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Verehrter Herr Bischof,
sehr geehrte Weihbischöfe,
verehrte Vertreter des Öffentlichen Lebens,
meine Damen und Herren,
"Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, dass die Erde um die Sonne, sondern dass das Geld um die Erde läuft". Dieser Satz des bekannten Philosophen Peter Sloterdijk aus einem Buch mit dem Titel "Im Weltinnenraum des Kapitals" führt scheinbar mitten in das Thema "Was die Welt zusammen hält" - und bei genauerem Hinsehen auch schon wieder heraus. Denn was immer um die Welt herum läuft, hält sie ganz offensichtlich nicht im Inneren zusammen.
Die Antwort auf die gestellte Frage ist mindestens aus zwei Gründen schwierig. Erstens, weil nicht klar ist, was die Welt ist, und zweitens, weil unklar ist, was sie zusammen hält. Wenn man die Welt versteht als ein technisch physikalisches Gebilde, dann sind es wohl die physikalischen Gesetze, die chemischen und biologischen Prozesse, die sie erhalten. Wenn man die Welt versteht als die Gemeinschaft der Menschen, die auf diesem Globus jeweils in Gesellschaften zusammen leben, dann sind es offenkundig nicht die Gesetzmäßigkeiten der Physik oder der Naturwissenschaften, mit denen sich der innere Zusammenhalt der Welt erklären oder sichern ließe. Uns interessiert heute ganz gewiss der zweite Aspekt weit mehr als der andere, die innere Verfassung der Welt unter Berücksichtigung der Menschen, die auf ihr leben. Und um die Schwierigkeiten zu verdeutlichen, auch diese Frage zu beantworten, möchte ich Ihnen ein anderes Zitat vortragen. "Die rationale oder die ethische oder die religiöse Weltformel, auf die sich alle einigen und dann das Ganze tragen könnten, gibt es nicht. Jedenfalls ist sie gegenwärtig unerreichbar". Wenn wir mehr Zeit hätten als wir noch haben, würde ich jetzt gerne Spekulationen entgegen nehmen, von wem dieses Zitat stammt. Es stammt von unserem heutigen Papst. Aus genau dem denkwürdigen, vorhin vom Bischof in seiner Eröffnungsansprache erwähnten Dialog zwischen den beiden großen Köpfen der zeitgenössischen Theologie und der modernen Philosophie Josef Ratzinger und Jürgen Habermas. Die rationale oder die ethische oder die religiöse Weltformel, auf die sich alle einigen und dann das Ganze tragen könnte, gibt es nicht. Jedenfalls ist sie gegenwärtig unerreichbar.
Wenn wir uns mit dieser Auskunft hinreichend ernüchtert an den Versuch einer Annäherung auf eine mögliche Antwort an diese Frage machen, müssen wir uns zunächst mit der Welt beschäftigen, so wie sie gegenwärtig ist. Und das zentrale, dominierende Stichwort in diesem Zusammenhang ist vorhin in den Gesprächen mit den Vertretern der Räte als auch in den Grußworten zur Eröffnung bereits genannt worden: Globalisierung.
Wir leben in Zeiten der Globalisierung, und es ist ja schon aufschlussreich genug, dass es jedenfalls keinen zweiten Begriff gibt, auf den sich alle fast unabhängig von sonstigen Überzeugungen, Einschätzungen und Verunsicherungen so leicht zur Kennzeichnung der heutigen Lage verständigen können wie auf genau diesen Begriff. Den Allermeisten ist klar, dass dies jedenfalls bedeutet, wie es der Bischof heute Morgen formuliert hat, wir leben in Zeiten sich ständig weiter beschleunigender Veränderungen. Vieles, was lange für ausgeschlossen gehalten wurde, ist längst Realität geworden, und manches, was wir heute für den letzten Stand der Technik oder des Wissens halten, ist morgen schon wieder überholt, einschließlich der Frage, ob man diese Möglichkeiten nicht auch sofort und unverzüglich und mit Volldampf nutzen und in Anspruch nehmen sollte.
