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Der NSU-Untersuchungsausschuss hat Einsicht in die noch existenten Akten über die "Operation Rennsteig" in der Berliner Außenstelle des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) genommen. "Die rekonstruierten Informationen lassen darauf schließen, dass keiner der eingesetzten V-Leute auf der Liste der beschuldigten Personen steht, die als Mitwisser oder Angehörige des NSU gelten", sagte der Vorsitzende des Ausschusses, Sebastian Edathy (SPD), am Mittwoch, 4. Juli 2012. Zwischen 1996 und 2003 hatten das Bundes- und das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz sowie der Militärische Abschirmdienst (MAD) im Umfeld des "Thüringer Heimatschutzes", bei dem das NSU-Trio bis zum Abtauchen 1998 mitgemischt hat, mehrere Informanten — sogenannte V-Leute — im Einsatz. Aus den Akten geht hervor, dass "insgesamt acht V-Leute tatsächlich geführt wurden. Jedoch nur eine Akte sei vollständig vorgefunden worden. Die restlichen Akten waren der "überraschenden Vernichtung im November 2011 zum Opfer gefallen."
Den Abgeordneten seien 45 Aktenordner vorgelegt worden. "Aufgrund der kurzen Zeit konnten wir diese nicht vollständig durchsehen". Insgesamt 18 Ordner gaben Auskunft über Personen, die vom Verfassungsschutz angeworben werden sollten oder verpflichtet wurden. Edathy stellte fest, dass die Ordner dem Untersuchungsausschuss hätten längst zugestellt werden müssen.
"Denn die Schredderaktion des Verfassungsschutzes hat das Vertrauen in die Behörde erschüttert", sagte Clemens Binninger (CDU/CSU), der hervorhob, dass die Gelegenheit, "die wir heute bekommen haben, einmalig in der Geschichte der Innenpolitik in Deutschland ist". Doch der Einblick sei aufgrund der Vernichtung der Akten auch notwendig gewesen. "Wir erwarten, dass die Akten uns vollzählig für eine vollständige Auswertung vorgelegt werden", forderte Binninger.
Für Dr. Eva Högl (SPD) war die Akteneinsicht zudem wichtig, "um Verschwörungstheorien den Boden zu entziehen". Sie kritisierte aber, dass die Akten, die den Ausschussmitgliedern nun ungeschwärzt vorgelegt wurden, nicht identisch mit den geschwärzten Akten gewesen seien, die bereits bekannt sind. Weitere Einsichtnahmen seien deshalb unumgänglich.
Nach Ansicht von Hartfrid Wolff (FDP) ergibt sich bisher noch kein "vernünftiges Gesamtbild" aufgrund zu weniger Informationen. Es müsse weiter geprüft werden, ob dem Militärischen Abschirmdienst oder dem Verfassungsschutz Thüringens weitere Akten vorliegen. "Jetzt werden noch mehr Fragen zu beantworten sein", sagte er. Deshalb werde die Vernehmung des Zeugen Heinz Fromm, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, in der nächsten Sitzung am Donnerstag, 5. Juli 2012, von Bedeutung sein.
Wenig zuversichtlich zeigte sich Petra Pau (Die Linke), dass nicht doch Informanten des Verfassungsschutzes oder einer anderen Behörde zum näheren Kreis des NSU-Mördertrios gehörten, denn "es kann keine Rede von einer Transparenzoffensive des Verfassungsschutzes sein". Eine ordentliche Auswertung der Akten wäre nicht möglich gewesen. "Und es stellt sich die Frage danach, ob es stimmt, dass bestimmte Quellen gar nicht Bestandteil der offiziellen Aktenführung sind", sagte Pau.
Grünen-Obmann Wolfgang Wieland pflichtete bei, denn eine vollständige Entwarnung könne nicht gegeben werden, weil aus operativen Gründen nicht alle angeworbenen V-Leute in den Akten geführt worden sein sollen. "Wenn ich keine vollständige Passagierliste eines Flugzeuges habe, kann ich auch nicht sagen, wer alles in dem Flugzeug gesessen hat", sagte er mit Blick auf die lückenhaften Akten.
Auch sei mit der Möglichkeit der Einsicht in die Akten das Schreddern nicht geheilt. "Die Rekonstruktion ist bruchstückhaft, doch der Inhalt wäre für uns wichtig gewesen", sagte Wieland. Bereits am Dienstag, 3. Juli, hatte das Gremium überraschend beschlossen, kurzfristig zur nächsten Sitzung des Untersuchungsausschusses am Donnerstag, 5. Juli, jenen BfV-Referatsleiter vorzuladen, der die Verschredderung der Unterlagen wenige Tage nach dem Auffliegen der NSU-Zelle im Herbst 2011 angeordnet hatte. Allerdings kann dieser Zeuge wegen des gegen ihn laufenden Disziplinarverfahrens die Aussage verweigern.
"Er wird darzulegen haben, warum er es getan hat", sagte Wieland. Er forderte die vollständige Aufklärung. "Es wird spannend werden, ob man sie uns geben kann." Der Referatsleiter soll am 5. Juli im Untersuchungsausschuss noch vor Heinz Fromm, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, befragt werden, der sich im Zuge der kritischen Debatte über die Rolle der Bundesbehörde bei den Ermittlungen zur Mordserie und über das Schreddern der Unterlagen von seinem Amt als Präsident des Inlandsgeheimdiensts zurückzieht.
