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"Die Aufarbeitung der SED-Diktatur durch die beiden Enquete-Kommissionen des Bundestages hat einen Beitrag zur inneren Einheit Deutschlands geleistet": Mit diesen Worten würdigte Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert am Dienstag, 8. Mai 2012, die Leistung dieser beiden Gremien bei einer Podiumsdiskussion. Anlass war der 20. Jahrestag der Arbeitsaufnahme des ersten dieser beiden Gremien. Aus Sicht Lammerts bleibt die Aufklärung über die DDR ein "dauerhaftes öffentliches Anliegen", dem sich die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur widme.
Für den ehemaligen DDR-Oppositionellen, seinerzeitigen Ausschussvorsitzenden und heutigen Stiftungschef Rainer Eppelmann lässt sich aus der DDR-Geschichte und aus deren kritischer Analyse im Bundestag zwischen 1992 und 1998 "für die Zukunft lernen", dass es in Deutschland "nie wieder eine Diktatur" geben dürfe, "unter welchen Vorzeichen auch immer".
Gerd Poppe warnte vor Tendenzen zu einer "Verklärung der DDR", die inzwischen zu beobachten seien: Die SED-Herrschaft sei "uneingeschränkt eine Diktatur" gewesen, betonte der frühere DDR-Bürgerrechtler.
Die Festveranstaltung, bei der zahlreiche Ex-Mitglieder und einstige Mitarbeiter der beiden Gremien erschienen waren, fand im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Bundestages statt, wo "eine Brücke über den einstigen Todesstreifen geschlagen wird", so Stiftungs-Geschäftsführerin Anna Kaminsky.
Lammert sagte, keine andere Enquete-Kommission des Bundestages habe so viele praktische Ergebnisse erzielt wie diese beiden. Er nannte die Einrichtung der Stiftung und mehrere konkrete Gesetzesinitiativen etwa zur Aufhebung von in der DDR gefällten "Unrechtsurteilen", zu Haftentschädigungen, zur Beseitigung von Ungerechtigkeiten im Rentenrecht oder zur Zahlung von Pensionen an Opfer der SED-Diktatur.
Die damals vom Bundestag geleistete Aufklärung habe Anstöße für ähnliche Bemühungen in osteuropäischen Ländern gegeben, so Lammert. Dort habe man lange gezögert, sagte Rainer Eppelmann, "diese heiße Kartoffel anzufassen".
Prof. Dr. Rita Süssmuth, in den neunziger Jahren Bundestagspräsidentin, hob ebenfalls hervor, dass das "glänzende Ergebnis" der zwei Enquete-Kommissionen "weltweit wahrgenommen wurde". Die CDU-Politikerin: "Wir haben eine Menge gelernt, auch über Fehler, die bei der Wende gemacht wurden."
Markus Meckel unterstrich, dass die beiden Gremien die Alternative zu einem seinerzeit in den neuen Ländern vielfach geforderten "Tribunal" über einzelne Verantwortliche der SED-Diktatur gewesen sei. Der SPD-Obmann in den beiden Kommissionen erinnerte daran, "dass es auch viel Streit gab".
So habe bei der SPD eine gewisse Angst vor einer Hinterfragung der Entspannungspolitik geherrscht, während sich die Union vor einem kritischen Blick auf die DDR-Blockparteien gefürchtet habe, die in der CDU und in der FDP aufgegangen waren.
Der Wissenschaftler Prof. Dr. Manfred Wilke würdigte den Erfolg der Enquete-Kommissionen beim Bemühen um eine langfristig angelegte öffentliche Erinnerung, mittlerweile existiere in Berlin ein großes "Gedenkstättenensemble" zur Mahnung an beide deutsche Diktaturen.
Der frühere Ko-Chef des Forschungsverbunds SED-Staat an der Freien Universität Berlin würdigte als Leistung der Enquete-Tätigkeit auch die Durchleuchtung der Rolle der evangelischen Kirche in der DDR: Zwar seien viele "Kirchenjuristen" mit der Stasi verbunden gewesen, doch die Gemeinden an der Basis hätten dagegengehalten und Bürgerrechtlern eine Basis geboten.
Gerd Poppe zählte zu den Höhepunkten der damaligen Kommissionsarbeit den Auftritt von Prof. Dr. Jürgen Habermas, der in der Rückschau auf beide deutschen Diktaturen von einem "antitotalitären Konsens" gesprochen habe, der heute in der Bundesrepublik möglich sei.
Im Blick auf die DDR und die Nazi-Herrschaft erklärte der Ex-Bürgerrechtler, ein Diktaturvergleich müsse möglich sein. Dafür werde man mittlerweile "fast gescholten", sagte Poppe unter dem Beifall des Publikums. Er beklagte, dass die Diktatur in der DDR nicht mehr Diktatur genannt werde, sondern Begriffe wie "kommode Diktatur", "Fürsorgediktatur" oder "Konsensdiktatur" im Umlauf seien.
Prof. Dr. Ludwig Elm betonte, die PDS habe seinerzeit die beiden Kommissionen bejaht und sich bei der Abstimmung über die Schaffung der Stiftung nur deshalb enthalten, weil sie aus dem Stiftungsrat ausgeschlossen worden sei. Der Obmann seiner Fraktion im zweiten Gremium sagte, eine kritische Auseinandersetzung mit der Entwicklung in der DDR sei "berechtigt und überfällig" gewesen.
An den Ergebnissen der beiden Kommissionen bemängelte der Historiker, dass darin die "gesamte DDR-Lebenswirklichkeit nur unzulänglich wiedergespiegelt" werde. Zudem wandte sich Elm gegen eine "Parallelisierung" zwischen der DDR und der NS-Diktatur. Dadurch werde Letztere "verharmlost", während Erstere "dämonisiert" werde.
Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk kritisierte unter Applaus, dass es inzwischen "ein Wunder ist, wenn man sich in Universitätsseminaren überhaupt mit der DDR befasst".
Die 32 Bände mit ihren 30.000 Seiten als gewaltiges Resultat der Kommissionstätigkeit "werden in der Wissenschaft kaum bearbeitet", beklagte der Historiker, der als Sachverständiger in der zweiten Kommission mitgewirkt hatte. (kos)