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Bundestagspräsident a.D. Dr. Wolfgang Thierse hat am Mittwoch, 23. Oktober 2013, die Ausstellung Parallelverschiebung der Künstlerin Juliane Ebner im Mauer-Mahnmal des Deutschen Bundestages im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus in Berlin eröffnet.
Juliane Ebner, gebürtige Stralsunderin, gehört seit sechs Jahren zur jungen Berliner Kunstszene, deren Ausstrahlungskraft auf der radikalen Transformation althergebrachter
Themen und traditionsreicher Kunstgattungen beruht – oft mit einer Referenz an die Stadt, deren Vergangenheit als Frontstadt zwischen Ost und West eine Reibungsfläche für viele Künstler ist.
Ebners Thema und zugleich Ausdrucksmittel ist die Zeichnung. Ausgebildet an der Muthesius-Kunsthochschule Kiel, bedient sie sich ihrer virtuos – nutzt die Papierarbeiten aber nur als Ausgangspunkt für einen Arbeitsprozess, an dessen Ende durchscheinende Plexiglasbilder oder Zeichentrickfilme im Stop-Motion-Verfahren stehen. Diese Verwandlung macht einen großen Teil der Faszination von Ebners Arbeiten aus, doch ist sie nur das Mittel zum Zweck, um hochkomplexe Bildwelten zu erschaffen, in denen das Thema von individueller Erinnerung und offizieller Geschichtsschreibung subtil ausgelotet wird.
"Höhere Dichte" heißt einer ihrer zentralen Werkzyklen, der nun in einer Art Schwarmhängung im Hauptraum des Mauer-Mahnmals ausgestellt ist. Die Motive des Zyklus‘ ziehen den Betrachter mit hoher Geschwindigkeit in einen Erinnerungsraum, der unmittelbar mit dem Ausstellungsort verbunden ist: in die Berliner Geschichte einer einst geteilten, dann wiedervereinten Stadt. Die Plexiglasbilder zeigen das Brandenburger Tor, das Reichstagsgebäude, die Volksbühne, die Frankfurter Allee und viele andere bekannte Straßen und Plätze der Stadt, meist Ostberlins. Auch und immer wieder: die Mauer mit ihren Peitschenlampen, Hundestaffeln und Stacheldrahtzäunen als Insignien eines Todesstreifens, der Berlin mehr als drei Jahrzehnte trennte und das Schicksal seiner Bewohner auf eine Weise prägte, wie es heute nur noch schwer vorstellbar ist.
Viele andere Straßen und Plätze, ihre Häuserschluchten und Bauten, die Lufträume darüber, die Tiergärten und Wasserwege werden zu fiktiven Räumen verwoben, die zwischen Wiedererkennbarkeit und Fremdheit changieren. Ihre Bedeutung erlangen diese Räume aber erst durch das Geschehen darin. Durch die Überlagerung der Zeichnungen, die zu diesem Zweck auf Folien kopiert und koloriert wurden, gesellt sich eine oft merkwürdig anmutende Personage in die Stadtlandschaften. Aufreizende Mädchen in lasziven Posen, Putzfrauen, Schlafende, Kinder mit spitzen Messern, Sonnenbader, Hunde, Katzen, Flamingos, Soldaten, Punker – allesamt begründen sie traumszenenhafte Szenerien, die dem ersten Impuls des Wiedererkennens das Gefühl hinzufügen, dass hier Absurdes, in der Gleichzeitigkeit gar Unmögliches geschieht:
In einem Wäldchen tanzt eine Gruppe junger Mädchen ausgelassen; gelbe und orangefarbene Farbklekse, die ihre Kleider andeuten, lenken die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sie. Daneben, zunächst fast unsichtbar, eine Gruppe Männer in Kampfuniform mit Gewehren, offensichtlich einen Angriff vorbereitend. Das Reichstagsgebäude und das Brandenburger Tor sind von Menschenmassen umgeben wie zur Fußballweltmeisterschaft, ein mit Menschen vollgestopfter Trabant kämpft sich durch die Silhouetten der geschichtsträchtigen Bauten.
Vor und in den Steinkuben des Holocaust-Mahnmals hinter dem Pariser Platz tummeln sich Kutschen und Menschen in Kleidung aus der Jahrhundertwende, auch Brauerei- und Caféhausschilder verweisen auf die "goldenen Zwanziger", davor äst eine kleine Herde offenkundig irritierter Rehe, wie man sie an diesem Ort wohl zuletzt zu Zeiten um 1700 gesehen haben dürfte … Bei der Suche danach, welche Motive authentisch, welche dazu erfunden sind, entsteht durch die Interpretation des Betrachters eine Erzählung davon, wie die Orte und Personen wohl zusammengehören könnten: ein individueller Chronotopos (Michail Bachtin), eine eigene Raum-Zeit-Gesetzlichkeit also, die die Geschehnisse für den Moment des Betrachtens in einen "wechselseitigen und untrennbaren Zusammenhang" setzt.
