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Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 12. Oktober 2009),
Themenausgabe „Nachhaltiges Wirtschaften“
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
20 Jahre nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 wendet sich der Mitinitiator der Leipziger Montagsdemonstrationen, Christian Führer, entschieden gegen eine Verklärung der DDR. „Das kann eigentlich nur tun, wer diese Diktatur nicht selbst erlebt hat“, sagte der damalige Pfarrer an der Leipziger Nicolaikirche in einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 12. Oktober). Je weiter die DDR zurück liege, desto mehr wachse die Zahl ihrer Bewunderer, beklagte er. Dagegen helfe nur Aufklärung, fügte Führer hinzu und forderte, „den Bildungsauftrag gegenüber jungen Menschen“ ernster zu nehmen.
Man könne „nicht darauf verzichten, das Geschehen vor 20 Jahren möglichst breit und vielfältig ins Gedächtnis der Menschen zu rufen und die Erinnerung lebendig zu halten“, mahnte Führer. Es gebe „in der deutschen Unheilsgeschichte sehr viele Negativdaten, die Scham und Entsetzen auslösen“. Umso größer sei die Freude über die gelungene friedliche Revolution in der DDR von 1989. Dieses „wunderbare Ereignis“ biete „vielfältigen Anlass“, sich mit den damaligen Vorgängen zu beschäftigen und nachzufragen.
Nachdrücklich würdigte Führer die Montagsdemonstration in Leipzig vom 9. Oktober 1989, der als ein Schlüsseldatum beim Zusammenbruch des SED-Regimes gilt. Sicher stehe dieser Tag, an dem die Machthaber nicht gewagt hatten, auf die 70.000 Demonstrationsteilnehmer zu schießen, „im Schatten des 9. November“, doch „ohne den 9. Oktober hätte es einen Monat später keinen Mauerfall gegeben“, argumentierte der Theologe. Deshalb stehe für ihn und viele andere „der 9. Oktober am Anfang der deutschen Einheit“. An diesem Tag habe man sich „von dieser Weltanschauungsdiktatur selbst befreit“, fügte Führer hinzu und betonte, es hätte „das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gewaltig gestärkt“, diesen Tag zum Nationalfeiertag zu erklären.
Das Interview im Wortlaut:
Herr Führer, nachdem die friedliche Revolution und der Mauerfall in den Medien jahrelang selten vorkamen, hat die öffentliche Erinnerung an die Ereignisse im Herbst 1989 derzeit Hochkonjunktur. Freuen Sie sich über diesen Boom?
Ja natürlich. Wir haben in unserer deutschen Unheilsgeschichte sehr viele Negativdaten, die Scham und Entsetzen auslösen. Umso größer ist die Freude über die gelungene friedliche Revolution. Dieses wunderbare Ereignis, das jetzt so stark ins öffentliche Bewusstsein rückt, bietet vielfältigen Anlass, uns mit den damaligen Vorgängen zu beschäftigen und nachzufragen.
Haben Sie keine Sorge, dass die Menschen bei diesem medialen Überangebot des Themas überdrüssig werden könnten?
Damit muss man rechnen. Dennoch kann man nicht darauf verzichten, das Geschehen vor 20 Jahren möglichst breit und vielfältig ins Gedächtnis der Menschen zu rufen und die Erinnerung lebendig zu halten. Im Übrigen kann jeder Bürger selbst entscheiden, zu welcher Veranstaltung er geht und welche Sendung er sich ansieht.
Für Sie und die meisten Leipziger ist der 9. Oktober 1989, an dem die Machthaber nicht wagten, auf die 70.000 Teilnehmer der Montagsdemonstration zu schießen, ein Schlüsseldatum beim Zusammenbruch des SED-Regimes. Wird dieser Tag im öffentlichen Bewusstsein ausreichend gewürdigt?
Bisher überhaupt nicht. Sicher steht dieses Datum im Schatten des 9. November. Aber ohne den 9. Oktober hätte es einen Monat später keinen Mauerfall gegeben. Deshalb steht für mich und viele andere der 9. Oktober am Anfang der deutschen Einheit: der Tag, an dem wir uns von dieser Weltanschauungsdiktatur selbst befreit haben. Diesen Tag zum Nationalfeiertag zu erklären, hätte das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gewaltig gestärkt.
Wie erklären Sie, dass damals Menschen, die sich in ihrer großen Mehrheit der Diktatur gebeugt hatten, plötzlich Mut bewiesen und in Massen auf die Straße gingen?
So plötzlich war das gar nicht. Der Mut der Demonstranten ist die Frucht der jahrelangen Friedensgebete in der Nikolaikirche. Von 1982 an jede Woche, immer an derselben Stelle im Herzen der Großstadt. Da haben die Menschen – Christen und Nichtchristen – Kraft geschöpft, haben gelernt, ihre Meinung zu sagen und Gesicht zu zeigen. Gelegenheit dazu war am „Mikrofon der Betroffenheit“. Wenn man da vorging zum Pult, heraus aus der schützenden Menge, und sagte, was einem auf der Seele brannte, wissend, dass auch Stasi-Leute in der Kirche sitzen – das erforderte Courage. Die Nikolaikirche war ein Ort der Hoffnung, an dem Selbstvertrauen zurück gewonnen wurde.
Im Oktober 1989 waren aber mehr Menschen auf den Straßen als in den Kirchen. Waren die auch angesteckt vom Geist, der aus der Kirche kam?
