworden ist, diese Frage werden wir uns mindestens gefallen lassen müssen. In einer interessanten staatsrechtlichen Studie, die gerade in diesem Jahr veröffentlicht worden ist, findet sich der jedenfalls diskussionswürdige Satz: „Ein Blick in den Text des Grundgesetzes bestätigt die Vermutung, dass wenig so schnell veraltet wie seine Neuerungen.“ Ob das so ist und ob sich das überhaupt in dieser Weise auch verallgemeinern lässt, ist wiederum ein jedenfalls denkbarer Gegenstand einer solchen gemeinsamen Beschäftigung mit dem Thema.
Jedenfalls lässt sich auch mit Blick auf die Auseinandersetzung früherer Jahre nur schwer übersehen, dass es an der einen und mal an der anderen Stelle beachtlichen Gestaltungsehrgeiz gibt. Und es gibt ja sowohl die Vermutung, dass diese gerade mit Blick auf die Quantitäten geschilderte Entwicklung mit dem besonderen Gestaltungsehrgeiz des Verfassungsgesetzgebers zusammenhinge. Aber es gibt in der Literatur und in der politischen Diskussion gelegentlich auch die umgekehrte Vermutung, dass es mit dem Ehrgeiz des Verfassungsgerichts zusammenhinge, vorhandene Verfassungsbestimmungen so eng auszulegen, dass der gewünschte Gestaltungsspielraum nur durch entsprechende Änderungen, Präzisierungen, Ergänzungen des Verfassungstextes zu erreichen sei.
Sie merken, ich vermeide sorgfältig jede Festlegung nach der einen oder anderen Seite, behaupte allerdings, dass ich beide Vermutungen für hinreichend begründet halte, um eine ruhige konstruktive Beschäftigung mit diesem Thema zu rechtfertigen.
Der eine oder andere von Ihnen weiß ja auch, dass ich gerade auch mit Blick auf manche jüngere Überlegungen nicht restlos glücklich bin, was Gestaltungsehrgeiz betrifft, wobei ich schon meine, dass wir jenseits der in diesem Zusammenhang gelegentlich strapazierten Frage der sogenannten Verfassungsästhetik auch die hochpolitische Frage beantworten müssen, welche Folgen es denn eigentlich hat, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, wenn immer häufiger neben Grundsätzen und Grundregeln politische Gestaltungsabsichten den Verfassungsrang ausgestattet werden. Was das für die Spielräume künftiger Gesetzgeber, künftiger demokratisch legitimierter Mehrheiten bedeutet und damit auch für die Architektur eines politischen Systems, für das wir uns im großen und ganzen regelmäßig wechselseitig beglückwünschen und das mit gutem Grund, weil uns in unserer Geschichte selten Ähnliches ähnlich gut gelungen ist wie diese Verfassung.
Noch einmal herzlichen Dank an Sie alle für Ihr Interesse an diesem Gespräch. In diesen Dank schließe ich auch die Repräsentanten der Gesellschaft ein, die wichtige Gruppe, die gerade auch mit Blick auf das Entstehen unserer Verfassung und ihre gesellschaftspolitische Relevanz immer wieder den Dialog mit den Verfassungsorganen pflegen und beteiligt sind. Ich bedanke mich insbesondere bei Herrn Frey und den Damen und Herren, die im Podium gleich für uns gewissermaßen stellvertretend einige der Aspekte aufgreifen, die mit Blick auf eine 60jährige Verfassungsgeschichte besondere Aufmerksamkeit verdienen.
Herzlichen Dank.