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Sehr geehrter Herr Müller,
Herr Bundeskanzler,
meine Damen und Herren Minister und Senatoren,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten Europas, des Bundes und der Länder,
Exzellenzen,
liebe Frau Lübbe,
meine Damen und Herren!
„Banken sind gefährlicher als stehende Armeen.“ Dieser Satz ist selbstverständlich nicht von mir, sonst wäre ich sicher auch nicht eingeladen worden, schon gar nicht zum festlichen Abend aus Anlass des Deutschen Bankentages. Dieser Satz stammt auch nicht von Rudi Dutschke, dem er zuzutrauen wäre, oder von Che Guevara, sondern von Thomas Jefferson, einem anderen bedeutenden Revolutionär, einem erfolgreichen darüber hinaus, einem der Gründungsväter der Vereinigten Staaten und deren dritter Präsident.
Seit seinen Tagen hat sich die Welt gründlich verändert: nicht nur die stehenden Armeen und die Banken; die Verfassung der Wirtschaft vielleicht noch mehr als die Verfassung der Staaten. Seit damals die Vereinigten Staaten ihre Unabhängigkeit erklärt und durchgesetzt haben, ist Europa nicht mehr das unangefochtene Zentrum der Welt. Auf die großen bürgerlichen Revolutionen ist im 19. Jahrhundert die Epoche der Nationalstaaten gefolgt, auf die Umwälzung der Wirtschaft durch Industrialisierung und technologische Innovationen die Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung, auf deren Herausforderungen durch marxistische Systemkritik und kommunistische Utopien der Sozialstaat als eine systemkorrigierende Weiterentwicklung.
Auf den wachsenden Finanzbedarf expandierender Unternehmen und teurer technischer Innovationen erfolgte die Gründung von Aktiengesellschaften. Inzwischen ist die virtuelle Wertschöpfung auf den Finanzmärkten höher als die reale auf den Gütermärkten. Manchmal würde man sich wünschen, dass die Schnelligkeit in der Erfindung und der Umsetzung fantasievoller Finanzprodukte maßstäblich würde für ähnlich schnelle Entwicklungen und deren Umsetzung auch bei modernen Industrieprodukten.
Auf den jahrzehntelangen Wettbewerb und Wettkampf der Systeme erfolgten am Ende des 20. Jahrhunderts der spektakuläre, aber beinahe lautlose Zusammenbruch eines kommunistischen Imperiums und der vergleichsweise leise Triumph von Demokratie und Marktwirtschaft. Von Ausmaß und Tempo dieser Veränderungen euphorisierte Beobachter haben voreilig und vollmundig das „Ende der Geschichte“ proklamiert, so ein damals viel gelesener Bestseller von Francis Fukuyama. Tatsächlich ist die Geschichte natürlich nicht zu Ende. Sie geht weiter und sie stellt uns mit Globalisierung, Migration, Integration, Terrorismus, Klimawandel und Umweltzerstörung vor viele neue große Herausforderungen, für die wir ganz sicher und schon gar nicht abschließende überzeugende Antworten gefunden haben.
Die Beobachtung internationaler Entwicklungen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft hat manche Hoffnungen, aber auch manche Befürchtungen befördert. Einer der klugen Beobachter langfristiger gesellschaftlicher Entwicklungen, Ralf Dahrendorf, hat schon vor einer Reihe von Jahren seine ausdrückliche Besorgnis zu Protokoll gegeben, wir stünden vielleicht an der Schwelle zu einem autoritären Jahrhundert. Gemeint hat er selbstverständlich das 21. Jahrhundert, in dem wir uns inzwischen längst befinden.
Vielleicht ist es für einen Vortrag, bei dem der Veranstalter – freundlicherweise und leichtsinnigerweise zugleich, jedenfalls außerordentlich großzügig – darauf verzichtet hat, ein Thema vorzugeben, keine völlig unangemessene Einleitung in diesen Bankentag, ein paar jener Überlegungen vorzutragen, die vielleicht morgen in die weiterführenden Diskussionen über die aktuellen Herausforderungen für Politik und Wirtschaft einmünden können, die im Programm angekündigt sind.
Ralf Dahrendorf hat damals in einem denkwürdigen Essay darauf hingewiesen, dass die unvermeidliche Globalisierung der Weltwirtschaft zugleich eine massive Gegentendenz befördere im Sinne einer entschiedenen Wendung zu kleineren Räumen als den Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts. Es gebe einen neuen Regionalismus, die Neigung, sich in immer kleineren Einheiten zusammenzufinden, einen neuen Lokalismus, die Suche nach Gemeinschaft in allen möglichen vertrauten wie auch neuen Formen.
