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Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,
aus dem Hessischen Landtag,
den kommunalen Vertretungskörperschaften,
sehr geehrte Frau Hesse,
verehrte Gäste,
meine Damen und Herren!
Die Eröffnung der beiden bedeutendsten Ereignisse, die in diesem Jahr in Deutschland stattfinden, die Fußballweltmeisterschaft und die 56. Hersfelder Festspiele, finden an zwei aufeinander folgenden Tagen statt. Dies ist ein schöner, glücklicher Zufall, den ich als bekennender Fußball- und Theaterfan ausdrücklich begrüße. Und ich empfinde es als ein ganz seltenes Privileg, dass ich nach der Premiere im Münchner Stadion gestern auch heute Abend an der Premiere in Bad Hersfeld dabei sein kann. Diese Freude wird nur unwesentlich getrübt durch die deprimierend offene Frage, worauf man sich in der zweiten Hälfte des Jahres eigentlich noch freuen soll, wenn die Höhepunkte vorbei sind.
Vielleicht kann ich Ihnen mit einem Zitat weiterhelfen: "In der Tat ist die Nachricht noch nicht in die Redaktionen vorgedrungen, dass Fußball als Kunstform den traditionellen Formen Literatur, Theater, Malerei und Musik bei weitem überlegen ist." Der Satz ist selbstverständlich nicht von mir, um Gottes willen. Er ist auch nicht von Johannes B. Kerner oder Manni Breukmann oder einem der begeisterten Fußballkommentatoren, der Satz ist von dem vorhin bereits vom Bürgermeister zitierten großen deutschen Dramatiker Bertolt Brecht, dem wir manche bemerkenswerte Einsicht und manche brillante Fehleinschätzung verdanken. Wir werden alle in den nächsten Tagen reichlich Gelegenheit haben, uns einen eigenen Eindruck davon zu verschaffen, welche der beiden Ereignisse in die eine und in die andere Kategorie fallen.
Ich möchte meinen Dank für die freundliche Einladung zu dieser Veranstaltung zu Beginn gleich dazu nutzen, allen Verantwortlichen, insbesondere der Stadt und ihren Bürgerinnen und Bürgern, meinen Respekt und meine Anerkennung für eine inzwischen über 50jährige stolze Tradition dieser Festspiele zum Ausdruck zu bringen. Diese Festspiele sind inzwischen fast so alt wie die Bundesrepublik Deutschland. Sie stellen insofern einen nicht ganz unwesentlichen Teil der Kulturgeschichte unseres Landes dar.
Aus bescheidenen Anfängen haben sich die Bad Hersfelder Festspiele zum wohl bedeutendsten Freilichttheater Deutschlands für Schauspiel und Musical entwickelt. Seit den 50er Jahren haben sie inzwischen drei Millionen Zuschauer gehabt. Das ist übrigens etwas mehr als wir in den 64 Spielen der Fußballweltmeisterschaft zusammen in den Stadien erwarten. Der Vollständigkeit halber muss hinzugefügt werden: das Budget ist wesentlich kleiner. Aber weil es so ist, und weil ich als langjähriger Kulturpolitiker weiß, wie mühsam das Zusammenbringen und Zusammenhalten solcher Budgets ist, und weil ich auch aus manchen Aufsichtsräten und Kuratorien anderer vergleichbarer Einrichtungen andere Relationen kenne, will ich ausdrücklich meinen Respekt dafür zum Ausdruck bringen, dass die Eigenmittel, die die Stadt für dieses Festival aufbringt, ziemlich genau doppelt so hoch sind wie die Mittel, die Bund und Land dafür zur Verfügung stellen. Ich werde gerne den gut gemeinten Appell an die Adresse des Bundes aufgreifen. Zwar kann ich nicht für die Bundesregierung sprechen, aber um Kulturpolitik habe ich mich früher gekümmert und werde das auch in Zukunft weiter tun. Den einen oder anderen von Ihnen mag beruhigen, dass ich mich schon in meinem früheren Leben als kulturpolitischer Sprecher meiner Fraktion beim Berliner Senat mit einer Bemerkung unbeliebt gemacht habe, die ich jederzeit wiederhole und natürlich aufrecht erhalte, dass nämlich das Kriterium für den Anspruch auf Bundesförderung nicht der Standort einer Institution sein kann und sei sie auch in Berlin. Es muss die Bedeutung eines Projektes sein, das die Förderung rechtfertigt.
