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Der neue Bundespräsident Joachim Gauck hat die Menschen in Deutschland aufgerufen, sich nicht mit einer zunehmenden Distanz zwischen Regierenden und Regierten abzufinden. „Wir alle haben nichts von dieser Distanz“, sagte Gauck am Freitag, 23. März 2012, nach seiner Vereidigung in einer gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat im Plenarsaal des Berliner Reichstagsgebäudes. Den politisch Handelnden riet das elfte Staatsoberhaupt der Bundesrepublik, „offen und klar“ zu reden, damit verloren gegangenes Vertrauen wiedergewonnen werden könne. An die Bürger im Lande appellierte er, „Mitgestalter“ zu sein. Wer ohne Not auf Teilhabe verzichte, vergebe „eine der schönsten und größten Möglichkeiten des menschlichen Daseins: Verantwortung zu leben“.
Gauck würdigte die repräsentative Demokratie als einziges System, das geeignet sei, Gruppen- und Gemeinwohlinteressen auszugleichen. Neben den Parteien und anderen demokratischen Institutionen gebe es dabei als „zweite Stütze unserer Demokratie die aktive Bürgergesellschaft“ mit Bürgerinitiativen, Ad-hoc-Bewegungen und Teilen der „digitalen Netzgemeinde“, die mit ihrem Engagement und Protest die parlamentarische Demokratie ergänzten und Mängel ausglichen.
Entschieden erteilte der Bundespräsident allen extremistischen Bestrebungen eine klare Absage. Anders als in der Weimarer Republik verfüge Deutschland heute über genügend Demokraten, die „dem Ungeist von Fanatikern und Terroristen und Mordgesellen wehren“. Sie alle bezeugten: „Wir lassen uns unsere Demokratie nicht wegnehmen – wir stehen zu diesem Land!“
An die Adresse der „rechtsextremen Verächter unserer Demokratie“ betonte Gauck: „Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich! Wir schenken euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben."
In gleicher Weise werde man sich entschlossen gegen Extremisten anderer politischer Richtung wenden, fügte er hinzu. Auch denjenigen, die „unter dem Deckmantel der Religion Fanatismus und Terror ins Land tragen“ und hinter die europäische Aufklärung zurückfallen, werde man Einhalt gebieten. „Ihnen sagen wir: Die Völker ziehen in die Richtung der Freiheit."
Das Staatsoberhaupt hob zugleich die Notwendigkeit sozialer Gerechtigkeit hervor. Deutschland müsse Gerechtigkeit und Freiheit miteinander verbinden: „Freiheit als Bedingung von Gerechtigkeit und Gerechtigkeit als Bedingung dafür, Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen." Zudem mahnte er, in Deutschland sollten „alle zuhause sein können, die hier leben“. In der Bundesrepublik seien neben „die deutschsprachige und christliche Tradition Religionen wie der Islam getreten (...), auch andere Sprachen, andere Traditionen und Kulturen“.
Das Grundgesetz spreche allen Menschen dieselbe Würde zu, „ungeachtet dessen, woher sie kommen, woran sie glauben oder welche Sprache sie sprechen“, unterstrich Gauck. Der Staat lasse sich immer weniger durch nationale Zugehörigkeit seiner Bürger definieren, sondern durch ihre Zugehörigkeit zu einer politischen und ethischen Wertegemeinschaft. Das Gemeinwesen bestimme nicht ausschließlich „die über lange Zeit entstandene Schicksalsgemeinschaft, sondern zunehmend das Streben der Unterschiedlichen nach dem Gemeinsamen“.
Dieses Gemeinsame finde man in Deutschland und Europa, „indem wir in Freiheit, Frieden und in Solidarität miteinander leben wollen“, betonte der Bundespräsident weiter. Er mahnte, sich in Fragen des Zusammenlebens nicht von Ängsten und Ressentiments leiten zu lassen, und verwies darauf, dass sein Amtsvorgänger Christian Wulff „für eine einladende, offene Gesellschaft“ nachhaltige Impulse gegeben habe. Dieses Anliegen werde auch ihm „beständig am Herzen liegen“.
Nachdrücklich bekannte sich Gauck zum weiteren europäischen Integrationsprozess. Er sehe mit Freude, dass die Mehrheit der Deutschen „diesem europäischen Gedanken wieder und weiter Zukunft gibt“, sagte er. Dabei sei das europäische Miteinander „ohne den Lebensatem der Solidarität nicht gestaltbar“. Gerade in der Krise heiße es deshalb: „Wir wollen mehr Europa wagen."
Gauck hatte zuvor den Amtseid aus Artikel 56 des Grundgesetzes gesprochen: "Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“
Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert würdigte die Wahl und Vereidigung Gaucks eingangs als „ein weiteres, ein neues Kapitel“ der „deutschen Einheitsgeschichte“. Er verwies darauf, dass der gebürtige Rostocker der erste Bundespräsident sei, der nicht aus dem Westen komme und nicht direkt aus einem anderen hohen politischen Amt.