Seine Befürchtung war – und ist es vielleicht noch –, dass beide Tendenzen zugleich stärker werden und außer Kontrolle geraten könnten: die Globalisierung auf der einen und die Regionalisierung auf der anderen Seite. Was bei dieser Doppelentwicklung auf der Strecke bleibe, sei der Nationalstaat als Gehäuse für Rechtsstaat und Demokratie.
Um hier kein Missverständnis zu erzeugen: Dahrendorf sorgt sich weniger um den Nationalstaat als eine historische Ikone. Wenn ich ihn zitieren darf: „Globalisierung entzieht dem einzigen Domizil der repräsentativen Demokratie, das bisher weltgeschichtlich funktioniert hat, nämlich dem Nationalstaat, seine ökonomische Grundlage.“ Das, meine Damen und Herren, ist jedenfalls nicht schlicht banal, sondern das ist eine Beobachtung, mit der es sich auseinander zu setzen lohnt, selbst dann, wenn man sie im Ergebnis – wie ich persönlich beispielsweise – nicht für zutreffend hält.
Es gibt aber einen zweiten Punkt, den ich gerne aufgreifen möchte. Dahrendorf begründet seine Befürchtung, wir könnten vielleicht an der Schwelle eines autoritären Jahrhunderts stehen, auch mit der zunehmenden Konkurrenz von untereinander im Wettbewerb befindlichen alternativen Kapitalismusmodellen. Es gebe, so schreibt er, eine weltweite Entwicklung, bei der sich die Volkswirtschaften der Welt, schon gar die entwickelten Volkswirtschaften, jeweils auf der Suche nach funktionstüchtigen und zugleich attraktiven Rahmenbedingungen für die politische und ökonomische Entwicklung, für Wirtschaftswachstum, für soziale Sicherheit und demokratische Mitwirkung befinden. Diese Suche nach attraktiven Rahmenbedingungen der weiteren Entwicklung habe sich längst in ganz unterschiedlichen Modellen verdichtet, die er als asiatische, als angelsächsische und als rheinische Variante des Kapitalismus beschreibt. Das Kapitalismus-Modell, das sich vor allen Dingen in Asien entwickelt hat, zeichne sich durch ein hohes wirtschaftliches Wachstum aus und ein beachtliches Maß an sozialer Konsistenz, aber gleichzeitig durch ein vergleichsweise geringes Maß an demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten, das angelsächsische Modell des Kapitalismus durch ein hohes Maß an Demokratie und ein beachtliches Maß an stetigem Wirtschaftswachstum bei gleichzeitig weitgehendem Verzicht auf eine jedenfalls rechtlich organisierte und einklagbare soziale Verfassung der Gesellsc haft. Davon unterscheidet Dahrendorf den rheinischen Kapitalismus: Er bedeutet ein hohes Maß an einklagbaren sozialstaatlichen Ansprüchen und ein beachtliches Maß an demokratischer Partizipation bei gleichzeitigem Verzicht auf Wirtschaftswachstum.
Das ist zugegebenermaßen ein bisschen kompakter vorgetragen, als dies ein Wissenschaftler von seiner Reputation zu schreiben pflegt. Aber wenn ich in einem Originalzitat verdeutlichen darf, worum es ihm geht, werden Sie hoffentlich nicht die Befürchtung haben, es sei eine grob mutwillige Verkürzung seines Arguments. Dahrendorf schreibt: "Wenn die Volkswirtschaften denn schon eine Wahl treffen müssen, dann haben sie lieber Wirtschaftswachstum und sozialen Zusammenhalt mit weniger Demokratie – wie in Asien – als Wirtschaftswachstum und Demokratie ohne Solidarität – wie in der angelsächsischen Welt – oder Solidarität und Demokratie ohne Wirtschaftswachstum – wie im rheinischen Modell."
Auch hier empfehle ich uns sehr, uns mit dieser Beobachtung auseinander zu setzen, selbst dann, wenn wir am Ende die Besorgnis, die hier zum Ausdruck gebracht wird, aus bestimmten Gründen vielleicht nicht teilen. Jedenfalls ist der Verdacht nicht gänzlich unbegründet, dass die drei hier genannten großen Zielorientierungen sich nicht ganz selbstverständlich und auf natürliche Weise zu einer Trias zusammenfügen, die sich wechselseitig stützt, sondern dass es hier widerstrebende Kräfte gibt, die durch ein intelligentes Zusammenwirken von Politik und Wirtschaft zu einer optimalen gesamtgesellschaftlichen Entwicklung gebracht werden müssen.
