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Berlin, Dienstag, den 25. September 2001
Beginn: 15.16 Uhr
Sehr geehrter Herr Staatspräsident Putin! Herr Bundespräsident! Herr Bundeskanzler! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Namen aller Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Bundesrates begrüße ich Sie, Herr Staatspräsident Putin, herzlich im Plenarsaal unseres Parlaments.
(Beifall)
Wir haben Ihren letzten Besuch im Juni 2000, kurz nach Ihrem Amtsantritt, noch lebhaft in Erinnerung. Die beiderseitige Einschätzung, dass die deutsch-russischen Beziehungen eine neue Qualität gewonnen haben, hat sich seitdem in vielen weiteren Begegnungen bestätigt.
Nach den Terrorangriffen vor zwei Wochen gegen die Zivilisation, gegen Grundwerte und fundamentale Überzeugungen, zu denen auch Sie, Herr Präsident, sich schon oft bekannt haben, stehen wir vor einer neuen Pflicht und einer neuen Chance: die zivile, die freiheitliche und die friedliebende Menschheit gemeinsam gegen fanatischen Terrorismus zu verteidigen. Russland kann dabei eine besondere Rolle spielen, weil viele Bürger Ihres Landes Muslime sind und Sie unterschiedliche islamisch geprägte Staaten als unmittelbare Nachbarn haben. Russland weiß deshalb, dass der Islam seinem Wesen nach eine friedliebende und tolerante Religion ist. Aber Russland weiß auch, dass fanatische Islamisten, die sich zu Unrecht auf die Religion berufen, nicht erst neuerdings eine Bedrohung selbst islamischer Gesellschaften darstellen.
Die Bekämpfung des Terrorismus ist nicht allein eine militärische Aufgabe. Im Gegenteil: Eine Spirale der Gewalt, die immer mehr unschuldige Opfer fordert, wollen wir vermeiden. Das ändert nichts daran, dass der besondere Charakter dieses Terrorismus keine andere Wahl lässt, als mit repressiven Mitteln gegen die Täter vorzugehen. Die Aufgabe erfordert eine intensive, vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Staaten und einen langen Atem. Wir dürfen uns weder von Rachegefühlen leiten lassen noch uns durch die Differenzen und Interessenunterschiede, die bisher zum politischen Alltag unserer Beziehungen gehörten, von der weltweiten Zusammenarbeit abhalten lassen.
Ihre Reaktion auf die terroristischen Massaker, Herr Präsident, Ihre Solidaritätsbekundung mit dem amerikanischen Volk sowie die Betroffenheit und Trauer, die die Menschen in Russland spontan zum Ausdruck bringen, sind eine große Ermutigung. Der Deutsche Bundestag hat dies mit Dankbarkeit aufgenommen und wir werden das nicht vergessen.
(Beifall)
Jeder hat im Augenblick der Angriffe auf New York gespürt: Dies ist eine Zeitenwende; die Welt hat sich verändert. Zunächst folgte auf das anhaltende Entsetzen und die große Trauer die Einsicht: Gegen diese Art von Verbrechen ist auch der Mächtigste nicht vollkommen geschützt. Viele haben das Gefühl wütender und lähmender Ohnmacht in ihren Herzen noch nicht überwunden. Die Trauer um die Opfer wird von Solidarität mit den Angehörigen und mit dem gesamten Volk der Vereinigten Staaten von Amerika begleitet.
Aber es zeichnet sich eine Hoffnung, eine Möglichkeit ab. Wir können sie ergreifen, wenn wir besonnen, mit Augenmaß, Beharrlichkeit und Verantwortung eine weltumspannende Koalition gegen den Terrorismus schmieden. Auch das wäre eine Zeitenwende: wenn Russland, China, Deutschland und die anderen NATO-Staaten sowie die arabische Welt zusammen mit den USA diesen islamistischen Terror in die Knie zwingen. Eine solche Koalition wäre noch vor zwei Wochen eine Utopie gewesen. Sie, Herr Staatspräsident, gehörten zu den ersten Staatsmännern, die diese Koalition ermöglichen wollen. Lassen Sie uns gemeinsam genau daran arbeiten.
(Beifall)
Ihr heutiger Besuch ist auch deshalb ein besonderes Ereignis, nicht nur, weil es Ihr erster offizieller Staatsbesuch in Deutschland ist, nicht nur, weil er die politischen Beziehungen zwischen Berlin und Moskau bekräftigen und festigen wird, sondern auch, weil wir eine neue Qualität internationaler Zusammenarbeit anstreben. Der Deutsche Bundestag hat deshalb gern Ihrem Wunsch entsprochen, zu den Abgeordneten und - dank der Liveübertragung - auch zu den Bürgerinnen und Bürgern unserer beiden Länder zu sprechen.
Sie sind das erste russische Staatsoberhaupt, das vor dem Deutschen Bundestag spricht, und Sie sind unser erster ausländischer Staatsgast, der das auch in deutscher Sprache tun wird - eine außergewöhnliche Geste!
(Beifall)
Wir verdanken sie nicht nur der Tatsache, dass Sie ein Kenner unserer Sprache und unseres Landes sind. Wir verdanken sie auch den vielen Menschen in beiden Ländern, die in den vergangenen Jahren aufeinander zugegangen sind und die gute Tradition von Begegnung, Austausch und Zusammenarbeit belebt haben.
Es ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit, dass sich Russen und Deutsche heute mit Sympathie und Respekt begegnen. Das Leid zweier
Weltkriege und die ideologischen Barrieren des Kalten Krieges haben hartnäckige Ressentiments und Vorurteile erzeugt. Wir wissen um die tragischen Seiten der Geschichte unserer beiden Völker und um die Schuld, die wir Deutsche daran tragen.
