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60 Jahre Bundestagsgeschichte – das sind 16 Legislaturperioden, acht Bundeskanzler und unzählige Reden, die im Plenum des Parlaments gehalten wurden. Einige Debatten in dieser Zeit waren besonders kontrovers, wie etwa die über die Frage der Wiederbewaffnung Deutschlands 1952 oder die der Ostverträge 1972. Ein Streifzug durch die bedeutendsten Entscheidungen und Dispute der bisherigen 16 Wahlperioden.
Es war eine Frage, die Politik, Justiz und Öffentlichkeit Mitte der sechziger Jahre stark bewegte: Dürfen nationalsozialistische Verbrechen verjähren? Und wenn ja, wann? Nach geltendem Recht in der Bundesrepublik trat für die Straftaten des nationalsozialistischen Terrorregimes am 8. Mai 1965 – und damit 20 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation – die Verjährung ein. Doch das empörte viele. Sollten die Täter tatsächlich ungestraft davonkommen? Hitzig wurde gerade auch in der Presse über eine Aufhebung oder Verlängerung dieser Verjährungsfrist gestritten. Während sich die SPD dafür aussprach, lehnte die schwarz-gelbe Regierungskoalition beides wegen des im Grundgesetz verankerten Verbots rückwirkender Gesetze ab.
Meinungsforscher sahen in der Bevölkerung eine knappe Mehrheit für den Eintritt der Verjährung. Doch international gab es Protest: Nicht nur Israel übte offen Kritik, sondern auch die USA und die Sowjetunion. 1964 hatte bereits die DDR ein Gesetz zur Nichtverjährung von Kriegs- und nationalsozialistischen Verbrechen verabschiedet, die Bundesrepublik geriet so zunehmend unter Handlungsdruck. Zwischen 1960 und 1979 befasste sich der Bundestag insgesamt viermal mit der Frage der Verjährung: Als ein wichtiger Schritt der Vergangenheitsbewältigung und eine "Sternstunde des Parlaments" gilt aber bis heute insbesondere die Plenardebatte am 10. März 1965.
Als Bundesjustizminister Ewald Bucher (FDP) als erster Redner das Wort ergriff, war das der Auftakt zu einer über mehrere Stunden und weite Strecken emotionalen und fairen Debatte, in der die Abgeordneten frei von Fraktionsdisziplin sprachen.
Doch obwohl sich viele um Einmütigkeit bemühten, waren die gegensätzlichen Standpunkte kaum zu überbrücken: Den einen war die Vorstellung unerträglich, die ungesühnten Massentötungen der Nationalsozialisten und den Völkermord verjähren zu lassen. Die anderen sahen die Grundsätze des Rechtsstaats, der ja gerade als Antwort auf das Unrechtsregime des "Dritten Reichs" geschaffen worden war, verletzt, wenn ein erloschener Strafanspruch rückwirkend geltend gemacht würde.
Der CDU/CSU-Abgeordnete Ernst Benda gehörte zu denen in seiner Fraktion, die in einem Antrag eine Verlängerung oder Aufhebung der Verjährungsfrist forderten. Als Grund für diese Initiative betonte der damalige Nachwuchspolitiker politisch-moralische Motive. Er spüre den "Druck der eigenen Überzeugung", so Benda.
Doch er verteidigte auch juristische Argumente: Niemandem, der diese Meinung mit rechtsstaatlichen Grundsätzen begründe, solle man unterstellen, er schöbe diese Argumente nur vor. Dennoch sei die Aufhebung der Verjährungsfrist notwenig. "Das Rechtsgefühl eines Volkes würde korrumpiert, wenn die Morde ungesühnt bleiben müssten, obwohl sie gesühnt werden könnten", sagte der spätere Bundesverfassungsrichter Benda.
Martin Hirsch (SPD) lobte seinen Vorredner "als Sprecher der jungen deutschen Generation". Er selbst sei nun in der "glücklichen Lage, jedem Wort zustimmen zu können", das Benda gesagt habe.
Denn auch die Sozialdemokraten hätten einen Antrag vorgelegt, der das Strafgesetz dahingehend ändern wolle, die Verjährungsfrist für Mörder aufzuheben. Ein zweiter Antrag, der darüber hinaus eine Grundgesetzänderung vorsehe, solle diese Neuerung absichern.
Der Redebeitrag von Rainer Barzel trübte jedoch die Einmütigkeit. Einer grundsätzlichen Aufhebung der Verjährungsfrist erteilte der CDU-Politiker eine Absage: Durch den zeitlichen Abstand könne die "Gefahr einer unbefriedigenden Rechtssprechung" nicht ausgeschlossen werden, sagte Barzel.
Außerdem hätten viele "gerade wegen einer bösen Erfahrung Hemmungen gegenüber dem Problem besonderer Gesetzgebung". Lediglich eine Hinausschiebung des Beginns der Verjährungsfristen könne er unterstützen.
Gegen die Anträge argumentierte auch Bundesjustizminister Bucher, der, als er ein zweites Mal ans Rednerpult trat, ausdrücklich nicht im Namen der Bundesregierung sprach. Man müsse entscheiden, ob man dem "Ruf nach lückenloser Sühne" folgen oder dem "rechtsstaatlichen Satz treu bleiben wolle, wonach jedes rückwirkende Gesetz im Strafrecht "von Übel ist", sagte der FDP-Politiker.
Beide Grundsätze hätten zwar Verfassungsrang. Dennoch sei es fraglich, ob der Gerechtigkeit durch Fristverlängerung wirklich "zum Sieg" verholfen werden könne. Schon jetzt stünden die Gerichte aufgrund fehlender Zeugen und fragmentarischer Datenlage bei NS-Verfahren vor "immer unlösbareren Aufgaben". Wir müssen mit den Mördern leben", sagte Bucher. "Wir müssen es."
Am 23. März 1965 beschloss der Bundestag dann nach einer weiteren Beratung im Rechtsausschuss, den Beginn der Verjährungsfrist auf den 1. Januar 1950 festzulegen. Die strafrechtliche Ahndung für NS-Morde war damit bis zum Ende des Jahres 1969 möglich Bundesjustizminister Bucher, der sich mit seinem Votum für die Beibehaltung der Verjährung nicht hatte durchsetzen können, trat daraufhin zurück.
Der 1965 gefundene Kompromiss löste jedoch das Problem nicht endgültig. Erst nach erneuter Diskussion hob das Parlament am 26. Juni 1969 die Verjährung für Völkermord auf. Seit 1979 ist in der Bundesrepublik Mord von jeglicher Verjährungsfrist ausgenommen.