Nun brauchen wir keine Bankentage, um uns davon zu überzeugen, dass sich Entwicklungen – jedenfalls historische, gesamtgesellschaftliche Entwicklungen – nicht nach heimlichen unaufhaltsamen historischen Schicksalsmächten vollziehen, sondern dass sie Ergebnis unserer eigenen Entscheidungen sind, unseres eigenen Verhaltens. Deswegen ist schon gar die hier vorgetragene Befürchtung natürlich kein unabänderbares Ereignis, sondern die Beschreibung eines Szenarios, das dann, wenn es nicht von vornherein abwegig ist, durch kluges Handeln vermieden, mindestens in zumutbaren Grenzen gehalten werden kann.
Dazu will ich ein paar Bemerkungen machen. Ich glaube persönlich erstens nicht, dass wir uns um den Nationalstaat ernsthafte Sorgen machen müssen. Das Identifikationsbedürfnis der Menschen ist in Zeiten der Globalisierung eher gewachsen als geringer geworden. Das Bedürfnis, irgendwo zu Hause zu sein, irgendwo feste Wurzeln zu haben, irgendwo angebunden zu sein, irgendwo Orientierungen zu haben, die in einer Welt gelten, die sich immer mehr verändert und von der man weiß, dass man auf diese Veränderungen nur in begrenztem Umfang Einfluss nehmen kann, ist eher gewachsen.
Wir machen ja im Übri gen seit einigen Monaten eine bemerkenswerte neue Erfahrung, was die Artikulation dieses Bedürfnisses auch in Deutschland angeht. Die Neigung, das offensiv zu formulieren, ist aus vielerlei Gründen in Deutschland etwas weniger stark entwickelt als in den allermeisten unserer Nachbarstaaten. Aber auch hier machen wir zunehmend die Beobachtung: Je komplizierter die Welt wird, in der wir leben, desto größer wird das Bedürfnis nach Identifikation, nach Festlegungen, nach Bindungen, in denen man sich im wörtlichen und im übertragenen Sinne zu Hause fühlt.
Allerdings spricht zweitens manches dafür, dass weniger der Nationalstaat als vielmehr die Nationalökonomie abgedankt hat. "Volkswirtschaften" gibt es nicht mehr. Oder etwas weniger salopp formuliert: "Volkswirtschaften" gibt es eigentlich nur noch als Rechengrößen, aber nicht mehr als Handlungsebenen. Der Spielraum von Unternehmen entfernt sich nicht nur im physischen Sinne immer stärker vom Sitz des Unternehmens, vom Gründungssitz gar nicht zu reden. Das hat auch nicht notwendigerweise etwas mit den einzelnen Landesgrenzen zu tun. Man kann geradezu als feste Regel davon ausgehen: Je bedeutender ein Unternehmen ist, je größer seine Relevanz ist, desto sicherer ist sein Aktionsspielraum weit über die Grenzen der eigenen Herkunftsvolkswirtschaft hinaus orientiert.
Unternehmen orientieren sich nicht an Volkswirtschaften, sondern an Märkten – übrigens nicht nur an den Märkten, die sie heute bedienen, sondern an den Märkten, die sie morgen bedienen müssen. Das führt zwangsläufig zu dem Effekt einer immer stärkeren Emanzipation der Orientierung, der Betrachtungsweise, auch der Handlungszwänge und der Entscheidungsbedürfnisse über nationale Kontexte hinaus und damit über den Bereich der Volkswirtschaften hinaus. Wir werden auch in Zukunft volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen behalten. Der Finanzminister wird aus vielerlei Gründen großen Wert darauf legen müssen. Aber wir dürfen damit nicht die Illusion verbinden, wir hätten mit solchen mathematischen Summierungen von volkswirtschaftlichen Effekten eine hinreichende Beschreibung der ökonomischen Aktivitäten vorgenommen, mit denen wir es tatsächlich zu tun haben und die sich natürlich längst in sehr viel größeren Kontexten abspielen.