Edathy hatte sich bereits in der Sitzung am Dienstag "sehr verärgert" gezeigt, dass der Ausschuss bislang nicht umfassend über die "Operation Rennsteig" unterrichtet worden sei: "Jetzt muss Klartext geredet werden." Wolfgang Wieland monierte, dass die Gewinnung und Führung der V-Leute offenbar nur unvollständig dokumentiert worden seien, und fragte, ob auch versucht worden sei, im NSU-Umfeld Spitzel anzuwerben.
SPD-Sprecherin Eva Högl bezeichnete die Aktenvernichtung als "unglaublichen Skandal". Es müsse geklärt werden, ob es "Dusseligkeit" oder "Vorsatz" war.
Aus Sicht von Clemens Binninger (CDU/CSU) ist dieser Vorgang geeignet, "das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden zu erschüttern". Der Unionsobmann warnte indes davor, nur Fromm zum "Sündenbock" zu machen. Für die FDP sagte Hartfrid Wolff, mit den Akten sei auch das "Vertrauen in den Aufklärungswillen des Verfassungsschutzes geschreddert worden". Petra Pau (Die Linke) meinte, die Vernichtung der Dokumente allein könne Fromms Rücktritt wohl nicht rechtfertigen: "Was geschah noch?" Die Linken-Obfrau warf dem MAD vor, seine Akten zum NSU bisher nicht an den Ausschuss zu übermitteln. Das sei ein "Skandal".
Högl erklärte, Fromms Rückzug verdiene Respekt, der BfV-Präsident sei ein "engagierter Kämpfer gegen den Rechtsextremismus" gewesen. Wieland gab sich überzeugt, dass Fromms Abgang "nicht der letzte Rücktritt" sein werde, auch die "Staatssekretärs- und Ministerebene" könne noch betroffen sein.
Die Zeugenvernehmung am Dienstag steht im Zeichen von drei Attentaten in Nordrhein-Westfalen, für die der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) verantwortlich gemacht wird. Auch auf mehrere Nachfragen aus den Reihen der Abgeordneten hin betonte Edgar Mittler, bei dem Kölner Sprengstoffanschlag vom Januar 2001 auf ein Lebensmittelgeschäft mit einer verletzten 19-jährigen Iranerin hätten keinerlei Hinweise auf ein rechtsextremes Motiv existiert. Auch der Staatsschutz haben keinen politischen Hintergrund gefunden, so der einst für die Aufklärung dieses Falls zuständige Polizist.
Ein Vergleich mit anderen Sprengstoffattentaten habe ebenfalls keine brauchbaren Spuren ergeben. Da alle Untersuchungen, so etwa im Blick auf Streit des Familienvaters mit einem Bauunternehmer oder auf den iranischen Geheimdienst erfolglos geblieben seien, habe man die Ermittlungen im Juni 2001 eingestellt. Mittler sagte, ihm sei damals nicht bekannt gewesen, dass nach der untergetauchten NSU-Zelle, bei der eine Bombenwerkstatt entdeckt worden war, bundesweit gesucht wurde. Der Zeuge äußerte rückblickend Unverständnis, warum er darüber nicht informiert worden sei.
Mehrfach kritisierten Abgeordnete, dass nicht nachdrücklicher ein rechtsextremer Hintergrund als mögliches Motiv in Betracht gezogen worden sei. Binninger erklärte, eine gründlichere Sprengstoffanalyse bei diesem Fall wie vor allem beim Kölner Nagelbombenattentat vom Juni 2004 mit 22 Verletzten samt genauem Abgleich mit ähnlichen Vorfällen in entsprechenden Dateien hätte zum NSU führen können.
Nach Mittler wollte der Ausschuss bis zum Abend noch drei weitere Zeugen zum Nagelbombenanschlag und zur Ermordung eines türkischstämmigen Kioskbetreibers in Dortmund im April 2006 vernehmen.
Der Untersuchungsausschuss, der Pannen und Fehlgriffe bei den Ermittlungen zu der inzwischen dem "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) angelasteten Mordserie durchleuchten soll, dringt auf eine schnelle Aufklärung der Affäre um die Vernichtung von Akten über die NSU-Zelle durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Das NSU-Trio soll verantwortlich sein für die Erschießung von neun türkisch- oder griechischstämmigen Unternehmern sowie einer Polizistin.
Die nächste Sitzungen am Donnerstag, 5. Juli 2012, beginnt um 9 Uhr im Europasaal 4.900 im Paul-Löbe-Haus in Berlin. Unter den geladenen Zeugen ist Heinz Fromm, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz. Fromm hat am Montag, 2. Juli 2012, um seine Entlassung gebeten und wird zum Ende des Monats in den Ruhestand versetzt. Gehört wird an diesem Tag auch Wolfgang Cremer, der früher an der Spitze der Abteilung Rechtsextremismus in dieser Bundesbehörde stand. Befragt wird zudem Oberst H., der Chef der Abteilung Extremismus- und Terrorismusabwehr beim Militärischen Abschirmdienst (MAD). (kos/eis)
Zeit: Donnerstag, 5. Juli, 9 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Europasaal 4.900
Interessierte Besucher können sich im Sekretariat des Unterausschusses unter Angabe des Vor- und Zunamens sowie des Geburtstags und des Datums der öffentlichen Sitzung anmelden (E-Mail: 2.untersuchungsausschuss@bundestag.de, Fax: 030/227-30084). Zur Sitzung muss ein Personaldokument mitgebracht werden.
Bild- und Tonberichterstatter können sich beim Pressereferat (Telefon: 030/227-32929 oder 32924) anmelden.