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Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 16. April 2012)
bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Mit Blick auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich hat der frühere EU-Kommissionspräsident Jacques Delors vor einer Verschlechterung des deutsch-französischen Verhältnisses gewarnt. Die Deutschen seien das Volk, das den Franzosen am nächsten stehe, sagte er in einem Interview mit der Zeitung „Das Parlament“ (Erscheinungsdatum: 16. April 2012). Er fürchte aber, „dass sich das ändern wird“. Zur Begründung sagte er, es sei einfach, eine antideutsche Stimmung, einen übersteigerten Nationalismus oder Populismus zu schüren. „Davon kann immer etwas hängenbleiben“, betonte Delors, der von 1985 bis 1995 die Europäische Kommission leitete.
Gleichzeitig vertrat Delors die Ansicht, dass die Euro-Gruppe eine Mitschuld an der aktuellen Eurokrise trägt. Sie habe die Situation nicht vorhergesehen: „Daher halte ich sie für politisch und moralisch verantwortlich“, sagte er. Hätte man einen Wirtschaftspakt gehabt, „hätte man über all das schon viel früher diskutieren können“.
Der frühere französische Wirtschaftsminister hatte sich in seiner Amtszeit als EU-Kommissionspräsident neben der Koordinierung der Währungspolitik auch für eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik ausgesprochen. „Das wurde aber abgelehnt“, sagte er. Delors forderte zur Bewältigung der Krise eine Stärkung der europäischen Institutionen: „Der Präsident der Europäischen Kommission muss wieder sichtbarer werden.“ Der Franzose sagte: „Der Europäische Rat sollte sich nicht mit Detailfragen beschäftigen, sondern die großen Linien vorgeben.“
Das Interview im Wortlaut:
Herr Delors, was fällt Ihnen ein bei dem Satz: Wenn ich an Deutschland denke....
.....denke ich zunächst an die Vergangenheit – und zwar aus sehr persönlichen Gründen. Zum einen denke ich an meinen Vater. Er war Kriegsversehrter des Ersten Weltkrieges und natürlich ein Gegner des Nazi-Regimes. Aber seit er 1950 Robert Schuman gehört hatte, sagte er mir: „Das ist der Weg.“ Und zweitens denke ich an meinen ersten deutschen Brieffreund während meiner Zeit im Gymnasium, der für mich in guter Erinnerung geblieben ist. Diese Erfahrungen haben mich in meinem späteren Leben geprägt.
Auf welche Weise?
Bereits als 25-Jähriger bin ich von dem Aufruf Robert Schumans für ein vereintes Europa fasziniert gewesen. Ich habe mich schon früh dafür engagiert, seine europäische Idee weiterzutragen. Auch später habe ich mich immer sehr für die Erfahrungen der anderen Länder interessiert – in Deutschland war es das System der sozialen Marktwirtschaft.
Im Jahr 1963 wurde auch der Elysée-Vertrag geschlossen. Jetzt feiert das deutsch-französische Paar „Goldene Hochzeit“? Ist es in die Jahre gekommen?
Die Ausgangslage war: Wir wollten damals Europa konstruieren. Und die Deutschen wussten, dass sie uns etwas schuldig waren. Wir haben daher damals mit unseren nicht-deutschen Freunden gesagt, dass wir keinen absurden Vertrag wie den Vertrag von Versailles machen wollten, der die Deutschen unter zu starke Zwänge setzt. Europa ist für Deutschland eine Möglichkeit gewesen, die Vergangenheit zu bewältigen.
Wer hat dabei eine besondere Rolle gespielt?
Zuletzt hat das Kanzler Helmut Kohl bedacht. Er wusste, dass Deutschland eine starke Macht war und daher auch gegenüber seinen Partnern Konzessionen machen konnte, damit Europa funktionierte. Kohl, aber auch sein Vorgänger Helmut Schmidt waren überzeugte Europäer. Schmidt hat sogar das Europäische Währungssystem akzeptiert, obwohl Deutschland und Frankreich damals nicht die selben Ideen für einen Ausweg aus der Krise hatten. Schmidt ist das Risiko eingegangen, das Europäische Währungssystem (EWS) zu gründen, ohne das wir niemals den Euro bekommen hätten.
Sind Deutschland und Frankreich also kein Liebespaar mehr?