„Es zeigt den eben doch unaufhaltsamen Fortschritt der inneren Einheit unseres geeinten Landes, dass Joachim Gauck das erste Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland ist, das in der DDR aufgewachsen ist“, betonte der Parlamentspräsident, der unter den Gästen auch die früheren Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker, Prof. Dr. Roman Herzog und Prof. Dr. Horst Köhler begrüßte.
Lammert erinnerte daran, dass Gauck als erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen „konsequent zur Aufarbeitung der SED-Diktatur mit den Mitteln des Rechtsstaates“ beigetragen habe. Für Gauck sei es dabei stets handlungsleitend gewesen, „wo immer möglich zurückzugeben oder wiederherzustellen, was in der Diktatur vielen genommen worden war: die Würde des Menschen“. Sie sei zu Gaucks Lebensthema geworden.
Die Würde des Menschen umfasse nicht nur, aber doch wesentlich die Freiheit, betonte Lammert. Politisch bedeute sie in einer pluralistisch verfassten Gesellschaft, dass es neben dem eigenen Standpunkt stets auch andere berechtigte Meinungen geben darf. Demokratie sei kein Verfahren zur Vermeidung von Streit, sondern zur fairen Austragung unterschiedlicher Interessen und Meinungen. Auch ein von großem Konsens getragener Bundespräsident könne den „unverzichtbaren Grundkonsens für den legitimen Streit in unserer Gesellschaft nicht alleine stiften und bewahren“, aber er könne durch die Autorität seines Amtes wie der Person wesentlich dazu beitragen.
Dabei würden Ämter von Menschen ausgefüllt, die „mit dem Amt zwar Verantwortung übernehmen, aber durch das Amt weder unfehlbar noch unantastbar werden“ , sagte der Bundestagspräsident weiter. Einen Anspruch auf Respekt und Würde hätten im demokratischen Rechtsstaat nicht nur Staatsoberhäupter, aber dieser Anspruch müsse auch für diejenigen gelten, „die – durch Wahlen legitimiert – für begrenzte Zeit hohe Ämter in und für diesen Staat ausüben“.
Wer ein Amt übernehme, brauche das Vertrauen der Menschen, die er vertreten soll. Gauck genieße dieses Vertrauen, unterstrich Lammert und wünschte dem neuen Bundespräsidenten bei seiner Amtsführung „eine stets glückliche Hand zum Wohle der Menschen in unserem Land“. Zugleich dankte der Parlamentspräsident Gaucks am 17. Februar zurückgetretenen Amtsvorgänger Christian Wulff „nicht nur für manche nachwirkenden Initiativen und Impulse seiner Amtszeit als Bundespräsident“, sondern auch für das, was der frühere niedersächsische Ministerpräsident „in drei Jahrzehnten politischer Arbeit für seine Heimatstadt , für Niedersachsen und für unser Land geleistet hat“.
Der Bundesratspräsident und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer dankte dem früheren Bundespräsidenten Christian Wulff für seine Leistungen. „Sie haben in Ihrer Amtszeit wichtige Impulse für das Miteinander und die Integration gesetzt – Impulse, die bleiben werden“, sagte Seehofer. Es sei Wulff stets um ein Land gegangen, das offen ist gegenüber der Vielfalt der Kulturen und das sich der Welt zuwendet, betonte Seehofer, der in seiner Eigenschaft als Bundesratspräsident die Amtsgeschäfte des Bundespräsidenten nach dem Rücktritt Wulffs vier Wochen lang geführt hatte.
In Erinnerung bleibe Wulffs „mutiges Eintreten für die Grundwerte einer offenen Gesellschaft wie Toleranz, Religionsfreiheit und Menschenrechte“, betonte Seehofer und schloss: „Ich danke Ihnen für das, was Sie für Deutschland geleistet haben, in unserem Land und in der ganzen Welt.“
Die Wahl von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten am vergangenen Sonntag nannte Seehofer „23 Jahre nach dem Fall der Mauer“ einen „wichtige Meilenstein“. Gauck stehe wie kaum ein anderer für den Satz des Herbstes 1989: „Wir sind ein Volk“, unterstrich Seehofer.
Gauck werbe für eine Freiheit, die sich stets an das Gemeinwohl binde. Er glaube an die Kraft des einzelnen Menschen und stehe für Respekt und den würdevollen Umgang miteinander. „Genau deshalb sind Sie zum Bundespräsident gewählt worden“, sagte Seehofer. „Ich wünsche Ihnen Glück und Erfolg mit Gottes Segen.“
Gauck war am Sonntag, 18. März, von der 15. Bundesversammlung zum elften Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden. Der 72-jährige gebürtige Rostocker und frühere Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde war von CDU, CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen für die Nachfolge des zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff nominiert worden.
Auf ihn entfielen 991 von 1.232 abgegebenen Stimmen. Seine Gegenkandidatin Beate Klarsfeld, die von der Partei Die Linke als Kandidatin benannt worden war, erhielt 126 Stimmen, der NPD-Bewerber Dr. Olaf Rose drei. 108 Wahlleute enthielten sich. Vier Stimmen waren ungültig. (sto/ahe)