Gelegentlich gibt es zu dieser Debatte über Globalisierung den Hinweis, so neu sei das nun alles wiederum nicht: spätestens seit die Europäer sich aufgemacht haben, Indien zu entdecken und dabei versehentlich Amerika gefunden haben, jedenfalls festgestellt haben, dass es andere Kontinente gibt außer dem eigenen, gibt es ein Bewusstsein der Menschen über die Welt, die größer ist als die eigene Heimat, die eigene bekannte Umgebung?
Und spätestens seit dieser Zeit, in Wahrheit viel länger, gibt es auch zunehmenden Handel zwischen Menschen auf ganz unterschiedlichen Kontinenten. Es gibt aber, meine Damen und Herren, mindestens zwei Aspekte, durch die sich die Welt heute von der Welt des Mittelalters oder noch weiter zurückliegenden Jahrhunderten nicht nur graduell, sondern wie ich glaube, prinzipiell unterscheidet, die insofern den Begriff Globalisierung nicht schlicht als Verlängerung einer bekannten Tatsache, sondern als Kennzeichnung einer neuen Epoche rechtfertigen.
Wir leben in einer Zeit, in der zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit uns die modernen technischen Möglichkeiten der Informationsvermittlung in die Lage versetzen, dass jede Information, die überhaupt vorhanden und verfügbar ist, an jedem Platz der Welt gleichzeitig verfügbar ist. Das hat es vorher nie gegeben. Dass es überhaupt andere Kontinente als Europa gibt, davon haben viele Zeitgenossen zu ihren Lebzeiten keine Kenntnis erhalten. Viele Informationen über andere Völker und deren Lebensgewohnheiten haben Jahre und Jahrzehnte gebraucht, bis sie den größeren Teil der Menschheit überhaupt erreichten. Heute ist eine Information, die es überhaupt gibt, prinzipiell an jedem Platz der Welt gleichzeitig verfügbar. Und zugleich setzen uns die modernen Möglichkeiten der Mobilität in die Lage, nahezu jeden Platz auf diesem Globus spätestens innerhalb von 24 Stunden zu erreichen. Diese beiden dramatischen Veränderungen der Verfassung der modernen Welt, Informationen und Mobilität, haben Globalisierung erst möglich gemacht. Und dadurch, dass Globalisierung möglich wurde, ist sie zugleich unvermeidlich geworden.
Man mag von der Globalisierung halten, was man will, man mag sie für eine Errungenschaft oder für eine Heimsuchung halten: sie findet statt. Also geht es ganz wesentlich um die Frage, wie gehen wir mit dieser Veränderung um, wenn sie denn unvermeidlich geworden ist. Ich will nicht nur, aber aus hinreichendem aktuellen Grund, auf eine der besonders dramatischen Veränderungen hinweisen, die sich überhaupt erst aus diesem Zusammenhang ergeben haben, und das ist die Entwicklung und der Zustand der internationalen Finanzmärkte.
Ich habe vorhin davon gesprochen, dass wir Handelsbeziehungen zwischen Ländern, auch zwischen entfernten Ländern, schon seit vielen Jahrhunderten haben und kennen, und natürlich ist uns allen bewusst, dass in unserer modernen Gegenwart sich diese Handelsbeziehungen vervielfacht haben. Es gehört wiederum zu den auffälligen, folgenreichen Konsequenzen der modernen Verfassung der Welt, dass der Handel schneller wächst als die Volkswirtschaft. Aber nichts ist in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren auch nur annähernd so schnell - geradezu explosionsartig - gewachsen wie die Entwicklung und Verbreitung und der Verkauf von Finanzprodukten. Ich will Ihnen einen Eindruck von den Größenordnungen geben. In den letzten gut 25 Jahren, also seit Beginn der 80er Jahre, hat sich das Volumen der täglichen Finanztransaktionen auf den Weltfinanzmärkten verfünfzigfacht. Der Umfang macht heute mehr als das 20-fache der täglichen Investitionen in Anlagekapital aus. Etwas vereinfacht und zugespitzt formuliert: von dem, was an wirtschaftlich messbaren und gemessenen und in die Sozialprodukte eingehenden Aktivitäten täglich stattfindet, ist 95 Prozent virtuell. Fünf Prozent ist real. Das ist das, was wir mit einem seltenen Anflug von Satire inzwischen "Realwirtschaft" zu nennen begonnen haben.