Die tiefste Zäsur in der Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen war der 22. Juni 1941. Das ist fast genau 60 Jahre her. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion begannen die Nationalsozialisten einen erbarmungslosen Vernichtungskrieg, der gerade den Völkern der Sowjetunion ungeheure Opfer abverlangte. Für viele Menschen in Russland und in seinen Nachbarstaaten sind die Schrecken dieses Krieges noch heute lebendig. Auch deshalb bin ich froh darüber, dass der Weg für die überfällige Entschädigung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter frei ist.
(Beifall)
Wenn Sie, Herr Präsident, heute im Reichstagsgebäude zu uns sprechen, sprechen Sie in einem Haus, das das demokratische und vereinte Deutschland symbolisiert. Es symbolisiert auch den Sieg der Alliierten über Nazideutschland. Als die rote Fahne vor 56 Jahren auf dem zerstörten Reichstagsgebäude wehte, war der Krieg beendet und ein mörderisches Regime ausgelöscht. Sowjetische Soldaten, die dies spürten, als sie Berlin erobert hatten, haben sich an den Wänden dieses Hauses verewigt. Es war eine bewusste und, wie ich finde, eine richtige Entscheidung, diese Inschriften freizulegen und zu bewahren.
(Beifall)
Indem wir das Irritierende gerade nicht zudecken, sondern indem wir es sichtbar machen, auch wenn es manche stört oder gar provoziert, stehen wir zu den beschämenden Kapiteln unserer Geschichte.
40 Jahre lang standen sich West und Ost in Berlin unmittelbar und unversöhnlich gegenüber. Seit 1989 ist Berlin zu einem Zentrum der Begegnung zwischen Ost und West geworden. Wir Deutsche haben nicht vergessen, dass unsere staatliche Einheit ohne die Zustimmung Michail Gorbatschows nicht möglich geworden wäre. Für die Bereitschaft zur Versöhnung, die sich darin ausdrückte, bleiben wir ihm und den Völkern der ehemaligen Sowjetunion dankbar.
(Beifall)
Als die Blockkonfrontation überwunden wurde, geschah das in der Hoffnung, endgültig eine friedliche Welt zu errichten, die den Menschen ein Leben ohne Angst vor Krieg und Gewalt ermöglicht. Wir wissen heute: Das ist - bisher - eine Illusion. Nun haben wir es mit einer Vielzahl ethnischer oder ethnisierter, religiöser oder religiös verbrämter und sozialer Konflikte zu tun und mit einem neuen, nicht staatlichen Fanatismus, dem wir sozial, kulturell, ökonomisch, sicherheitspolitisch und gegebenenfalls auch militärisch begegnen müssen.
Herr Staatspräsident Putin, das letzte deutsch-russische Gipfeltreffen in Ihrer Heimatstadt Sankt Petersburg war der Auftakt zum "Petersburger Dialog", der ein regelmäßiger Austausch zwischen Bürgerinnen und Bürgern beider Länder werden soll. In den letzten zwölf Jahren hatte sich ein intensiver wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Austausch entwickelt. Das gibt uns die Chance, an die gelungenen Phasen des europäischen Miteinanders anzuknüpfen. Denn es gibt sie ja, die guten Traditionen unserer gemeinsamen
Geschichte, in der auch Russland zu einem nicht wegzudenkenden Teil der europäischen Kultur und Politik geworden ist. Wie eng waren die Beziehungen zwischen Königshäusern, Kaufleuten und Kulturschaffenden! Thomas Mann hat von der "anbetungswürdigen, heiligen russischen Literatur" gesprochen. An diese guten Traditionen können wir heute anknüpfen - immer auch mit Blick auf die neue Herausforderung, von der ich schon gesprochen habe.
(Beifall)
Die Völker des östlichen Europa wollen in der Konsequenz von 1989, als sie den Eisernen Vorhang aufbrachen, auch an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Sicherheit teilhaben, die ihnen die Zugehörigkeit zur Europäischen Union verspricht. Aus unserer Sicht ist die Osterweiterung der Europäischen Union ein notwendiger Schritt, um ein friedliches und demokratisches Europa zu erreichen und zu bewahren. Wir sind dabei, das europäische Haus umzubauen, und wir wissen, dass es kein europäisches Haus ohne die intensive und gute Nachbarschaft, ohne enge Zusammenarbeit mit Russland geben kann.
(Beifall)
Der Umbruch von 1989 hat Russland vor ebenso große Herausforderungen gestellt wie die anderen Länder des ehemaligen Ostblocks. 1993 hat sich Ihr Land in einer neuen Verfassung auch auf das Ziel verpflichtet, eine demo-kratische Bürgergesellschaft aufzubauen. Heute sehen wir: Der Weg zu Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit, zum Schutz der Menschenrechte nach innen und nach außen, zu Meinungsfreiheit und zu breiter demokratischer Teilhabe ist lang. Über jeden Fortschritt auf diesem Weg freuen wir uns mit Ihnen.
Wir freuen uns ebenso, dass ein spürbares Wirtschaftswachstum den Menschen in Russland neue Chancen, neue Hoffnungen, neue Zuversicht gegeben hat. Dabei können Sie, Herr Präsident Putin, auf Ihre Popularität beim russischen Volk bauen. Wir setzen darauf, dass Ihr Land auch den Prozess der Neugestaltung Europas begleitet und mit voranbringt. Wie immer die Gemeinschaft der europäischen Staaten in Zukunft organisiert sein wird: Ohne festes Band zu Russland bleibt Europa unvollständig.
Herr Präsident, ich darf Sie nun bitten, zu uns zu sprechen.
(Beifall)