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Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 16. Juli 2012)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) wirbt für die Errichtung einer Bundesstiftung als Trägerin der Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus. Eine solche Bundesstiftung solle erstens für Kontinuität bei der Finanzierung der Programme sorgen, sagte Thierse in einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. „Zweitens wäre das nicht mehr nur eine staatliche Einrichtung. In ihren Gremien ist dann auch die Zivilgesellschaft ganz anders vertreten“, fügte der SPD-Politiker hinzu. Sie wäre „damit auch unabhängiger gegenüber parteipolitischen Stimmungsschwankungen und dem Wechsel der Regierungen“. Derzeit sind das Bundesfamilien- und das Bundesinnenministerium für die Bundesprogramme zuständig.
Thierse wandte sich zugleich gegen die sogenannte Extremismusklausel, die Initiativen gegen Rechtsextremismus als Zuwendungsvoraussetzung verpflichtet, sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu bekennen und eine entsprechende Erklärung auch für alle Partner abzugeben, mit denen sie zusammenarbeiten. Der Hauptkritikpunkt bei der Neuausrichtung der Bundesprogramme durch Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) sei, „dass sie von einer Grundhaltung des Misstrauens gegenüber denjenigen bestimmt sind, die versuchen, sich vor Ort gegen Rechtsextremismus zu wehren“, monierte der frühere Parlamentspräsident. Der demokratische Staat lebe vom Vertrauen in die Bürger, die sich für die Demokratie engagieren. Er müsse die Zivilgesellschaft durch Vertrauen einladen, die Demokratie zu verteidigen, „und dafür auch – gewiss kontrolliert – Geld zur Verfügung stellen, und zwar kontinuierlich“.
Mit Blick auf die Ermittlungspannen im Zusammenhang mit der dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) angelasteten Morden an türkisch- und griechischstämmigen Kleinunternehmern und einer Polizistin plädierte der Vizepräsident des Bundestages zudem für eine stärkere Kontrolle des Verfassungsschutzes. „Wir haben es mit dem Verdacht zu tun, dass der Verfassungsschutz auf dem rechten Auge blind war oder jedenfalls nicht hinsehen wollte. Daraus muss man Konsequenzen ziehen“, sagte Thierse. Er glaube, „dass eine stärkere politische Kontrolle und Anbindung sowie weniger Geheimhaltung notwendig sind“.
Das Interview im Wortlaut:
Der Verfassungsschutz schreddert Akten über thüringische Rechtsextremisten, kurz nachdem bekannt wurde, dass die Zwickauer Terrorzelle für die Mordserie an türkischen und griechischen Kleinunternehmern und einer Polizistin verantwortlich sein soll. Reichen da Rücktritte wie der von Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm als Konsequenz?
Thierse: Mit Sicherheit nicht. Denn sowohl dieser spektakuläre Vorgang des Schredderns von Akten nach Bekanntwerden der Taten wie überhaupt die ganze Mordserie ist von so beunruhigender Qualität, dass ein paar personelle Konsequenzen nicht ausreichen. In Frage steht der Verfassungsschutz insgesamt, seine Struktur, seine Aufgabenstellung, die Mentalität derer, die dort arbeiten. All das muss öffentlich debattiert und es müssen die notwendigen Konsequenzen gezogen werden; sonst gewinnt der Verfassungsschutz nicht wieder das Vertrauen, das er für seine nicht ganz leichte Aufgabe braucht.
Zu den schon gezogenen Konsequenzen gehören das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus und die Verbunddatei, die den Erkenntnisaustausch zwischen Polizei und Verfassungsschutz von Bund und Ländern verbessern soll. Das reicht nicht aus?
Thierse: Das ist eine erste, richtige Konsequenz, denn nach den bisherigen Ergebnissen der Untersuchungen hat es ja beträchtliche Kommunikationspannen gegeben – de facto das Gegenteil von Kooperation, nämlich Eifersüchtelei, dümmste Geheimbündelei. Aber was noch viel schlimmer ist: Wir haben es mit dem Verdacht zu tun, dass der Verfassungsschutz auf dem rechten Auge blind war oder jedenfalls nicht hinsehen wollte. Daraus muss man Konsequenzen ziehen. Ich glaube, dass eine stärkere politische Kontrolle und Anbindung sowie weniger Geheimhaltung notwendig sind.
Trotz seiner V-Leute bei den Rechtsextremen hat der Verfassungsschutz all die Jahre nichts zur Aufklärung der Verbrechen beigetragen. Stimmt da was nicht mit dem System der V-Leute?
Thierse: Die weitere Verwendung von V-Leuten bedarf der ausdrücklichen Rechtfertigung. Bisher musste man sagen, warum V-Leute problematisch sind. Jetzt muss man erklären, warum V-Leute weiterhin noch notwendig sind. Ich kenne natürlich die Argumentation, dass man an bestimmte Informationen nicht kommt, wenn man dort nicht Leute einschleust. Aber wenn diese Leute nicht nur Informanten sind, sondern Mittäter, und der Eindruck entstehen musste, dass mit staatlichem Geld und in staatlichem Auftrag rechtsextremistische Aktivitäten befördert und unterstützt wurden, dann ist das ein solch spektakulärer Vorgang, dass das ganze V-Leute-System in Frage steht.
Die V-Leute gelten auch als ein entscheidendes Hindernis für ein neues NPD-Verbotsverfahren. Welche Bedingungen müssen außerdem erfüllt sein, damit ein Verbotsverfahren wirklich Erfolg hat?