Zu den ganz großen und sicher epochalen Veränderungen und ganz sicher irreversiblen Fortschritten der Neuzeit gehört die europäische Entwicklung. Der europäische Binnenmarkt ist unter den Bedingungen der Globalisierung Voraussetzung für die Selbstbehauptung der dazugehörigen Volkswirtschaften. Keine Volkswirtschaft allein hätte unter den Bedingungen der Globalisierung eine ernsthafte Überlebenschance, geschweige denn eine Wettbewerbschance. Diese Binnenmärkte erfordern eine gemeinsame Währung, eine Konvergenz der Wirtschaftspolitik mindestens insoweit, als auf diesem Wege ihre Stabilität gesichert werden kann und muss. Eine solche Wirtschafts- und Währungsunion, wie sie sich nun seit Jahren entwickelt, wird den Binnenmarkt vollenden, die Arbeitsteilung weiter vertiefen, den Wettbewerb verschärfen und als eine mehr oder weniger gewünschte Nebenwirkung auch den politischen Integrationsprozess vorantreiben.
Wenn wir uns das Empfinden der Menschen im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen nüchtern vor Augen halten, dürfen wir uns nichts vormachen: Keine dieser Wirkungen ist wirklich populär – die gemeinsame Währung nicht, die Verschärfung des Wettbewerbs schon gar nicht, der Binnenmarkt nicht und die Vertiefung der politischen Integration auch nicht, jedenfalls im Augenblick nicht. Dennoch – das sage ich heute Abend besonders gerne – haben wir in der Amtszeit von Helmut Kohl als Bundeskanzler wirklich den historischen Nachweis erlebt, dass Einsichten auch umgesetzt werden können, wenn es dafür (noch) keine Mehrheiten gibt, dass es möglich ist, Einsichten Wirklichkeit werden zu lassen und sie mehrheitsfähig zu machen, auch wenn sie nicht das Ergebnis von Volksaufständen oder Massendemonstrationen sind, wenn sie eher mühsam als notwendige Veränderungen der Rahmenbedingungen für die Bewältigung gemeinsamer Zukunftsherausforderungen in das Bewusstsein von Menschen gehoben werden müssen.
Die wichtigsten Treibsätze der Globalisierung sind ganz sicher Information und Mobilität. Wir leben in einer Welt, in der eine Information, die überhaupt verfügbar ist, prinzipiell an jedem Ort der Welt gleichzeitig verfügbar ist. Das verändert fundamental die Lage gegenüber allen früheren Epochen der Wirtschaftsgeschichte. Wir leben gleichzeitig in einer Welt, in der nahezu jeder Platz auf dieser Welt, schon gar, wenn er ökonomisch relevant ist, in aller Regel innerhalb eines Tages erreicht werden kann. Unter diesen beiden Bedingungen – gleichzeitige Verfügbarkeit prinzipiell aller Informationen und extrem schnelle Erreichbarkeit nahezu jeden Platzes – ist Globalisierung möglich geworden. Und weil sie möglich geworden ist, ist sie unvermeidlich geworden. Die Vorstellung, es wäre anders vielleicht auch ganz schön, oder früher sei das alles viel einfacher gewesen, ist allenfalls von historischem Reiz. Sie ist jedenfalls nicht mehr wirklichkeitsnah. Mit diesen stattgefundenen Veränderungen ist Globalisierung unvermeidlich geworden. Niemand, der, wo auch immer, Verantwortung hat – in der Wirtschaft oder in der Politik –, kann sich den daraus ergebenden Zwängen entziehen.
Von allen Veränderungen der Märkte, mit denen wir es in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu tun hatten – in Deutschland, in Europa, in der ganzen Welt –, ist der mit Abstand am meisten betroffene Produktionsfaktor die Arbeit. Das ist keine sonderlich originelle Bemerkung, das gebe ich zu. Aber wir können die Dramatik der Veränderung, die sich mit Blick auf die Arbeitswelt für den Stellenwert des Produktionsfaktors Arbeit unter den grob geschilderten veränderten Bedingungen längst ergeben hat, kaum überschätzen. Die Arbeit hat gewissermaßen begonnen, ihren Aggregatzustand zu verändern. Feste Arbeitsverhältnisse verwandeln sich zunehmend in flexible Arbeitsverhältnisse. Starre Arbeitszeiten und Entlohnungsregelungen verflüchtigen sich. Selbst der Arbeitsplatz als Betriebsstätte ist zunehmend eher im Internet zu finden als auf einer konkreten Landkarte.
