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60 Jahre Bundestagsgeschichte - das sind 16 Legislaturperioden, acht Bundeskanzler und unzählige Reden, die im Plenum des Parlaments gehalten wurden. Einige Debatten in dieser Zeit waren besonders kontrovers, wie etwa die über die Frage der Wiederbewaffnung Deutschlands 1952 oder die der Ostverträge 1972. Ein Streifzug durch die bedeutendsten Dispute und Entscheidungen der bisherigen 16 Wahlperioden.
Jahrzehntelang schien eine Lösung der sogenannten deutschen Frage in weiter Ferne, war es offen, ob es überhaupt zu einer Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands kommen könne. Doch nachdem am 9. November 1989 die DDR-Führung vor den Demonstranten kapituliert und die Grenzen nach Westdeutschland geöffnet hatte, änderte sich dies schlagartig: Im Frühjahr 1990 kreiste die öffentliche Debatte in Ost- und Westdeutschland weniger um das "ob" der deutschen Einheit als um das "wie" und "wann". Im Zentrum der Diskussion, die in diesen Wochen in Politik, Wissenschaft und Medien heftig geführt wurde und insbesondere auch den Wahlkampf vor den DDR-Volkskammerwahlen am 18. März 1990 dominierte, stand vor allem die Frage, ob die angestrebte Wiedervereinigung besser durch einen Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes geschehen sollte oder über eine neue, vom gesamten deutschen Volk beschlossene Verfassung.
Verfassungsrechtlich gesehen waren beide Wege der Vereinigung möglich: Artikel 23 des Grundgesetzes eröffnete die Möglichkeit, das Grundgesetz in anderen Teilen Deutschlands nach deren Beitritt in Kraft zu setzen, während Artikel 146 feststellt, dass das Grundgesetz seine Gültigkeit an dem Tage verliert, an dem eine vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossene Verfassung in Kraft tritt. Insbesondere die SPD, aber auch die Bürgerrechtsbewegung in der DDR, befürwortete letztere Variante. Nur durch einen Volksentscheid, so argumentierten sie, könne die Zustimmung des gesamten deutschen Volkes zur Wiedervereinigung gewährleistet werden. Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes werde nur dann realisiert, wenn die Bürgerinnen und Bürger nach einer öffentlichen Diskussion über die neue gemeinsamen Verfassung selbst abstimmen könnten. Die Verwirklichung der deutschen Einheit setze in Ost und West die Bildung einer gemeinsamen deutschen Identität voraus. Hierzu könne die Abstimmung über eine neue Verfassung einen wesentlichen Beitrag leisten. Einen Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes betrachteten viele Sozialdemokraten als "Annexion".
Für einen Beitritt nach Artikel 23 GG sprach sich im Vorfeld der Volkskammerwahlen vor allem die (West-)CDU und die "Allianz für Deutschland" aus, ein Wahlbündnis aus CDU-Ost, Deutscher Sozialer Union (DSU) und Demokratischem Aufbruch (DA). Nur so sei eine rasche Vereinigung der beiden deutschen Staaten möglich. Die historische Chance zur Wiedervereinigung biete sich nur für eine kurze Zeit, fürchteten etwa die Verhandlungsführer in Ost und West. Gewichtige Stimmen wiesen zudem darauf hin, dass das Grundgesetz bereits "das Optimum des bisher in Deutschland und anderswo Erreichten" darstelle, wie der Journalist Robert Leicht in der ZEIT schrieb. Laut Präambel sei das Grundgesetz darüber hinaus von Anfang an auch für diejenigen bestimmt gewesen, denen "mitzuwirken versagt geblieben war", betonte der Bonner Verfassungsrechtler Josef Isensee unter Hinweis auf die Präambel des Grundgesetzes von 1949.
