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Bundestagspräsident Norbert Lammert (Mitte) eröffnete die Kurztagung der deutschen Sektion der Internationalen Juristen-Kommission. © DBT/Melde
Die Systemfrage hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich dem Gesetzgeber überlassen. Die Frage also, ob die Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach dem Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht oder nach einer Verbindung beider Systeme zu wählen sind. "Wenn dagegen behauptet wird, das Gericht habe sich in eine Richtung entschieden oder einem System zugeneigt, so ist das falsch", betonte der Berichterstatter für Wahlrecht und ehemalige Verfassungsrichter Rudolf Mellinghoff am Freitag, 14. Juni 2013, im Bundestag.
Mellinghoff, der mittlerweile Präsident des Bundesfinanzhofs ist, sprach auf einer Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Juristen-Kommission, die Antworten darauf suchte, ob das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag der "Quadratur des Kreises" gleichkommt. Das Verfassungsgericht sei bei der Beurteilung des Wahlrechts "großzügig", fasste Mellinghoff seine Sichtweise auf kontroverse Urteile zusammen, in denen die Karlsruher Richter Regelungen des Wahlrechts für verfassungswidrig erklärt hatten.
Zu Vorwürfen, das Gericht mische sich beim Wahlrecht zu sehr sein, bemerkte Mellinghoff, dem Gesetzgeber werde bei der Ausgestaltung des Wahlsystems ein weiter Gestaltungsspielraum zugebilligt; das Verfassungsgericht beschränke sich darauf, die "folgerichtige Ausgestaltung" des gewählten Systems sicherzustellen.
Gleichwohl sei eine "breite Tendenz" des Verfassungsgerichts zu beobachten, den politischen Gestaltungsspielraum "deutlich zu limitieren", entgegnete der Bundesabgeordnete Stefan Ruppert. Der FDP-Politiker verwies auf jüngere Entscheidungen, in denen Bestimmungen zum Wahlrecht für Auslandsdeutsche, zur Fünf-Prozent-Hürde bei den Europawahlen sowie zum sogenannten negativen Stimmgewicht und zu Überhangmandaten bei den Bundestagswahlen für verfassungswidrig erklärt wurden, nachdem das Gericht die Regelungen jahrelang nicht beanstandet oder sogar ausdrücklich gebilligt hatte.
"Warum muss der Maßstab für die personalisierte Verhältniswahl so strikt und pedantisch sein", kritisierte Ruppert die Vorgaben der Karlsruher Richter im Wahlrechtsurteil von 2012, die den Gesetzgeber unter anderem veranlasst hatten, künftig einen vollständigen Ausgleich von Überhangmandaten vorzusehen.
Im internationalen Vergleich habe sich das Gericht "mit seiner Fixierung auf die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen" auf einen fragwürdigen Sonderweg begeben, tadelte der Politikwissenschaftler Dieter Nohlen. Die personalisierte Verhältniswahl sei ein "System sui generis"; dies übersähen die Richter, wenn sie dafür die gleichen strengen Maßstäbe heranzögen wie für die reine Verhältniswahl.
Nirgends greife ein Verfassungsgericht derart massiv in Entscheidungen des Gesetzgebers zum Wahlsystem ein wie in Deutschland, kritisierte der Politikwissenschaftler, der auch international einflussreiche Veröffentlichungen zu Wahlen und Wahlsystemen vorgelegt hat. Nohlen warf den Richtern vor, internationale Erfahrungen mit Wahlsystemen nicht ausreichend zu berücksichtigen.
Besonders deutlich werde dies in dem Urteil, mit dem die Fünf-Prozent-Hürde bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gekippt wurde. Alle EU-Mitgliedstaaten verfügten entweder über ausdrückliche gesetzliche Sperrklauseln oder über faktische Sperrsysteme. Trotz seiner heftigen Kritik am Einfluss Karlsruhes auf das Wahlrecht bescheinigte Nohlen dem deutschen Wahlsystem zum Bundestag insgesamt Vorbildwirkung. Die Verbindung von Verhältniswahl und Personenwahl schneide im internationalen Vergleich "hervorragend ab".
Dennoch gibt es in der Wissenschaft Forderungen, das gegenwärtige Zweistimmensystem bei der Wahl zum Bundestag grundlegend zu ändern. Die beiden Verfassungsrechtler Martin Morlok und Hans Meyer plädierten für eine Verhältniswahl, bei der jeder Wähler nur eine Stimme haben solle.
Die Option des Stimmensplitting habe mit der jüngsten Wahlrechtsreform ohnehin seine parteipolitische Funktion verloren, da Überhangmandate künftig durch Ausgleichsmandate für die übrigen Parteien aufgewogen würden, argumentierte Meyer. Für einen Systemwechsel gibt es jedoch politisch keine Mehrheit.
Der SPD-Abgeordnete Dieter Wiefelspütz erinnerte daran, dass alle Fraktionen im Bundestag – mit guten Gründen – am Zweistimmensystem festhalten wollten. Ihm habe "noch niemand plausibel erklären können", ergänzte Ruppert, warum eine Stimme mehr demokratische Teilhabe ermöglicht als zwei Stimmen, der auch international einflussreiche Veröffentlichungen zu Wahlen und Wahlsystemen vorgelegt hat. (gel/17.06.2013)