Dass Juliane Ebner sich dabei dem Prinzip der Montage bedient, stellt sie in eine Tradition großer künstlerischer Konzepte, sich der Geschichte anzunähern. Sergej Eisenstein, der Regisseur von frühen sowjetischen Filmen wie "Panzerkreuzer Potemkin" und "Oktober", erfand einst das Konzept der "Attraktionsmontage" und versuchte durch die Aneinanderreihung sensationeller, zum Teil schockierender Bilder ein echtes, weil auf Emotion und Sinneswahrnehmung beruhendes Geschichtsverständnis zu erzeugen. In seinem sechsteiligen Film "Streik" etwa koppelte er die Szenen eines auf brutalste Weise niedergeschlagenen Streiks mit Tötungsszenen aus einem Schlachthof. Eisenstein verstand dies als "stimulierende Assoziationskette", die durch die äußerste emotionale Reizung des Zuschauers zu einem besseren Verständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge führen sollte.
Juliane Ebner ist von Eisensteins Radikalität Welten entfernt, auch geht ihr sein geradezu fanatisch ausgeprägter Glaube an die Veränderbarkeit des Menschen durch die Kunst ab. Trotzdem ist es das Prinzip der Montage, das ihr in einer Art "Parallelverschiebung" der Orte, Zeiten und Ereignisse ermöglicht, Reflexionsräume zu eröffnen und den Betrachter in ein Geschehen hineinzuziehen, das von der eigenen, der persönlichen Erfahrung nicht weit entfernt ist und abstraktes Geschichtswissen zur Selbsterfahrung des Betrachters werden lässt.
Interessanter Weise wechselt Juliane Ebner in ihren Filmen die Perspektive. Während der Schwarm ein facettenreiches Angebot an den Betrachter ist, seine Interpretation von Geschichte zu erfinden und sich selbst darin zu verorten, erzählt sie in den Kurzfilmen "Knallerbsenbusch" und "Alles offen" mittels der noch unmontierten Zeichnungen die Geschichte ihrer Kindheit in der DDR. Zum Bildfluss der sich immer neu überlagernden Folien hört man durch die Stimme der Künstlerin, wie sie trotz Enge und Kontrolle zu einer jungen Frau mit großen Sehnsüchten heranwächst.
Die Bilder, die gerade noch Projektionsfläche für die Erinnerungen der Betrachter waren, werden so zur Illustration des tatsächlich Gewesenen, und aus Fiktion wird – gezeichnete – Dokumentation:
Mit einem Monster haben wir gelebt. Wir nannten es Mauer. Absurd wie Honeckers Hut und noch viel entsetzlicher. Beides kein Witz. Alles war echt und ernst gemeint. Das umgab uns, war unüberwindlich und tabu. Der Kaiser nackt, und alle Kinder im Land lernten als erstes, das nie zu erwähnen. Ja, das funktionierte wie im Märchen, und ich kann es kaum noch glauben, es gab nicht nur die Sekundärrohstoffsammlung, den Subotnik, die Straße der Besten, die Selbstkritik, den Pioniernachmittag, die Erntefront, die Jahresendprämie, die Messe der Meister von Morgen, das Fest der Jungen Talente, die Kuba-Orange, das Freundschaftsmanöver, den Fahnenappell, den Frauenruheraum, das Kulturprogramm, den Agitationsbeitrag, die Patenbrigade, das Pionierabzeichen, den Haushaltstag, den Büchergutschein, das Milchgeld, das Halstuch, Hände weg von Kambodscha und Druschba und Konsum, Delikat, Exquisit, Intershop, Genex und Forumschecks und Vorladungen zur Klärung eines Sachverhalts.
