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Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble (CDU) hat für eine Entlastung der Bürger durch Maßnahmen gegen die „kalte Progression“ im Einkommensteuerrecht geworben. Bei der ersten Lesung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau der kalten Progression (17/8683) sagte Schäuble am Freitag, 2. März 2012 im Bundestag, der progressive Steuertarif, bei dem höhere Einkommen höher besteuert würden, habe sich über die Jahrzehnte bewährt. „Aber im Zusammenwirken mit Geldentwertung entsteht daraus der Effekt der kalten Progression.“
Schäuble rechnete vor, dass der Steuertarif dazu führe, dass bei einer Gehaltserhöhung um zwei Prozent die Steuer stärker als um diese zwei Prozent steige. „Auf lange Sicht führt das zu einer starken Verschiebung, einer höheren Steuerbelastung.“ Das sei vom Gesetzgeber so nicht gewollt. Man sei auch nicht an durch Geldentwertung zustande kommende Steuermehreinnahmen interessiert. Auch beim Grundfreibetrag bestehe Handlungsbedarf. Niemand werde doch einen nicht verfassungsgemäßen Grundfreibetrag riskieren wollen, sagte Schäuble.
Die in dem Gesetzentwurf vorgesehenene Anhebung „ist verfassungsrechtlich geboten und kann deswegen nicht wirklich bestritten werden“, stellte Schäuble fest. Der Gesetzentwurf sieht eine stufenweise Anhebung des steuerlichen Grundfreibetrags in zwei Schritten zum 1. Januar 2013 auf 8.130 Euro und zum 1. Januar 2014 auf 8.354 Euro (insgesamt plus 350 Euro) vor. Die Anhebung orientiert sich an der voraussichtlichen Entwicklung des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums. Auch der Tarifverlauf soll prozentual wie der Grundfreibetrag um 4,4 Prozent angepasst werden.
Ohne Anpassung des Tarifverlaufs käme es durch die alleinige Anhebung des Grundfreibetrags bei konstantem Eingangssteuersatz zu einer nicht gewollten „Stauchung“ des Tarifs innerhalb der ersten Progressionszone und damit zu einem Anstieg der Progression, wird erläutert. Eigentlich handele es sich nicht um Steuerentlastungen, sondern um den „Verzicht auf vom Gesetzgeber nicht beschlossene Steuererhöhungen. Und wer sich dagegen ausspricht,. plädiert für Steuererhöhungen“, stellte der Finanzminister fest.
Massiven Widerspruch erntete Schäuble bei der SPD-Fraktion. Schäuble führe eine reine Ablenkungsdiskussion, sagte deren stellvertretender Fraktionsvorsitzender Joachim Poß. Die Steuerpolitik der Koalition sei in den letzten zwei Jahren „zum Erbarmen“ gewesen. Im Wahlkampf 2009 hätten alle Koalitionsparteien massive Steuersenkungen versprochen. „Das war nichts anderes als eine Wählertäuschung“, warf Poß Union und FDP vor. Schäuble wolle mit „politischem Pfusch“ jetzt retten, was noch zu retten sei. „Selbst für Ihre Mini-Entlastung ist kein Geld in den öffentlichen Kassen“, stellte Poß fest. Länder und Gemeinden könnten die Verluste nicht schultern, und der öffentliche Schuldestand liege 20 Prozentpunkte über den EU-Grenzwerten.
In Europa spiele Schäuble mit Kanzlerin Angela Merkel den fiskalischen Zuchtmeister, und hier wolle er Steuersenkungen auf Pump. „Kein Sozialdemokrat verweigert sich einer notwendigen Anhebung des Grundfreibetrages“, sagte Poß, der aber das Fehlen des Existenzminimumberichts beklagte. Schäuble müsse diesen Bericht endlich vorlegen. „Dann werden wir sehen, wann und um welchen Betrag Anhebungen notwendig sind, die wir dann auch mittragen werden“, so Poß.
Dr. Volker Wissing (FDP) wiederum richtete scharfe Angriffe an die Adresse der SPD und verdeutlichte, es gehe um den Verzicht auf Steuererhöhungen und nicht um Steuersenkungen. Eine Gegenfinanzierung müsse deshalb nicht vorgelegt werden.
„Damit fallen alle Ihre Gegenargumente wie ein Kartenhaus in sich zusammen“, stellte Wissing fest, der sich außerdem wunderte, dass die Sozialdemokraten den Schutz unterer und mittlerer Einkommen vor Steuererhöhungen nicht wollten. Er habe den Eindruck, dass die SPD das Steuerrecht als „Strafrecht für Arbeitnehmer“ verstehe.
Schon in der letzten Legislaturperiode habe ihre Fraktion die Bundesregierung aufgefordert, endlich etwas gegen die kalte Progression zu tun, erinnerte Dr. Barbara Höll (Die Linke). Jetzt werde die Koalition endlich wach, lege aber keine große Lösung vor.
Wer die kalte Progression bekämpfen wolle, müsse auch den Tarif ändern. Solange die Koalition nicht an eine Tarifänderung herangehe, habe man immer das Problem der überproportionalen Belastung geringer und mittlerer Einkommen. „Deshalb sagen wir: Man muss das Grundproblem anpacken“, forderte Höll.
„Ökonomischen Humbug“ warf die Grünen-Finanzexpertin Lisa Paus dem Finanzminister vor. Das von Schäuble ausgemachte Problem im Steuerrecht habe es die letzten zehn Jahre nicht gegeben. Ihm gehe es nur um ein wohlklinkendes Etikett für seine Mini-Steuersenkung. Die Entlastungen für die geringen und mittleren Einkommen seien minimal, bei höherem Verdiensten gebe es höhere Entlastung.
„Die obersten zehn Prozent bekommen 30 Prozent vom gesamten Paket von 6,6 Milliarden Euro“, rechnete Paus vor und erklärte: „Wer hat, dem wird gegeben.“ Andererseits könnten die Länder die Steuerausfälle nicht verkraften. Berlin verliere 120 Millionen, Nordrhein-Westfalen eine halbe Milliarde Euro. Das werde Gebührenerhöhungen nach sich ziehen.
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) sagte dagegen, es gehe nicht an, dass bei jedem zusätzlich verdienten Euro 50 Prozent abgezogen werden würden. „Das kann nicht auf Dauer akzeptiert werden, und wir wollen das nicht akzeptieren“, sagte Flosbach und erinnerte: „Wir haben gesagt, was wir tun werden nach der Wahl, und jetzt tun wir, was wir gesagt haben.“
Flosbach fragte die SPD: „Wo sind Sie eigentlich angelangt, dass Sie untere und mittlere Einkommen nicht mehr entlasten wollen?“
Im dem an die zuständigen Ausschüsse überwiesenen Gesetzentwurf heißt es, im Verhältnis zur gezahlten Steuer werde die Entlastung der unteren Einkommensgruppen am größten sein. So werde ein alleinstehender Arbeitnehmer mit einem Jahresbruttolohn von 30.000 Euro aufgrund der Tarifänderung 2014 jährlich etwa 150 Euro weniger Steuern zahlen müssen als nach geltendem Recht.
Dies entspreche einer Entlastung von 3,4 Prozent seiner bisherigen Steuerzahllast von 4.328 Euro (Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag). Ein Arbeitnehmer mit einem Jahresbruttolohn von 60.000 Euro werde im Jahr 2014 dagegen nur 2,5 Prozent weniger Steuern zahlen müssen als nach geltendem Recht (bisherige Steuerbelastung 14.590 Euro). (hle)