Letztlich waren es aber nicht solche verfassungstheoretischen Überlegungen, die den Ausschlag gaben: Dass der Weg zur Einheit über Artikel 23 und nicht über Artikel 146 GG gewählt wurde, lag an dem Wunsch der Deutschen nach schneller staatlicher Einheit. Meinungsumfragen des Wickert-Instituts belegen, dass die Mehrheit der Deutschen in West und Ost im Frühjahr 1990 eine möglichst rasche und unkomplizierte Wiedervereinigung befürwortete: Im Februar 1990 sprachen sich 89,9 Prozent der West- und 84,1 Prozent der Ostdeutschen für das Grundgesetz als gesamtdeutsche Verfassung aus. Ein weiteres wesentliches Argument für viele Politiker war zudem die Befürchtung, dass immer mehr Menschen "mit den Füßen" abstimmten und die DDR verließen, wenn nicht bald die Einheit hergestellt würde. Als am 18. März 1990 die "Allianz für Deutschland" aus den Volkskammerwahlen mit 48 Prozent der Stimmen als stärkste Partei hervorging, war im Grunde die politische Entscheidung in der Debatte um den richtigen Weg zur Einheit bereits gefallen. Weder hatte sich die SPD mit ihrer Forderung nach einer neuen Verfassung durchsetzen können noch die SED-Nachfolgepartei PDS mit ihrem Plädoyer für einen Staatenbund. Die im Bündnis 90 zusammengeschlossenen Bürgerrechtler, die maßgeblich an der politischen Wende mitgewirkt hatten, erhielten für ihren Plan einer stufenweisen staatlichen Vereinigung sogar nur 2,9 Prozent der Stimmen.
Schon am 6. April 1990 fanden in Bonn erste Besprechungen zur Vorbereitung eines "Gesetzes über die Einführung von Bundesrecht in der DDR (1. Überleitungsgesetz)" statt. Die wichtigsten Beschlüsse in der Beitritts- und Verfassungsfrage wurden aber in der Volkskammer getroffen: Dort lehnte eine Mehrheit der Abgeordneten am 26. April die Ausarbeitung einer neuen Verfassung ab. In einer Sondersitzung in der Nacht vom 22. auf den 23. August 1990, die nach fast sechsstündiger Debatte gegen 3 Uhr endete, beschloss das ostdeutsche Parlament mit 294 Stimmen bei 62 Nein-Stimmen und sieben Enthaltungen den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 GG zum 3. Oktober 1990. Was Ministerpräsident Lothar de Maizière zuvor "als Folge des gemeinsamen Willens" bezeichnet hatte, veranlasste Gregor Gysi (PDS) zu seinem bitteren Kommentar: "Das Parlament hat nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik beschlossen."
Bereits im Juli 1990 hatten die Verhandlungen über die Ausgestaltung eines Einigungsvertrags zwischen DDR und Bundesrepublik Deutschland begonnen. Am 20. September 1990 konnten dann die beiden deutschen Parlamente in Bonn und Ost-Berlin über das Ergebnis der Verhandlungen, den rund 900 Seiten starken "Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands", den Einigungsvertrag, entscheiden: Die Abgeordneten der Volkskammer stimmten mit 299 Stimmen bei 80 Gegenstimmen und einer Enthaltung dafür, die des Deutschen Bundestages mit 442 Stimmen bei 47 Nein-Stimmen und drei Enthaltungen.
In der rund achtstündigen Debatte im Bonner Plenarsaal waren jedoch die gegensätzlichen Positionen zum Beitritt sowie seiner Ausgestaltung noch einmal aufeinander geprallt: Der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine (SPD) kritisierte heftig die Politik der christlich-liberalen Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und bezeichnete die Haltung der Bundesregierung gegenüber der DDR insbesondere in der Wirtschafts- und Sozialpolitik als schädlich und falsch.
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) wies solche Vorwürfe zurück: Der Einigungsvertrag leiste einen wichtigen Beitrag zur Einheit und schaffe "gute Grundlagen, um in den künftigen fünf Ländern rasch föderative Strukturen, Landesverwaltungen und leistungsfähige Kommunalverwaltungen aufzubauen." Dennoch mahnte der Politiker, der Vertrag bedeute auch eine große Herausforderung. "Das Gefälle zwischen dem, was der real existierende Sozialismus in der DDR hinterlassen hat und unserer Marktwirtschaft ist groß." Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) würdigte demgegenüber die historische Bedeutung des Vertrages: Zusammen mit dem am 12. September 1990 in Moskau unterzeichneten "Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" markiere der Einigungsvertrag den "Schlusspunkt der europäischen Nachkriegsgeschichte." Europa erhalte die Möglichkeit eines umfassenden Neuanfangs: "Der Vertrag weist in eine bessere europäische Zukunft!"
Nur zwei Wochen später, am 3. Oktober 1990, trat die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei. Die Verfassung galt nun nicht mehr nur in den elf westlichen Bundesländern, sondern auch in den fünf neuen Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Deutschland war nach 51 Jahren der Teilung wieder vereint. Der 3. Oktober ist seitdem als "Tag der Deutschen Einheit" nationaler Feiertag.