Es gibt nicht wenige Fachleute, die mit beachtlichen Gründen darauf hinweisen, dass wir uns längst am Ende der traditionellen Erwerbsgesellschaft befinden. Wachstum entsteht nicht mehr notwendigerweise durch Arbeit, sondern immer häufiger durch Wissen. Weder schafft Wachstum verlässlich Arbeit, noch schafft Arbeit notwendigerweise Wachstum. Die Wohlstandsentwicklung verläuft zunehmend unabhängig von der Beschäftigungsentwicklung. Arbeit und damit verbundenes Einkommen verhindern nach wie vor – jedenfalls in aller Regel – verlässlich Not. Wohlstand entsteht durch Kompetenz. Die Bedeutung der Verbindung von Kapital und Wissen für die Wertschöpfung nimmt ständig zu; der Anteil der Erwerbsarbeit daran nimmt ab – übrigens ebenso wie der Anteil der Arbeitskosten.
Immer weniger Erwerbstätige haben einen immer höheren Anteil an der Wertschöpfung. Niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte ist mit so niedrigem Arbeitseinsatz ein so hohes Sozialprodukt erzeugt worden wie heute. Am Beginn der modernen Wirtschafts- und Staatsentwicklung, die ich vorhin mit dem Zitat von Jefferson angedeutet habe, im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, betrug die durchschnittliche Jahresarbeitszeit des Erwerbstätigen in Deutschland weit über 4.000 Stunden. Am Beginn des vorigen Jahrhunderts betrug die durchschnittliche Jahresarbeitszeit der Erwerbstätigen noch immer etwas mehr als 3.000 Stunden. Jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, beträgt die durchschnittliche Dauer der Erwerbstätigkeit pro Jahr in allen entwickelten Volkswirtschaften der Welt deutlich unter 2.000 Stunden, in Deutschland eher 1.500 als 1.600 Stunden.
Die Lohnquote an der Wertschöpfung sinkt – übrigens nicht erst seit gestern oder vorgestern, sondern, wie jede bereinigte Statistik zeigt, seit dem Ende der siebziger Jahre. Sie sinkt auch nicht nur in Deutschland, sondern in allen im Entwicklungsstand mit uns vergleichbaren Volkswirtschaften. Das Volkseinkommen besteht immer weniger aus Löhnen – es besteht immer stärker aus Gewinnen und Erträgen. Das ist keine billige Polemik, schon gar keine marxistische Systemkritik. Diese simple Wahrheit können Sie Jahr für Jahr den Berichten des Statistischen Bundesamtes oder auch der Bundesbank entnehmen.
Dass dies jenseits aller ökonomischen Zwangsläufigkeiten Fragen an die Konsistenz dieser Gesellschaft stellt, darf dabei allerdings nicht übersehen werden. Das Wachstum, das eher sehr bescheidende Wachstum unserer Volkswirtschaft geht seit Anfang der achtziger Jahre komplett auf das Konto der Unternehmenserträge und der Vermögenseinkünfte. Das gesamte Arbeitseinkommen unserer Volkswirtschaft ist seitdem nicht mehr gestiegen, es ist unverändert hoch geblieben. Es verteilt sich auf immer weniger Vollerwerbstätige und auf immer mehr Teilzeitbeschäftigte – mit den unvermeidlichen Folgen für die Einkommens- und Vermögensverteilung in unserer Gesellschaft.
Damit werden wir uns auseinander setzen müssen, einschließlich eines offensichtlich dramatischen Versäumnisses, nämlich der von allen Beteiligten nicht mit hinreichendem Ernst verfolgten Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen. Dass der Zustand der Beteiligung am Produktivvermögen in Deutschland inzwischen um Längen hinter den Daten zurückbleibt, die wir in der französischen und der britischen Wirtschaft registrieren, gehört zu den, wie ich finde, dringlichen Fragezeichen, um deren Auflösung wir uns in Zukunft gemeinsam bemühen müssen.