Es gibt, meine Damen und Herren, viele große Kulturnationen. Aber es gibt nur wenige Staaten, die für Kunst und Kultur absolut und relativ so viele öffentliche Mittel einsetzen wie Bund, Länder und Gemeinden in Deutschland. Eigentlich hätte ich sie in umgekehrter Reihenfolge vortragen sollen. Die Gemeinden, die Länder sind die Träger, vor allem die finanziellen Träger der Kulturarbeit in Deutschland. Der Bund ergänzt das an vielen Stellen in einer hoffentlich wirkungsvollen Weise, und eine ausdrücklich eigene Zuständigkeit hat er eigentlich nur im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik. Aber wir haben jedenfalls ein über Jahrhunderte in Deutschland historisch gewachsenes System der staatlichen Förderung von Kunst und Kultur, das wir inzwischen alle miteinander für mehr oder weniger selbstverständlich halten, um das uns die meisten Länder der Welt beneiden. In Deutschland ist aus historischen Gründen die Überzeugung gewachsen und erhalten geblieben, dass die Förderung von Kunst und Kultur eine öffentliche Aufgabe sei. Das ist keineswegs überall so. In den Vereinigten Staaten werden Sie regelmäßig auf die gegenteilige Auffassung treffen, dass dies eine klassische private, bürgerschaftliche Aufgabe sei, für die es ganz sicher keine öffentliche Verantwortung gibt. Aus diesen beiden ganz unterschiedlichen prinzipiellen Einstellungen ergibt sich mit einer gewissen Folgerichtigkeit, dass 90 Prozent aller Aufwendungen für die Förderung von Kunst und Kultur in Deutschland aus öffentlichen Kassen stammt. 90 Prozent aus öffentlichen Kassen! Was es ansonsten an Einnahmequellen gibt, einschließlich der zu Recht gelobten Sponsoren, addiert sich im Ganzen auf etwa 10 Prozent der verfügbaren Mittel. In den Vereinigten Staaten sind die Relationen präzise umgekehrt. 90 Prozent aller Aufwendungen für Kunst und Kultur müssen in unterschiedlichster Weise privat mobilisiert werden, nur 10 Prozent kommen aus öffentlichen Kassen. Die unterschiedliche Art der Finanzierung hat heftige Folgen für die Art des Angebotes, die unter den einen und den anderen Bedingungen zustande kommt. Es gibt übrigens den einen oder anderen deutschen Intendanten, der nach fünf, sechs Jahren Amerikaaufenthalt begeistert nach Deutschland zurückkehrt, weil er die Vorzüge dieses Systems einer gewachsenen Kulturförderung erst in der Fremde richtig schätzen gelernt hat.
Da wir hier, meine Damen und Herren, naturgemäß insbesondere über Theater reden, würde ich Sie gerne darauf hinweisen, dass die öffentliche Hand jedes Jahr etwa zwei Milliarden Euro für die öffentlich getragenen Theater und Orchester ausgibt. Davon haben wir in Deutschland aber auch 150 öffentliche Theater, wir haben in Deutschland etwa 130 professionelle Opern- und Sinfonieorchester. Wir haben in Deutschland 150 Theater und Spielstätten ohne festes Ensemble, wir haben in Deutschland allein 40 große jährlich stattfindende Festspiele. Das ist ein imponierendes Angebot sowohl in der Zahl wie in der Qualität und dazu gehört, dass in Deutschland in jeder Spielzeit im Sprech- und Musiktheater etwa 2500 Werke in beinahe 6000 Inszenierungen pro Jahr aufgeführt werden. Das alles addiert sich übrigens auf eine Gesamtzahl von jährlich 35 Millionen Zuschauern aller Altersgruppen, die 110 000 Theateraufführungen und 7 000 Konzerte besuchen. Das ist eine ganze Menge, statistisch ist demnach etwa jeder zweite einmal im Jahr im Theater oder Konzert. Aber, meine Damen und Herren, ich füge ausdrücklich hinzu, das ist noch deutlich steigerungsfähig. Um Ihnen nur einmal einen Anhaltspunkt zu geben, die Zahl der jährlichen Besucher in Deutschlands öffentlichen Badeanstalten beträgt 165 Millionen - das erlaubt übrigens auch einen gewissen Aufschluss über die hygienischen und ästhetischen Bedürfnisse der Kulturnation Deutschland.
