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Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 21. März 2011)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Der Vorsitzende der Deutsch-Japanischen Parlamentariergruppe und außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion Rolf Mützenich spricht sich für einen gemeinsamen europäischen Ausstieg aus der Atomkraft aus. „Europa ist klug beraten, gemeinsame Wege zu gehen. Letztlich geht doch kein Weg daran vorbei, dass wir uns mittelfristig von der Kernkraft verabschieden“, sagte Mützenich in einem Gespräch mit der Zeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 21. März 2011).
Die japanische Tragödie, die man als weltweite Tragödie beschreiben könne, werde die Debatten zur Atomenergie in Europa beeinflussen. Das gelte auch für Ländern wie Frankreich, die bisher sehr stark auf diese Energieform gesetzt haben. Die Herausforderung sei jetzt, noch stärker in alternative Energien und Energieeinsparung zu investieren. „Wir können das nicht alleine im nationalen Rahmen – wir müssen es auf EU-Ebene, vielleicht sogar weltweit entscheiden“, sagte Mützenich. Europa könne zudem eine neue Energiepartnerschaft mit den Ländern in Nordafrika begründen. Im Hinblick auf die Umbrüche dort lasse sich fragen, „ob es nicht möglich wäre, mit neuen freieren Gesellschaften einen gemeinsamen Weg im Bereich der Energieversorgung beispielsweise mit Sonnenenergie einzuschlagen“, sagte Mützenich.
Das Interview im Wortlaut:
Japan reagiert bisher überraschend gefasst auf die Katastrophe. Wieso bleiben die Menschen so ruhig?
Mützenich: Meine Erfahrung ist, dass Japaner sehr selten unmittelbar Gefühle zeigen, insbesondere in der Öffentlichkeit – selbst bei traumatischen Ereignissen. Dies hängt mit ihrer kulturellen Prägung und Erfahrung zusammen. Es ist eine doppelte Tragik, da Japan ja das erste und bislang einzige Land ist, gegen das Atomwaffen eingesetzt wurden. Die Vielzahl von Katastrophen, die über Japan hereingebrochen sind, bedeuten eine unvorstellbare Tragödie. Wir sollten deshalb angesichts der aktuellen Bilder aus Japan auch verantwortungsvoller mit Begriffen wie Katastrophe umgehen, den wir in Deutschland bereits für Streiks, Schneefall und Bahnchaos verwenden.
Stichwort: Hiroshima und Nagasaki. Wie kommt es, dass ausgerechnet Japan so stark auf die Atomkraft gesetzt hat?
Mützenich: Das Land verfügt kaum über natürliche Ressourcen zur Energiegewinnung. Es ist ein industrialisiertes Land, das sich vorgenommen hat, diese Technologie zu beherrschen. Neben einer gewissen Technik- und Fortschrittsgläubigkeit galt Kernenergie als sichere und saubere Energie. Zum anderen hat die japanische Gesellschaft solche Entscheidungen oft staatlichen Instanzen überlassen, ohne eine gesellschaftliche Diskussion darüber zu führen. Man kann nicht sagen, dass es in Japan eine Anti-Atombewegung so wie in anderen Industriestaaten gegeben hat. Ob sich das in Zukunft ändern wird, kann ich nicht voraussehen.
Markiert die Katastrophe in Japan das Ende der Atomenergie in Deutschland?
Mützenich: Meiner Meinung nach sollten wir auf dieses Mittel der Energiegewinnung verzichten. Als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses habe ich mich auch intensiv mit Rüstungskontrolle befasst. Ich habe dabei immer auch beide Seiten der Medaille betrachtet. Man kann die Frage der zivilen Nutzung nicht konsequent von der Gefahr einer militärischen Nutzung der Atomkraft trennen.
Dazu kommt das ungelöste wie offenbar unlösbare Problem des Endlagers…
Mützenich: …das in Japan ebenso wenig wie in Deutschland existiert. Dass nun ein Zwischenlager für Atommüll gebrannt hat, beweist die ganze Gefährlichkeit und wird mit Sicherheit die deutsche Debatte zusätzlich beeinflussen. Die entscheidende Frage wird sein, wie die deutsche Atomindustrie mit dieser Herausforderung umgeht. Ich hätte schon erwartet, dass die verantwortlichen Manager etwas Substanzielles zu dieser Katastrophe gesagt hätten, statt bei den alten Floskeln zu bleiben. Für die Wiederholung alter Parolen ist dieser Einschnitt zu epochal.
Haben Sie über die normalen Informationen, die wir auch erhalten, spezielle Erkenntnisse?
Mützenich: Vor allem in Hinblick darauf, dass die Betreiberfirma geschlampt haben könnte. Man muss schon konstatieren, dass insbesondere die Betreibergesellschaften der Kernkraftwerke in der Vergangenheit Missstände zu verantworten hatten. Das betrifft auch die Betreiberfirma im Nuklearkomplex Fukushima I. Aber wie ich schon sagte: Einfluss nehmen auf solche Prozesse oder Versäumnisse kann eine Gesellschaft nur über die öffentliche Debatte.