Offenbar hat der Geist Jesu auch Menschen ergriffen, die atheistisch geprägt waren und nichts von der Bibel wussten. Die Worte aus der Bergpredigt „Keine Gewalt“ – das haben alle gerufen. Sie haben sich im Geist der Gewaltlosigkeit verhalten und damit die Staatsmacht beeindruckt. Wenn ein Vorgang das Wort Wunder verdient, dann war es der 9. Oktober.
Das Wunder wäre ohne Michail Gorbatschow und seine Entscheidung, die russischen Truppen in der DDR in den Kasernen zu lassen, nicht möglich gewesen. Kommt dieser Beitrag im Selbstverständnis der Ostdeutschen, besonders der Leipziger, nicht zu kurz?
Bei mir nicht. Ich habe Gorbatschows Rolle immer hoch geachtet und das auch öffentlich gesagt. Gleiches gilt für die Beiträge von Ländern wie Polen oder Ungarn. Ich möchte noch weiter zurückgehen: Willy Brandt und die Ostverträge, die KSZE-Konferenz 1975 in Helsinki – all diese Mosaiksteinchen müssen mit genannt werden. Ohne die bis 1989 geschaffenen Rahmenbedingungen wären friedliche Revolution und Mauerfall nicht möglich gewesen.
Welchen Anteil hatten die westlichen Medien am Verlauf der Revolution?
Nach der Sommerpause haben wir, wie immer, Anfang September die Friedensgebete wieder aufgenommen. Da war gerade Messewoche und die westlichen Journalisten hatten eine pauschale Drehgenehmigung. Als wir aus der Kirche kamen, standen da viele Kamerateams. Die haben aufgenommen, wie das Spruchband „Für ein offenes Land mit freien Menschen“ entrollt und dann von Stasi-Leuten heruntergerissen wurde. Am Abend wurden diese Bilder im West-Fernsehen gezeigt. Damit waren die Vorgänge auch in der DDR bekannt. Und wir in Leipzig hatten einen Bekanntheitsgrad erreicht, den wir mit unseren damaligen Mitteln der Kommunikation nicht geschafft hätten.
Der Schriftsteller Erich Loest hat mal gesagt: „Die stärkste Kraft waren die, die abhauten.“ Bei allem Respekt vor den Leipziger Demonstranten: Hat die Massenflucht besonders von jungen Leuten nicht genauso zur Grenzöffnung und zum Zerfall der SED-Diktatur beigetragen?
Die Ausreiseleute haben durch ihr erzwungenes Weggehen dafür gesorgt, dass vielen Menschen klar wurde: So geht es nicht weiter. Die Massenflucht und Erich Honeckers menschenverachtende Worte „Wir weinen denen keine Träne nach“ haben auch SED-Genossen nachdenklich gemacht.
Für die meisten DDR-Bürger, die mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ gegen das Regime protestierten, ging es um Demokratie, Meinungsfreiheit und um eine bessere DDR. Warum haben die Menschen wenig später „Wir sind ein Volk“ gerufen?
Dass die Einheit Deutschlands von der Mehrheit der DDR-Bürger gewollt wurde, kann man nicht leugnen. Sie wollten den Wohlstand des Westens, wussten aber nicht, wie hart er erarbeitet worden ist. Und der Westen hatte keine Ahnung, wie der realsozialistische Alltag war. Statt der Landschaften blühten die Illusionen.
Die Volkskammer hat mit ihrem Beschluss über den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland dem Willen der großen Mehrheit der Bürger entsprochen. Sie sprechen gleichwohl von Anschluss?
„Anschluss“ ist das Gefühlte – so wie man beim Wetter von „gefühlter Temperatur“ redet. Ich finde das Grundgesetz großartig. Trotzdem hätte ich mir eine neue Verfassung gewünscht. Damit wäre klar geworden: Das ist nicht die erweiterte BRD, sondern ein neues Gebilde.
Bedrückt Sie der Gedanke, dass es Mode geworden ist, die DDR zu verklären?
Das kann eigentlich nur tun, wer diese Diktatur nicht selbst erlebt hat. Je weiter die DDR zurück liegt, desto mehr wächst die Zahl ihrer Bewunderer. Da hilft nur Aufklärung. Wir müssen den Bildungsauftrag gegenüber jungen Menschen ernster nehmen. In die Nikolaikirche kommen viele Besucher. Die wollen mit Zeitzeugen reden und wissen, wie das 1989 war, wie die Demonstranten mit ihrer Angst umgegangen sind. So lernt man verstehen, wie die DDR war.
Für Sie ist die friedliche Revolution unvollendet. Was müsste in Politik und Gesellschaft passieren, um sie erfolgreich abzuschließen?
Den Begriff abschließen würde ich nicht verwenden. Wir haben in der Theologie ein gutes Wort: Die Kirche muss ständig erneuert werden. Wir leben in einer Demokratie, der besten Staatsform, die Menschen hervorgebracht haben. Aber der Globalkapitalismus passt nicht dazu. Die Wirtschafts- und Bankenkrise hat gezeigt, dass dieses auf Egoismus aufgebaute System nicht zukunftsfähig ist. Wir brauchen eine ethische Neuorientierung, eine solidarische Ökonomie, eine Jesus-Mentalität des Teilens. Der Staat muss dafür sorgen, dass Politik und Wirtschaft sich am Menschen orientieren – und nicht gnadenlos am Profit.
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