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Zoni Weisz (hinten links), niederländischer Sinto und Holocaust-Überlebender, bei einer Begegnung mit Jugendlichen im Bundestag © DBT/Lichtblick/Andi Hill
Schätzungsweise 100.000 Sinti und Roma leben heute in Deutschland. Von einer gleichberechtigten Teilhabe der nationalen Minderheit kann aber gerade im Bildungssektor immer noch nicht gesprochen werden: Am Mittwoch, 25. Mai 2011, wurde eine Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma in der Kinderkommission des Deutschen Bundestages unter Vorsitz von Marlene Rupprecht (SPD) vorgestellt. Das Fazit: Ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Minderheit und Mehrheit, das eine gelingende Bildung massiv behindert.
"Es ist eigentlich nicht fünf vor zwölf, sondern fünf nach zwölf“, sagte Thede Boysen, Minderheitensekretär der vier autochthonen nationalen Minderheiten in Deutschland. 13 Prozent von den 261 befragten Sinti und Roma ab 14 Jahren hätten keinerlei Schule besucht, das seien zehnmal so viele wie in der deutschen Mehrheitsbevölkerung.
Allein 44 Prozent hätten keinerlei Schulabschluss, und gerade einmal sechs Personen hätten ein Gymnasium besucht, schildert Jane Schuch vom Erziehungswissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin die Situation.
Für Alexander von Plato, Mitautor und wissenschaftlicher Begleiter der Studie, ist die Ursache klar: "Durch die NS-Politik kam es zum Bildungsbruch.“ Im Dritten Reich sei Sinti und Roma der Schulbesuch verboten worden. Kinder, die dennoch gingen, seien direkt zur Ermordung in die Konzentrationslager gekommen. Gerade einmal zehn Prozent hätten diese Zeit überlebt, besäßen deshalb aber keine oder nur eine schlechte Bildung.
Ein Teufelskreis, der sich seither fortsetzt: Denn wenn die Bildung der Eltern und Großeltern niedrig sei, erfahre auch die heutige dritte Generation wenig Unterstützung beim Lernen, so von Plato. Er appellierte an die Politik: "Es ist unser Auftrag, hier einzugreifen und zu unterstützen. Andernfalls würde es bedeuten, dass auch wir sie von der Bildung fernhalten und das Dilemma fortsetzen.“
Fassungslose Stille im Saal
Einen weiteren Grund in der Bildungsmisere sehen die Experten auch in dem alltäglich erlebten Antiziganismus. Über 80 Prozent der Befragten hätten schon Diskriminierung erfahren. Schuch zitiert aus den Interviews mit den Sinti und Roma: "Neben dem Zigeuner möchte ich nicht sitzen“, zähle dabei noch zu den harmloseren Varianten.
Im Saal herrschte fassungslose Stille, als Schuch mit den Sätzen fortfuhr, mit denen sich einige Sinti und Roma laut der Befragung bereits konfrontiert sahen: "Hat man vergessen, Dich zu vergasen!?“ oder "Der Hitler hat schon Recht getan“.
"Wie viel mehr Willen, Ehrgeiz und Einsatz es braucht, um sich mit einer 'Jetzt-erst-recht-Einstellung' dagegen zur Wehr zu setzen, lässt sich nicht messen“, schloss Schuch. Eine, die aber genau diesen Willen hatte, ist Sinta, Jane Simon. Eine junge Frau, die weder Schule noch Kindergarten besucht hat und mit 20 Jahren das erste Mal die Schulbank drückte.
Inzwischen hat sie das Abitur in der Tasche. "Ich würde mich als aufsaugenden Schwamm beschreiben, wie eine Triathletin. Es gab viele ebene, aber auch sehr steinige Strecken. Ich musste klettern und schwimmen, obwohl ich doch Nichtschwimmerin war. Oft fiel ich hin, doch ich stand wieder auf, weil es mir wichtiger war, das Ziel zu erreichen.“
Das Ziel: Der Mehrheitsbevölkerung zeigen, dass die Sinti und Roma nicht primitiv sind und den Lehrern, die bei Diskriminierungen nicht eingreifen, sondern stattdessen selbst noch äußern "Du bist ein Zigeuner, du bist wertlos und aus Dir wird eh nichts“ das Gegenteil beweisen.
Sie hat gekämpft - und gewonnen. Nun will sie sich selbst als Bildungslotse oder Mediatorin für Sinti und Roma mit schlechten Bildungsvoraussetzungen einsetzen.
Günter Saathoff von der Stiftung "Erinnerung, Vergangenheit und Zukunft" formulierte seinen Wunsch an die Politik ganz offen: "Ich hoffe, die Studie erschreckt genug, um Konsequenzen zu ziehen.“ Und auch die anderen Experten, darunter Daniel Strauß vom Verband Deutscher Sinti und Roma, fordern endlich ein Handeln durch die Politik: Man könne die Vergangenheit nicht ändern und man wolle auch nicht mehr nur als Opfer wahrgenommen werden.
Vielmehr gehe es ihnen nun um die gleichberechtigte Teilhabe. Durch die Etablierung einer Bildungskommission mit Vertretern von Bund, Ländern und Kommunen sowie gleichberechtigten Vertretern der Sinti und Roma könne man einen Aktionsplan für eine generationenübergreifende Bildungsförderung erstellen und so den Bildungsaufbruch schaffen. (aha)