Ich denke, das deutsch-französische Verhältnis ist heute eher eine Sache der Vernunft. Das scheint mir auch normal, denn die Deutschen sind gegenüber ihren Nachbarn noch nie in einer so starken wirtschaftlichen Position gewesen. Die Unterschiede lassen sich am besten im Vergleich der Außenhandelsbilanzen aufzeigen: im Jahr 2011 gab es laut Eurostat ein Außenhandelsüberschuss von plus 157 Milliarden Euro für Deutschland im Gegensatz zu einem Defizit von 84,5 Milliarden Euro in Frankreich. Dies beweist die große wirtschaftliche Macht Deutschlands, die sicherlich ihre Berechtigung hat.
Nutzen die Deutschen ihre starke wirtschaftliche Position aus?
Ich meine nicht – wie einige andere Franzosen –, dass die Deutschen nur an sich denken. Aber ich bin der Ansicht, dass ihre große wirtschaftliche Kraft eben auch ein Dilemma mit sich bringt: Auf der einen Seite heißt es, Deutschland könne nicht der Zahlmeister für Griechenland sein. Aber auf der anderen Seite wird gesagt, dass man diese Position der Stärke nicht missbrauchen darf. Das ist ein Problem, für das ich Verständnis habe.
Brauchen wir eine Änderung des Élysée-Vertrages, wie es der Präsidentschaftskandidat Francois Hollande gefordert hat?
Ich hoffe, der französische Präsidentschaftswahlkampf wird hier keinen Schaden anrichten. Wenn Sie die Meinungsumfragen der letzten Jahre anschauen, werden Sie sehen, dass die Deutschen das Volk sind, das den Franzosen am nächsten steht. Das ist für mich eine große Freude, wenn man daran denkt, was alles passiert ist. Ich fürchte, dass sich das ändern wird.
Wie meinen Sie das?
Sehen Sie, es ist so einfach, einen antideutsche Stimmung, einen übersteigerten Nationalismus oder Populismus zu schüren, und davon kann immer etwas hängenbleiben. Deswegen habe ich mich schon immer dafür ausgesprochen, dass man sich jenseits der Politik trifft, um sich gegenseitig die Dinge zu erklären.
Worüber sollten Deutsche und Franzosen sprechen?
Ich würde folgende Fragen stellen: Wie können wir angesichts der großen wirtschaftlichen Kraft Deutschlands ein Europa weiterentwickeln, das für Deutschland akzeptabel ist? Zweitens: Wie können Deutsche und Franzosen zusammenleben, ohne sich gegenseitig zu misstrauen? Und drittens stellt sich die Frage: Welche Konzeption hat Deutschland hinsichtlich seiner Stellung in der Welt?
Was würden Sie Deutschland raten?
Ein Ziel heißt, Europa zu unterstützen. Das heißt aber auch, dass die Deutschen verstehen müssen, dass die soziale Marktwirtschaft kein Modell ist, das überall in Europa angewandt werden kann. Neben den verschiedenen demographischen Voraussetzungen müssen auch die Besonderheiten der einzelnen Länder respektiert werden. Das bedeutet etwa, dass die Sozialpolitik Sache der Länder bleiben muss. Denn das sind alles Systeme, die eine lange Tradition haben. Daher können diese Länder nicht einfach von heute auf morgen sagen, wir machen das wie in Deutschland. Und dann stellt sich natürlich die Frage, wie die Kompetenzen innerhalb Europas aufgeteilt sind.
Wie meinen Sie das?
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich immer gegen eine verstärkte Zusammenarbeit einzelner Länder ausgesprochen. Wenn es die aber nicht gegeben hätte, hätte es auch niemals den Schengen-Raum und auch niemals den Euro gegeben. Es gibt also einen Moment – und das ist auch so in den Verträgen vorgesehen – ,in dem einige Länder schneller vorangehen können.
Also gehen wir doch auf ein Europa der zwei Geschwindigkeiten zu?
Ich möchte als Antwort gerne die Formulierung des früheren Außenministers Hans-Dietrich Genscher benutzen: Kein Land kann vorwärtsgehen, ohne die anderen zu vergessen. Aber die einen können die anderen nicht daran hindern, voranzugehen, wenn es darum geht, Europa zu stärken. Ich denke, man kann sehr gut eine verstärkte Zusammenarbeit machen und eine Euro-Zone haben, ohne die anderen zu vergessen. Im Moment spricht man aber nur vom Euro, doch Europa hat noch viele andere Probleme zu lösen.
