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Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der
Wochenzeitung "Das Parlament" (Erscheinungstag: 01. August 2011)
bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung
Karin Gueffroy, die Mutter des letzten an der Berliner Mauer erschossenen Flüchtlings Chris Gueffroy, hält die Urteile im Prozess gegen die Todesschützen für nicht gerecht. „Ich habe immer gesagt, es ist mir nicht wichtig, welches Urteil am Ende steht, sondern dass die Täter sich die Anklage anhören müssen.“ Als der Bundesgerichtshof 1994 bei der Revision das Strafmaß auf zwei Jahre auf Bewährung herabsetzte, sei sie allerdings geschockt gewesen, berichtet Karin Gueffroy im Gespräch mit der Zeitung „Das Parlament“, wenige Tage vor dem 50 Jahrestag des Mauerbaus am 13. August (Erscheinungstag: 01. August 2011). „Ich finde es nicht gerecht, das sage ich heute immer noch. Aber ich musste damit leben lernen.“
In der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1989 wurde der damals 20-jährige Chris Gueffroy von DDR-Grenzsoldaten zwischen Berlin-Johannisthal und Berlin-Neukölln erschossen. Er sei davon ausgegangen, es gebe keinen Schießbefehl mehr an der Mauer, sagt seine Mutter, die in jener Nacht die Schüsse gehört hatte – ohne zu wissen, dass sie ihrem Sohn galten.
Die Staatssicherheit und die Behörden der DDR hätten versucht, den Vorfall geheim zu halten. Dennoch berichteten Westmedien darüber: „Ich hatte Angst, dass mein Kind namenlos auf dem Friedhof verscharrt wird wie so viele Mauertote“, sagt Gueffroy. „Das wurde oft gemacht, die Familien wurden ruhig gehalten, Eltern in die Psychiatrie geschickt.“ Sie habe ein Foto ihres Sohnes mit der Nachricht seines Todes an der Grenze über eine Rentnerin, die von Ost nach West reisen durfte, West-Berliner Medien zugespielt.
Dass sich Mitglieder des SED-Politbüros später wegen der Toten an der Mauer vor Gericht zu verantworten hatten und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, findet Gueffroy „richtig und wichtig“. Wichtig sei auch: „Erich Honecker, Erich Mielke, Willi Stoph und Heinz Kessler mussten mir als Nebenklägerin ins Gesicht sehen.“Das Interview im Wortlaut:
Welche Erinnerungen haben Sie an den Bau der Mauer 1961?
Gueffroy: Ich lebte damals bei den Eltern in Pasewalk. Die Stadt erzitterte. Die Panzer aus den Kasernen rund um Pasewalk wurden abgezogen und rollten nach Berlin. Sonst war alles sehr weit weg.
Welche Rolle spielte die Mauer im Alltag, als sie nach Berlin zogen?
Gueffroy: Diese Mauer mitten in der Stadt nahm mir damals schon den Atem. Ich wohnte 14 Jahre lang in Berlin-Johannistal nahe der Grenze, habe immer wieder vereinzelte Schüsse gehört, meistens nachts. Ich bin jedes Mal aufgewacht und dachte: Wenn dich das trifft, du würdest das nicht überleben.
Hatten Sie und ihre beiden Söhne je den Wunsch die DDR zu verlassen?
Gueffroy: Das stand nicht zur Debatte. Ich kannte niemanden im Westen. Aber Mitte der 1980er Jahre sah ich, dass immer mehr Menschen weggehen. Chris sagte einmal: „Alle gehen. Wieso sind wir eigentlich noch hier?“ Meine Antwort war: „Warum sollten wir gehen? Wir haben hier doch alles.“ Er wurde richtig wütend: „Ich wusste nicht, dass du feige bist. Ein kleines Bankkonto, ein Job und eine Wohnung – das ist zu wenig.“ Später, als ich 1989 nach seinem Tod bei meiner Ausreise allein am Grenzübergang mit nichts als zwei Koffern stand, habe ich gedacht: Chris du hattest recht. Man kann immer neu anfangen. Man muss es nur wollen.