Sie dürfen gerade dieser letzten Bemerkung entnehmen, dass ich diese Rede, um die Sie mich gebeten haben, dazu nutzen möchte, zu einer notwendigen gemeinsamen Anstrengung der Politik und der Wirtschaft zur Lösung dieser Zukunftsherausforderungen einzuladen. Mit der Beantwortung dieser Fragen ist die Politik allein genauso überfordert wie die Wirtschaft. Aber weder die einen noch die anderen werden sich auf ihre jeweiligen Handlungszwänge und ihre jeweilige Systemlogik berufen dürfen, wenn ihnen gemeinsam die Lösung dieser Probleme nicht gelingt. Wenn morgen Nachmittag nach dem Programm Ihres Bankentages von den Handlungszwängen und den Gestaltungsspielräumen in einer globalisierten Welt die Rede sein wird, dann wird ganz sicher deutlich werden, dass es nicht nur wirtschaftliche Handlungszwänge und politische Gestaltungsspielräume gibt, sondern dass es auch politische Handlungszwänge bei wirtschaftlichen Gestaltungsspielräumen gibt. Jedenfalls brauchen wir hier dringend eine Kooperation, neue Formen wirkungsvoller Zusammenarbeit. Nachdem dies gerade in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten in einer Weise möglich war, die über viele Jahre hinweg weltweit geradezu als maßstäblich angesehen worden ist, bin ich fest davon überzeugt, dass uns das auch in Zukunft gelingen kann.
Wir stehen vor einer Reihe alter und neuer Herausforderungen. So richtig der Hinweis auf die neuen Probleme, die neuen Chancen, aber auch die neuen Fragestellungen in Zeiten der Globalisierungen ist, so wenig dürfen wir das mit dem Kurzschluss versehen, damit hätten sich alle alten Fragestellungen erledigt. Die Frage nach der Sozialpflichtigkeit des Eigentums beispielsweise, die eine der Grundentscheidungen unserer Wirtschafts- und Sozialverfasung ist, hat sich in Zeiten der Globalisierung nach meinem Verständnis nicht von selbst erledigt. Wenn von Ihnen irgendjemand der Meinung sein sollte, die Frage sei längst abschließend beantwortet, möge er sich nach Schluss der Veranstaltung bitte bei mir melden, denn an dieser Auskunft wäre ich hochinteressiert. „Shareholder Value“ ist sicher nicht die englische Übersetzung von „Gemeinwohl“. Sie gehört im Übrigen auch nicht zu den Werten, die Thomas Jefferson und seine Kollegen zu den Wahrheiten gezählt haben, die in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung für selbstverständlich erklärt wurden.
Wir müssen über manche Zusammenhänge gemeinsam neu nachdenken. Wir müssen auch gemeinsam neue Antworten auf manche Fragen finden, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, dass uns bei aller Rationalität im Angehen und Bewältigen von Problemen der Kontakt zu den Menschen verloren geht, die wir mitnehmen müssen, wenn diese Gesellschaft nicht nur leistungsfähig, sondern auch human, nicht nur effizient, sondern auch demokratisch bleiben soll.
Ich habe keinen Zweifel daran – um die Befürchtung von Ralf Dahrendorf noch einmal aufzugreifen –, dass die moderne Gesellschaft des 21. Jahrhunderts weder auf Wirtschaftswachstum noch auf demokratische Mitwirkung wird verzichten wollen. Sie wird jedenfalls in Deutschland auch nicht auf ein Mindestmaß an politisch organisierter Solidarität verzichten können und wollen. Wenn das aber alles nicht mehr so selbstverständlich zueinander passt, wie wir unter den Bedingungen von Nationalstaaten und Volkswirtschaften lange Zeit mit einiger Berechtigung angenommen haben, dann müssen wir uns manche neuen Antworten einfallen lassen, um es unter den veränderten Bedingungen wieder aufeinander zuzuordnen. Dies ist eine Aufgabe, die wir gemeinsam anpacken müssen und anpacken werden.
Die Entwicklung des 21. Jahrhunderts ist genauso wenig vorhersehbar und genauso wenig präjudiziert wie die Entwicklung im 19. oder 20. Jahrhundert. Sie hängt von uns ab. Sie setzt Intelligenz und Engagement voraus – am besten beides: intelligentes Engagement. Dazu gehört der verantwortliche Einsatz vorhandener Machtmittel und Ressourcen – und über diese verfügt allein weder die Politik noch die Wirtschaft. Mit stehenden Heeren wird man heute vielleicht noch gerade die Risiken der Eigendynamik ungelöster Probleme weltweit eindämmen können. Für die Bewältigung der Probleme braucht man andere Mechanismen.
Das ist mit politischer Autorität allein genauso wenig zu lösen wie mit ökonomischer Kompetenz, sondern mit einer intelligenten Verbindung des einen mit dem anderen. Aber wenn das mit einer solchen Verbindung aus Problembewusstsein und Selbstbewusstsein angepackt wird, wie uns das Frau Lübbe bei der Eröffnung des Bankentages vorgeführt hat, dann habe ich keine Zweifel, dass uns das gemeinsam gelingt.