Ich glaube, dass gerade in modernen Gesellschaften der Bedarf an Kunst und Kultur aus vielerlei Gründen wächst. Das hat auch etwas mit dem Orientierungsbedürfnis von Menschen in einer immer komplizierteren, sich immer schneller verändernden Welt zu tun. Deswegen wächst auch das Interesse an Theateraufführungen, an Konzerten, an Museumsbesuchen. Es ist eine durchaus liebenswürdige, wenn auch gelegentlich mit Risiken verbundene Neigung, dass sich damit auch das Bedürfnis nach den großen Ereignissen verbindet, nach den großen Kulturinszenierungen, bei denen dann gelegentlich das gesellschaftliche Ereignis den künstlerischen Anspruch überlagert und bei denen gelegentlich Anzahl und Prominenz der Teilnehmer solcher Veranstaltung noch größer sind als ihre kulturelle Bedeutung. Auch das gibt's und das wird man auch bei solchem Anlass selbstkritisch an alle Verantwortlichen sagen dürfen. Einer der großen Festivalleiter in Deutschland, Ulrich Eckhard, der über 20 Jahre die Berliner Festspiele geleitet hat, hat einmal von den "Gefahren der Verführung zur Selbstfeier, zur Beliebigkeit, zur schieren Repräsentation" gesprochen. Das muss man schon im Auge behalten, ob und wann denn soziale Profilierungsbedürfnisse das künstlerische Profil unterbieten und ökonomische Interessen noch größer sind als die ästhetischen Ambitionen. Bad Hersfeld ist gegen all diese Versuchungen - wie ich hoffe - gefeit. Deshalb kann ich das ja hier auch gefahrlos vortragen, anderswo wäre ich längst vom Podium vertrieben worden. Dann hätte immerhin der Bürgermeister den Theaterskandal, für den er ja vorhin ausdrücklich geworben hat; das müssen wir wahrscheinlich für das nächste Jahr noch einmal eigens einüben.
Ich möchte gerne, bevor ich wie gewünscht meinen Beitrag zur Eröffnung dieser Festspiele leiste, ergänzend zu dem Hinweis auf die überragende Bedeutung der finanziellen Förderung durch die öffentliche Hand darauf hinweisen, dass diesem hohen Stellenwert der Finanzverantwortung eine entsprechende künstlerische Verantwortung selbstverständlich nicht gegenübersteht. Der Staat ist nicht für Kunst und Kultur zuständig. Zuständig ist er für die Bedingungen, unter denen sie stattfinden. Ob und welche Bücher in Deutschland geschrieben werden, welche Theaterstücke wo und wie oft aufgeführt werden, welche Bühnenbilder dafür gebaut, welche Inszenierungen dafür wie lange auf welchen Spielplänen gehalten werden: für all das ist Politik nicht zuständig.
Ich sage gelegentlich, die Größe eines Kulturpolitikers kann man daran erkennen, ob er zur Einsicht in die eigene Bedeutungslosigkeit in der Lage ist. Und zu der souveränen Fröhlichkeit, anderen die Bedingungen zu verschaffen, die sie brauchen, um Kunst und Kultur produzieren zu können. Und genau das ist - glaube ich - das Verständnis von politischer Verantwortung von Kunst und Kultur, das wir in diesem Land pflegen und erhalten, und da, wo es verloren zu gehen droht, gemeinsam wieder herstellen müssen. Aber ich möchte auch gern hinzufügen, auch und gerade ein ehrgeiziger, ein über Jahrhunderte gewachsener Kulturstaat wie Deutschland kann seinen Ansprüchen nur genügen, wenn er von einer engagierten Bürgergesellschaft getragen und getrieben wird. Da würde ich gerne ein Anliegen bei dieser feierlichen Eröffnung ihnen allen mit auf den Weg geben, von dem ich persönlich glaube, dass es das dringendste einzelne Thema ist, mit dem sich die Kulturpolitik in Deutschland und alle an Kultur interessierten und schon gar alle dafür Verantwortlichen besonders intensiv auseinandersetzen müssen. Das ist eine gigantische Kraftanstrengung zur kulturellen Bildung.