Thierse: Ich bin dafür, dass ein neuer Verbotsversuch unternommen wird. Und da die V-Leute dabei ein Hindernis sind, wie das Bundesverfassungsgericht beim ersten Verbotsverfahren festgestellt hat, muss man wenigstens in Führungsgremien der NPD auf sie verzichten.
Ist das Risiko eines solchen Verfahrens nicht zu hoch: Ein erneutes Scheitern...
Thierse: ...ein erneutes Scheitern wäre ein Triumph für die NPD. Deshalb darf es nicht noch mal scheitern. Aber das Verfassungsgericht hatte damals ja nicht wirklich das Verbot abgelehnt, sondern gesagt, dass das Beweismaterial nicht auf eindeutige Weise zustande gekommen ist. Einige Richter sagten: Beweise, die gewissermaßen mit staatlicher Unterstützung zustande gekommen sind, sind nicht objektiv genug, um sie als Grundlage eines Verbotsverfahrens zu verwenden.
Ein Verbot würde der NPD den Geldhahn zudrehen – das wäre sicher der Vorteil. Andererseits ist sie in manchen Gebieten stark verankert. Ist es da nicht gefährlich, die NPD in den Untergrund zu treiben?
Thierse: Das wichtigste Argument für ein Verbot ist in der Tat, den Skandal zu beenden, dass der demokratische Staat seine Feinde finanziert. Zweitens würde ein Teil der organisatorischen Basis der rechtsextremen Szene zunächst einmal zerschlagen. Drittens weiß ich natürlich, dass man rechtsextremistische Gesinnung, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus durch ein NPD-Verbot nicht aus den Köpfen und Herzen von Menschen verbannen kann. Wir brauchen weiter alle Anstrengungen, etwa bei der politischen Bildung, der Aufklärung.
Es gibt ja auch die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus. Die Opposition wirft der Regierung vor, diese Programme nicht hinreichend zu unterstützen. Was muss sich ändern?
Thierse: Der Hauptkritikpunkt ist bei der Neuausrichtung der Bundesprogramme, dass sie von einer Grundhaltung des Misstrauens gegenüber denjenigen bestimmt sind, die versuchen, sich vor Ort gegen Rechtsextremismus zu wehren. Die Extremismusklausel, bei der diese Gruppierungen ein Treuebekenntnis zum Grundgesetz ablegen müssen – für sich und diejenigen, mit denen sie zusammenarbeiten –, halten wir für problematisch. Der demokratische Staat lebt vom Vertrauen in die Bürger, die sich für die Demokratie engagieren. Nicht nur Staat, Polizei und Justiz sind zuständig für die Bekämpfung des Rechtsextremismus, sondern die Gesellschaft insgesamt. Der Staat muss die Zivilgesellschaft durch Vertrauen einladen, die Demokratie zu verteidigen, und dafür auch – gewiss kontrolliert – Geld zur Verfügung stellen, und zwar kontinuierlich.
Sie schlagen die Gründung einer Stiftung vor, die die Bundesprogramme tragen sollen. Was hätte das für Vorteile?
Thierse: Eine solche Bundesstiftung soll erstens diese Kontinuität erzeugen. Zweitens wäre das nicht mehr nur eine staatliche Einrichtung. In ihren Gremien ist dann auch die Zivilgesellschaft ganz anders vertreten. Sie wäre damit auch unabhängiger gegenüber parteipolitischen Stimmungsschwankungen und dem Wechsel der Regierungen.
Was kann der Bundestag noch gegen Rechtsextremismus leisten?
Thierse: Neben vernünftigen Entscheidungen, etwa über eine solche Stiftung, wünsche ich mir, dass der Bundestag in jeder Legislaturperiode einmal über den sozial-moralischen Zustand unserer Gesellschaft debattiert – also über Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus, letztlich über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in unserem Lande, wie der Soziologie Wilhelm Heitmeyer diese Phänomene zusammenfassend benennt. Die Bundesregierung sollte über diese gesellschaftlichen Zustände und über die Wirksamkeit der Bundesprogramme einen Bericht vorlegen. Dann kann das Parlament darüber diskutieren und auch Konsequenzen daraus ziehen.
Und wo sehen Sie den einzelnen Bürger gefragt?
Thierse: Die Zivilgesellschaft ist genauso herausgefordert zu widersprechen, wenn Rechtsextreme die Straßen und Plätze unserer Republik besetzen wollen. Deswegen habe ich es immer sympathisch gefunden, wenn in Dresden, Berlin oder anderswo Bürger sich dagegen wehren, dass die NPD aufmarschiert. Die Bürger haben das Recht und die Pflicht, ihre Demokratie und damit ihre Straßen und Plätze zu verteidigen. Dafür darf man sie nicht kriminalisieren.
Sie haben vor zwei Jahren selbst an einer Sitzblockade gegen einen Neonazi-Aufmarsch teilgenommen und dafür viel Kritik geerntet – würden Sie das heute wieder machen?
Thierse: Das kommt auf die Situation an. Wenn ich andere dazu auffordere, die Demokratie zu verteidigen, Zivilcourage zu zeigen und ihre Straßen und Plätze nicht schweigend den Rechtsextremen zu überlassen, muss das auch für mich selbst gelten. In einer solchen Situation leiste ich zivilen Widerstand, der im Übrigen durch unsere Verfassung und unser Verfassungsgericht legitimiert ist.
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