Welche Probleme sehen Sie?
Europa muss mit der Verabschiedung seines Haushaltes kämpfen, die gemeinsame Agrarpolitik reformieren oder auf die Entscheidung Deutschlands reagieren, auf die Atomkraft zu verzichten. Alle diese wichtigen Fragen werden vom Euro verdrängt.
Frau Merkel hat gesagt, wenn der Euro scheitert, scheitert Europa. Glauben Sie das auch?
Das ist eine ziemlich neue Einsicht. Die Eurokrise besteht ja schon seit 2004, als Deutschland und Frankreich die Regeln des Stabilitätspaktes übergangen haben. Von daher denke ich, dass ihr dieser Gedanke erst ziemlich spät gekommen ist.
Was hätten Sie anders gemacht, um diese Krise zu verhindern?
Die Wirtschafts- und Währungsunion war und ist ein Test für Europa. Ich habe mich daher immer dafür stark gemacht, dass es neben dem Währungspfeiler auch einen Wirtschaftspfeiler geben sollte. Dies habe ich bei der Verabschiedung des Maastricht-Vertrages 1992 empfohlen und gleichzeitig vorgeschlagen, dass man bei den Beitrittskriterien die Langzeit- und die Jugendarbeitslosigkeit mit einbezieht. Das wurde abgelehnt. Ich habe 1997 nochmals einen Pakt für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik vorgeschlagen – und mir erneut eine Absage geholt.
Was hätte ein solcher Pakt der Wirtschaftspolitik denn innerhalb der Europäischen Union für Konsequenzen gehabt?
Wenn es auch nur informell eine Koordination der Wirtschaftspolitik gegeben hätte, hätte man es beispielsweise niemals zu einer solche Verschuldung der privaten Haushalte kommen lassen. Ich habe daraus eine Lehre gezogen: Die Euro-Gruppe hat die Situation nicht vorhergesehen, daher halte ich sie für politisch und moralisch für verantwortlich. Denn wenn man diesen Wirtschaftspakt gehabt hätte, hätte man über all das schon viel früher diskutieren können.
Trägt also die Euro-Gruppe Schuld an der Krise?
Sie haben zu lange gewartet und zu wenig getan. Aber entscheidend war die Kakophonie, also die Vielstimmigkeit der Erklärungen. Wenn man in zwei Tagen von vier verschiedenen europäischen Politikern vollkommen unterschiedliche Erklärungen bekommt, was soll denn da der Verantwortliche eines Hedge-Fonds oder ein Fondsmanager machen?
Ist der Euro jetzt gerettet?
Vielleicht können wir die aktuelle Krise aufhalten, bei der wir uns in den Händen von Märkten und Rating-Agenturen befinden, die vollkommen unterschiedliche Botschaften ausgeben. Ich denke, wir können aus der Krise herauskommen, aber dazu muss man vieles wieder aufbauen.
Was kann man gegen die Krise konkret tun?
Ich denke, der Präsident der Europäischen Kommission muss wieder sichtbarer werden. Das ist heute nicht mehr so. Der Europäische Rat sollte sich nicht mit Detailfragen beschäftigen, sondern die großen Linien vorgeben. Wir brauchen Institutionen, die von morgens bis abends an Europa denken und nicht nur manchmal: Das tun die europäischen Institutionen, allen voran die Europäische Kommission.
Europa wird immer größer. Kann ein Europa mit bald 28 Ländern überhaupt noch effektiv arbeiten?
Es gibt Augenblicke in der Politik, in denen es nicht nur ein gutes Gefühl, sondern echte Glücksmomente gibt: Das Ende des Kommunismus war ein solcher Moment, und wir hätten es nicht anders machen können, als die Europäische Union zu erweitern. Bald sind wir vielleicht 32 Länder. Und gerade deswegen ist die verstärkte Zusammenarbeit auch eine Notwendigkeit. Wir brauchen in Europa einen Motor, der vorangeht und an den sich andere Länder anhängen können, wenn sie dazu in der Lage sind.
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