In der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1989 wurde Ihr Sohn von DDR-Grenzsoldaten erschossen. Was passierte in jener Nacht?
Gueffroy: Am 5. Februar kurz vor Mitternacht ließen mich mehrere Gewehrsalven zusammenzucken. Am Morgen hörte ich im Westrundfunk, es habe einen Zwischenfall an der Grenze zwischen Treptow und Neukölln gegeben. Wahrscheinlich gebe es einen Toten. Chris und ich waren zum Frühstück verabredet, aber er kam nicht. Ein Freund von Chris sagte mir: „Chris wollte über die Grenze.“ Meine Freunde haben mich beruhigt: „Mach dir keine Sorgen! Wäre was passiert, hätte die Stasi längst geklingelt.“
Wie erfuhren Sie die schreckliche Nachricht?
Gueffroy: Ein Stasimitarbeiter stand am 7.Februar am Nachmittag an meiner Wohnungstür: Ich solle „zur Klärung eines Sachverhalts“ ins Polizeipräsidium in der Keibelstraße mitkommen. Ein Vernehmer bat mich, Chris' Charakter zu beschreiben. Mir fiel nur ein: „Wie ein wildes junges Pferd. Man kann ihn nicht aufhalten.“ Als sie mich zwei Stunden ausgehorcht hatten, kam ein weiterer Vernehmer: „Frau Gueffroy, ich muss Ihnen mitteilen, dass Ihr Sohn ein Attentat auf eine militärische Einrichtung begangen hat. Er ist verstorben.“ Man sitzt gelähmt da, das geht so langsam den Körper runter. Ich bin dann aufgesprungen und brüllte: „Sie haben ihn ermordet. Er hat Ihnen nichts getan.“
Die DDR versuchte, die Erschießung geheim zu halten. Noch am Tag der Beerdigung leugnete SED-Generalsekretär Honecker die Todesschüsse. Trotzdem berichteten Westmedien darüber. Wie kam das?
Gueffroy: Ich hatte Angst, dass mein Kind namenlos auf dem Friedhof verscharrt wird wie so viele Mauertote. Das wurde oft gemacht, die Familien wurden ruhig gehalten, Eltern in die Psychiatrie geschickt. Ich habe Chris' Foto samt Todesanzeige in einer Streichholschachtel versteckt und bat eine Bekannte, die als Rentnerin von Ost nach West reisen durfte, damit zum Sender Freies Berlin zu gehen. Die Abendschau zeigte die Todesanzeige und meldete, Chris sei der Tote an der Mauer. Die Stasi sprang regelrecht im Dreieck. Am Tag der Beerdigung war der Friedhof in Treptow weiträumig abgeriegelt. Vor unserem Haus stand ein Werkstattwagen, da war eine Kamera drin, die jeden filmte, der ein- und ausging. Alle, die auf dem Friedhof waren, sinnlos getarnt mit Hacke und Harke mitten im Februarfrost, waren Stasimitarbeiter. Ich war gerührt, dass trotzdem so viele Freunde und auch andere Menschen zur Beerdigung kamen. Ein Mann sagte mir: „Ich kannte ihren Sohn nicht, aber sein Tod lässt mir keine Ruhe.“ Das war unglaublich mutig. Auch vier West-Journalisten waren schon vor der Absperrung auf dem Friedhof.
Wann stand für Sie fest: Ich verlasse dieses Land?