Da waren auch Aktivisten, gesellschaftliche Arbeit, Einstellung, Weltanschauung, Politikdiskussionen, Gruppeneinschätzungen und das Kollektiv der sozialistischen Arbeit, Solidaritätsmarken und ZV und ESP und HO und ABV und DSF und DTSB und GST und EVP. Wir hatten Thälmannhäuser und Pionierzimmer voll staubiger Fahnen vor gelben Tapeten. Verglaste Glatzen und gerahmte Fäuste hingen in dunklen Fluren voller Wandzeitungen und Urkunden, an den Decken Heizungsrohre, der Geruch von gebohnertem Linolium. Klospülungen rauschten, rote Vorhänge verblichen hinter leeren Bühnen, Vitrinen beherbergten einsame Matroschkas, der kleine Trompeter. Verregnete Dederon-Anoraks und nasse Ehrenkränze, sich überschlagende Stimmen aus gellenden Lautsprechern, hochgezogene Fahnen, Trommelwirbel, nach Schweiß stinkende Blauhemden, Schwüre, Sternmärsche, Sirenenbelehrungen und Augen geradeaus, wieder und wieder. Sandsäcke hinter Schutzkellertüren, krause Dauerwellen über Knopflöchern mit Nelken, Fähnchen basteln, Panzer malen, Bahren schleppen, zur Tribüne winken, und Kolonne laufen und Maistöckchen schwenken und Fackeln. Und daher unser ewiges Flötespielen und Teetrinken und Stricken und Kerzenschein und Liedersingen und Gedichte und Lesen und Briefe und Unterröcke-Färben. Irgendwann standen wir wieder draußen, in unseren nassen Jacken, endlich, und wir taten noch mal, was wir gelernt hatten und wir taten es diesmal richtig gern, Lenin, Sprechchor und Sturm auf Bahnhof, Post- und Telegrafenamt, Solidarität, und plötzlich hatte die Mauer ein Loch, als das Wünschen uns half. Und alles offen seit dem. (Text zu "Alles offen", Kurzfilm von Juliane Ebner 2009)
In ihrem Kurzfilm "Nofretetchen" verwebt Juliane Ebner die Berliner Geschichte mit der Geschichte der ägyptischen Herrscherin, einer Büste, die längst zur Ikone wurde und nicht nur als Sinnbild einer ganzen Epoche, sondern mehr noch Sinnbild von Geschichtsschreibung, von Macht und deren Veränderbarkeit gilt. Ebner nähert sich dem Mythos, indem sie auf bekannte Bilder aus den Medien und der Kunstgeschichte zurückgreift und damit die Fragen von Macht, Schönheit und Präsenz thematisiert. (Auch diese Referenzen sind ein Prinzip von Montage.)
Auch eine Reihe kleinformatiger Malereien, die im Kontext des Films entstanden sind, verweisen, immer wieder von Ansichten der Nofretete unterbrochen, allesamt auf bekannte Schlüsselszenen und -personen sowohl der Gegenwart als auch der Kunstgeschichte: junge Pioniere in Uniform, ein GSG-Neun-Mann in Schneeanzug, nackte vietnamesische Kinder, die vor Bomben flüchten, Erich Honecker und seine Frau Margot auf einem Spaziergang, als wären sie ein altes Ehepaar wie jedes andere, Vanitas-Motive mittelalterlicher Gemälde, die Leiterin des Ägyptischen Nationalmuseums, die die Plünderung der wertvollen Bestände mit ansehen musste, ein russischer Soldat unter einem Lenin- Porträt …
Jedem Ereignis, jeder Person ist ein eigenes kleines Täfelchen gewidmet, das in Format und – wenn auch fremd anmutender –Leuchtkraft an Ikonen erinnert. Aber was sind die Ikonen unserer Zeit? Wie bildwürdig sind ein junger Pionier, ein Spitzel, ein gestürzter Staatsmann, ein Hund oder eine badende Frau, die keiner kennt? Welche Ereignisse und Personen – mithin, welche Bilder prägen unser Verständnis der Gegenwart? Welche Momente sind schnell vergessen, welche bleiben? Was ist persönlich, was allgemein? Wie viele Menschen erinnern den tragischen Tod von Amy Whinehouse? Und wie viele die toten Kinder des Massakers von Grosny?
Juliane Ebners Arbeiten schaffen Denkräume, die für jeden Betrachter anders aussehen dürften und mehr Fragen stellen als Antworten geben. Diese Auffassung einer komplexen Geschichtsschreibung, die sich aus individuellen Erinnerungen immer neu zusammensetzt
und danach fragt, wo sich der Einzelne im Moment großer historischer Ereignisse befand, wie er sie erlebt hat, setzt den Ideologien, die gerade Berlin viele Jahrzehnte geprägt haben, einen anderen Entwurf entgegen.
Die Ausstellung ist vom 24. Oktober 2013 bis 30. Januar 2014 Dienstag bis Sonntag von 11 bis 17 Uhr geöffnet.
Text und Ausstellungskonzept: Kristina Volke, Stellvertretende Kuratorin der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages.