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Nach hitziger Debatte hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats mit dem denkbar knappsten Abstimmungsresultat entschieden, sich weiterhin für die Freilassung politischer Gefangener zu engagieren. Durchgesetzt hat sich damit Berichterstatter Christoph Strässer (SPD). Nur mit einer 89:89-Stimmengleichheit ist am Mittwoch, 3. Oktober 2012, bei der Herbstsession des Europaratsparlaments in spannungsgeladener Atmosphäre der Antrag gescheitert, der Volksvertretung des Abgeordnetenhauses die Zuständigkeit für die Frage politischer Gefangener zu entziehen und ausschließlich dem Straßburger Menschenrechtsgerichtshof den Auftrag zur Definition dieses Begriffs zu übertragen. Die erforderliche Mehrheit von zumindest einer Stimme wurde damit nur um Haaresbreite verfehlt. Hinter dem gegen einen Bericht des deutschen Abgeordneten Christoph Strässer gerichteten Vorstoß stand vor allem Aserbaidschan, das besonders von russischen, türkischen und spanischen Parlamentariern unterstützt wurde.
Bei der Wintersitzung des Europaratsparlaments soll über politische Gefangene in Aserbaidschan diskutiert werden, wo auf der Basis des fortan für die Volksvertretung des Staatenbunds geltenden Kriterienkatalogs nach Schätzungen des Straßburger Rechtsausschusses und Strässers rund 50 Journalisten, Bürgerrechtler und Oppositionspolitiker aus politischen Grünen einsitzen.
Der deutsche Abgeordnete erarbeitet auch diesen Bericht für die Januartagung. Nach der Kampfabstimmung vom Mittwochabend erklärte der SPD-Politiker, er hoffe, Aserbaidschan werde ihm jetzt das bislang verweigerte Visum für eine Inspektionsreise vor Ort gewähren.
Laut der von Strässer mit Hilfe seiner Unterstützer letztlich durchgesetzten Definition, die auf einer älteren Begriffsbestimmung des Europarats fußt, werden Häftlinge dann als politische Gefangene eingestuft, wenn sie wegen der Wahrnehmung von demokratischen Grundrechten wie der Versammlungs-, Demonstrations-, Presse- und Meinungsfreiheit verurteilt wurden. Dies trifft auch dann zu, wenn die Betroffenen wegen Delikten wie Erpressung, Bestechung, Rowdytum, Steuerbetrug, Verleumdung oder Drogenbesitz angeklagt wurden, diese Vorwürfe sich bei näherer Überprüfung durch unabhängige Fachleute aber lediglich als Vorwand herausstellen.
Als fragwürdig gelten Urteile auch dann, wenn die Prozesse nicht nach rechtsstaatlichen Normen ablaufen, Zeugenaussagen manipuliert werden und unverhältnismäßig harte Strafen verhängt werden. Im Falle von Terrorakten erkennt das Europaratsparlament indes den Status des politischen Gefangenen ausdrücklich nicht an. Die entsprechenden Prozesse müssten aber den vom Menschenrechtsgerichtshof vorgegebenen rechtsstaatlichen Standards gerecht werden.
Vor der Abstimmung hatte Strässer eindringlich für seinen Kriterienkatalog geworben und davor gewarnt, dem Parlament die Zuständigkeit für diese ureigene Aufgabe des Europarats zu entziehen und dem Gerichtshof zu übertragen – mit diesem Begehren hatten sich seine Gegner unmittelbar vor der Plenardebatte noch im Rechtsausschuss überraschend mit 30 gegen 28 Stimmen durchgesetzt.
Der SPD-Abgeordnete mahnte, dass sich bei einer Verlagerung des Themas politische Gefangene zum Gerichtshof "die Parlamentarische Versammlung de facto in hohem Maße selbst abschafft, dann können wir unsere Koffer packen und in Urlaub fahren". Dies käme einer "Selbstentmündigung" gleich. Im Blick auf politische Gefangene appellierte der Berichterstatter an die Abgeordneten, "ein deutliches Signal auszusenden, dass wir an der Seite jener stehen, die uns brauchen".
In der Plenardebatte stritten die Kontrahenten erbittert. Die FDP-Parlamentarierin Marina Schuster kritisierte, die "Lobbyarbeit Aserbaidschans grenzt an Dreistigkeit". Auch der Armenier Armen Rustamian monierte die Obstruktionspolitik dieses Landes. Viola von Cramon-Taubadel (Bündnis 90/Die Grünen) warf den Aseris und ihren Unterstützern vor, gegen Strässer mit "bösartigen persönlichen Anfeindungen" vorzugehen.
Sie griff besonders den Türken Mevlüt Cavusoglu an, der immmerhin ein Ex-Präsident des Straßburger Parlaments sei und dessen Kampf gegen Strässers Bericht sie "fassungslos" mache. Die estnische Abgeordnete Mailis Reps warnte vor der "Katastrophe" einer Ablehnung der Resolution: "Wir dürfen nicht die Botschaft vermitteln, uns interessiere das Schicksal politischer Gefangener nicht." Der Italiener Pietro Marcenaro rief aus: "Es ist unsere Pflicht, für politische Gefangene Flagge zu zeigen."
Ebenfalls mit Entschiedenheit engagierte sich im Plenum die Gegenseite, die anstelle des Parlaments den Menschenrechtsgerichtshof mit dem Thema politische Gefangene befassen wollte. Cavusoglu bezeichnete Strässers Kriterien als "Unsinn". Der Ukrainer Oleksi Plotnikow sagte ohne Namensnennung, aber unter Anspielung auf die inhaftierte Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, wer Amtsmissbrauch begehe, sei "ein Verbrecher und kein politischer Gefangener".
Der Spanier Petro Agramunt befürchtete, nach der Definition des Europaratsparlaments werde die Einstufung von ETA-Terroristen als politische Gefangene möglich. Der Russe Alexej Knischow argumentierte, künftig könne "jeder Straftäter reklamieren, er sei aus politischen Motiven inhaftiert". Der russische Delegierte Leonid Slutski monierte, den Status eines politischen Gefangenen würden künftig auch Terroristen und Drogendealer beanspruchen. (kos/04.10.2012)