Gerade hat China angekündigt, massiv auf Atomenergie zu setzen. Ist es sinnvoll, sich aus der Atomkraft zu verabschieden, wenn andere neue Meiler bauen?
Mützenich: Wenn niemand den Anfang macht, werden wir nie das Ziel erreichen, auf andere Technik zu setzen. Es stehen Alternativen zur Verfügung, die stärker genutzt werden müssen. Wir können das nicht alleine im nationalen Rahmen – wir müssen es auf EU-Ebene, vielleicht sogar weltweit entscheiden. Was in den 1960er-Jahren den Atomwaffensperrvertrag geprägt hat – auf der einen Seite der Verzicht auf Nuklearwaffen, auf der anderen Seite die Förderung der zivilen Atomtechnik – , wird nicht ausreichen. Hier müssen wir klare Entscheidungen treffen. Wir sehen schon an unserer aktuellen Diskussion, dass offensichtlich auch diejenigen, die die Kernkraft bislang befürwortet haben, nun sehr schnell zu anderen Bewertungen kommen.
Was bedeutet die Katastrophe für Japan und für die Weltwirtschaft?
Mützenich: Einen dramatischen Einschnitt. Wir sprechen insbesondere über die Frage der Atomkraft. Aber wir müssen natürlich auch sehen, dass schon der Tsunami und das Erdbeben verheerende Wirkungen auf die Menschen und auf die einzelnen Schicksale gehabt haben. All das summiert, wird natürlich die japanische Wirtschaft beeinflussen. Entscheidend ist, ob der Welt größter Ballungsraum Tokio vom Fallout betroffen sein wird. Das würde unüberschaubare Konsequenzen haben. Weltweit.
Für wie belastbar halten Sie die japanische Demokratie?
Mützenich: Ich hoffe nicht, dass solche katastrophalen Ereignisse auch noch die politischen Grundfesten erschüttern. Das tun sie natürlich langfristig, insbesondere, wenn später nicht glaubhaft vermittelt werden kann, dass man alles unternommen hat, diese Katastrophe zu verhindern. Möglicherweise haben in Japan die Betreibergesellschaften Fehler gemacht. Wenn dann auch nachgewiesen wird, dass bestimmte Strukturen und Verkrustungen des politischen Systems diese Fehler begünstigt haben, wird es natürlich eine Debatte darüber geben. Japans Verfassung und Japans politisches System haben in der Vergangenheit eine Reihe von Fragen aufgeworfen. Aber es haben sich eben auch demokratische Alternativen entwickelt.
Angenommen, der Westen verabschiedet sich von der zivilen Atomkraft. Wie dunkel wird dann die deutsche Nacht?
Mützenich: Wir haben nie behauptet, endgültige Lösungen zu haben. Aber Rot-Grün hat bereits eine Antwort gegeben, die damals in einem schwierigen Prozess politisch durchgesetzt wurde: den schrittweisen Ausstieg. Diese Entscheidung war verantwortbar und hat nach meinem Eindruck insbesondere auch die gesellschaftliche Debatte befriedet. Davon, dass wir das von heute auf morgen bewerkstelligen könnten, war nie die Rede, nur schrittweise und nur, wenn wir stattdessen alternative Energien fördern und einsetzen und – ganz wichtig – auf Energieeinsparung bauen.
Zieht Europa bei einem deutschen Ausstieg mit oder sind wir dann die Empfänger von Atomstrom der Nachbarn?
Mützenich: Die japanische Tragödie, die man zu recht schon als weltweite Tragödie beschreiben kann, wird die europäische Diskussion beeinflussen. Die Gesellschaften werden auf diese Debatte drängen. Ich glaube, dass auch auf Frankreich eine solche Debatte zukommt. Wenn es nicht die Politik tut, dann wird es letztlich aus der französischen Gesellschaft kommen. Europa ist klug beraten, gemeinsame Wege zu gehen. Letztlich geht doch kein Weg daran vorbei, dass wir uns mittelfristig von der Kernkraft verabschieden. Insbesondere, weil wir die Frage der Endlagerung nicht gelöst haben. Und im Hinblick auf die Umbrüche in Nordafrika lässt sich sogar fragen, ob es nicht möglich wäre, mit neuen freieren Gesellschaften einen gemeinsamen Weg im Bereich der Energieversorgung beispielsweise mit Sonnenenergie einzuschlagen. Das mag visionär sein. Aber viele Dinge, die ursprünglich visionär schienen, sind später Wirklichkeit geworden.
Aber vorher ist noch ein tiefes Tal zu durchschreiten.
Mützenich: Noch tiefer geht es ja nicht.
Nach einem etwaigen nuklearen Winter käme noch der finanztechnische hinzu…
Mützenich:...vielleicht. Aber was macht denn uns Menschen aus? Dass wir aus jedem Dilemma die richtigen Konsequenzen für nachfolgende Generationen ziehen.
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