Deutschland, meine Damen und Herren, ist vielleicht, was die Anzahl der Institutionen, die Anzahl und auch die Qualität der Veranstaltungen betrifft, sicher eine wenn nicht vielleicht die Kulturnation der Welt. Aber hinter der nach wie vor glänzenden Fassade dieser eindrucksvollen Institution haben wir längst einen lausigen Zustand kultureller Bildung in unserem Lande.
Wenn es uns nicht gelingt, die Basis zu stabilisieren, die Fundamente wieder stabil zu machen, wo aus Kenntnis Verständnis und aus Beschäftigung Motivation entsteht, dann ist es nur eine Frage der Zeit, wie lange die Gerüste halten, die auf diesem morschen Boden errichtet worden sind. Der traurige Zustand der Unterrichtung in musischen Fächern an Deutschlands Schulen ist nun wirklich völlig ungeeignet, Gegenstand einer Festansprache zu sein. Wenn aber bei den jungen Menschen nicht das Interesse an Kunst und Kultur nachwächst, dann werden wir schon in wenigen Jahren weder das Angebot an Künstlern noch die Nachfrage an Theater, an Literatur, an Oper, an Tanz oder an Ausstellungen haben, auf denen alle unsere Kulturetats als selbstverständliche Voraussetzung beruhen. Und deswegen, meine Damen und Herren, muss das das große Thema der nächsten Jahre sein. Es muss auch das große Thema einer kulturell aufgeklärten Bürgergesellschaft sein, das nicht überall bei den Bürgermeisterämtern schlicht einzufordern, sondern selber einen Beitrag dazu zu leisten.
Meine Damen und Herren, Herr Minister Cordts hatte schon darauf hingewiesen, dass wir nach den eindrucksvollen Schlussbemerkungen der beiden eindrucksvollen Grußwortredner, dem Bürgermeister und der Intendantin, spontan den Eindruck hatten, dass das berühmte Zitat aus dem berühmten Vorspiel auf dem Theater natürlich gut gemeint, aber gleichzeitig eine subtile Gemeinheit war, denn die beiden wussten natürlich genau, dass in dem Programm, das sie selber vorbereitet hatten, noch ein Grußwort und eine Ansprache und weitere ergänzende Programmteile folgten, so dass ich jetzt ausdrücklich alle Schauspieler, alle Mitwirkenden, aber auch die Zuschauer um freundliche Absolution bitte, dass trotz dieses ultimativen Appells noch Worte gewechselt werden mussten, bevor sie endlich Taten sehen. Und wenn ich nun endlich wie gewünscht meinen Beitrag zur Eröffnung der 56. Bad Hersfelder Festspiele geleistet habe, dann möchte ich das noch einmal ausdrücklich mit der Empfehlung verbinden: Nutzen Sie die nächsten Tage und Wochen der Fußball-Weltmeisterschaft und der Festspiele möglichst oft, sich von der Qualität des einen und der Qualität des anderen einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Ich sage Ihnen voraus, der stolzen Behauptung eines so bedeutenden deutschen Dichters wie Bertolt Brecht zum Trotz: an guten Abenden ist gut durchdachtes und gut gemachtes Theater gut gemeintem und gut bezahltem Fußball als Kunstform bei weitem überlegen.
Im Ruhrgebiet - wo ich herkomme - hätte man früher am Schluss solcher Reden in Verlängerung einer längst überholten bergmännischen Tradition gerufen: Glück auf! In Bad Hersfeld heißt das wohl ab sofort: Faust hoch! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen viel Vergnügen.