Gueffroy: Sechs Wochen nach Chris Tod sagte die Stasi: „Die Untersuchungen sind abgeschlossen. Der Staat hat rechtens gehandelt.“ Ein Vernehmer meinte: „Sie haben doch selbst gesagt, Chris sei wie ein wildes junges Pferd gewesen. Was macht man mit wilden jungen Pferden, die sich nicht einfangen lassen?“ Meine Antwort: „Man erschießt sie einfach.“ Daraufhin nickte er. Nicken hört man nicht auf Tonbändern. Dann lief ich heulend über den Alexanderplatz und dachte: Wenn ich hier jemanden anspreche und das erzähle, mir wird kein Wort geglaubt. Für mich stand fest: Ich kann in diesem Staat nicht mehr leben, kann hier nicht mehr atmen.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als im Sommer 1989 so viele Menschen die DDR verließen? Spielte der Gedanke eine Rolle, dass der Tod von Chris etwas bewirkt hat?
Gueffroy: Alle Toten, ob das Peter Fechter ist oder Günter Litfin oder andere der über 100 Mauertoten, haben einen Stein abgetragen, damit die Mauer fällt. Nicht zu vergessen: Die mutigen Bürgerrechtler. So traurig diese Zeit für mich war, ich habe mir beim Mauerfall gesagt: Gott sei Dank! Jetzt muss keine Mutter mehr um ihren Sohn weinen.
Sie haben 1990 Anzeige erstattet. Der Todesschütze wurde zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Wie wichtig ist Ihnen das Urteil?
Gueffroy: Ich bin stolz. Es war der erste Mauerschützenprozess und ich war daran beteiligt. Ich habe immer gesagt, es ist mir nicht wichtig, welches Urteil am Ende steht, sondern dass die Täter sich die Anklage anhören müssen. Als der Bundesgerichtshof bei der Revision das Strafmaß auf zwei Jahre auf Bewährung herabsetzte, war ich allerdings geschockt. Ich finde es nicht gerecht, das sage ich heute immer noch. Aber ich musste damit leben lernen. Mit Hass kann man nicht leben, man zerstört sich selber. Ich bekomme meinen Sohn dadurch nicht zurück.
Auch Mitglieder des Politbüros wurden wegen der Toten an der Mauer verurteilt.
Gueffroy: Das war das Größte überhaupt. Dass sie härter bestraft worden sind, das finde ich richtig und wichtig. Wichtig ist auch: Erich Honecker, Erich Mielke, Willi Stoph und Heinz Kessler mussten mir als Nebenklägerin ins Gesicht sehen. Egon Krenz hat Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingelegt und vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklagt, vergebens!
Ist die Berliner Mauer heute nur noch Touristenattraktion?
Gueffroy: Ich hätte mir gewünscht, ein Stück Mauer wäre mitten in Berlin im Originalzustand stehen geblieben. Man kann heute nur noch in der Gedenkstätte an der Bernauer Straße einen Eindruck davon bekommen, wie furchtbar diese Grenze war, und wie mutig die Menschen waren, die sie überwinden wollten, weil sie in Freiheit leben wollten, weil sie anders dachten, weil sie selbstbestimmt entscheiden wollten. Chris war nicht größenwahnsinnig. Er dachte, es gebe keinen Schießbefehl mehr. Es gab ihn aber noch.
Was würde Ihr Sohn heute machen?
Gueffroy: Er wollte Pilot werden. Da hätte er zur Armee gemusst. Als er sich dafür nicht verpflichtete, durfte er kein Abitur machen. Er wurde Kellner; in der DDR war das ein Stück Freiheit. Seine engsten Freunde haben nach dem Mauerfall ihre Träume verwirklicht, einige haben doch noch studiert. Sein Freund Dirk lebt und arbeitet heute in San Francisco. Er hat damit wahrgemacht, wovon Chris immer geträumt hatte.
Was geben Sie heute bei Ihren Vorträgen jungen Menschen mit auf den Weg?
Gueffroy: Ich sage immer: Alles ist gerade mal 22 Jahre her. Schaut euch die heute noch bestehenden Diktaturen an. Auch wenn einem in der Demokratie nicht immer alles passt: Man kann sich engagieren. Und wenn es einem gar nicht passt, kann man gehen. Das konnte man in der DDR nicht.
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