Das, was auf den internationalen Finanzmärkten über die Jahre hinweg stattfindet, ist - wiederum etwas zugespitzt formuliert - nicht Wertschöpfung sondern Einbildung, die so lange zusammenhält, wie die Einbildung stabil bleibt. Möglich war diese Entwicklung überhaupt nur dadurch, dass mit Buchgeld, das es physisch gar nicht gibt, sondern nur als Phantasiegebilde, das man nicht transportieren muss, sondern nur über einen Computerbefehl von einem Markt in den anderen schickt, dass also diese finanziellen Phantasieprodukte in einigen Ländern mehr, in den anderen Ländern weniger ausgeprägten gesetzlichen Rahmenbedingungen unterliegen. Ein schönes Thema freilich nicht nur für Juristen. Unser Problem, einmal nur auf Deutschland bezogen, ist eher nicht, dass wir für Finanztransaktionen keine gesetzlichen Bestimmungen hätten. Der Finanzmarkt ist in Deutschland gesetzlich reguliert. Unser Problem ist, dass der mit Abstand größte Teil dessen, wovon ich hier rede, eben nicht mehr im nationalen Maßstab stattfindet, sondern auf internationalen Märkten, für die es gemeinsame, gesetzliche Regelungen bisher jedenfalls gar nicht oder nur unzureichend gibt. Entstanden ist diese Entwicklung auch deswegen, weil eine wachsende Zahl von Zeitgenossen davon überzeugt war, der Gipfelpunkt ökonomischer Effizienz, wenn nicht gar gesellschaftlichen Fortschritts, sei dann erreicht, wenn es möglichst keinen staatlichen Einfluss in gesellschaftliches und ökonomisches Handeln mehr gäbe - bis am Ende dieser Veranstaltung, die beinahe im größten ökonomischen Kollaps der Wirtschaftsgeschichte geendet hätte, sich alle beteiligten Banken wechselseitig ihr Misstrauen ausgesprochen haben. Das ist im Übrigen die größte Kapitulationserklärung, die es in der Wirtschaftsgeschichte der Menschheit je gegeben hat. Schließlich haben die Banken und Finanzinstitutionen die letzte mögliche Rettung vor der drohenden Katastrophe bei genau dem Staat gesucht, den sie mit Fleiß aus den eigenen Aktivitäten möglichst ganz raushalten wollten.
Zu diesem Thema ließe sich noch Vieles sagen, ich begnüge mich im Augenblick mit dem Hinweis, dass uns diese Beinahe-Katastrophe vielleicht und hoffentlich zu der nachhaltigen Einsicht verhilft, dass die Welt Regeln braucht. Dass der Zusammenhalt von Menschen, das gilt im Großen wie im Kleinen, ohne ein Mindestmaß von Regeln nicht stattfinden und schon gar nicht gelingen kann. Aber ich glaube, dass wir über diesen ganz unmittelbaren Anlass hinaus, über einige Zusammenhänge wieder nachzudenken haben, die eigentlich gar nicht ganz neu sind, aber für die Zukunft genauso wenig überholt wie für die Vergangenheit. Dazu gehört die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Demokratie und Markt, das Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Ungleichheit in einer Gesellschaft, zwischen Ansprüchen und Erwartungen, zwischen individuellen Interessen und Gemeinwohl, alles Stichworte, die vorhin in der Diskussion schon eine Rolle gespielt haben. Herr Borgmann hat liebenswürdigerweise Oswald von Nell-Breuning zitiert, der bekanntlich kein Unternehmer war, auch kein Investmentbanker, sondern ein Theologe und Sozialphilosoph. Von ihm stammt der Hinweis, man solle diejenigen politischen und ökonomischen Systeme allen anderen Varianten von politischen und wirtschaftlichen Systemen vorziehen, die die geringsten Ansprüche an die individuelle Moral stellen. Darauf wären vermutlich auch zunächst einmal die Wenigsten gekommen, dass diese Empfehlung ausgerechnet von Nell-Breuning stammt. Diese auf den ersten Blick verblüffende Auskunft, die man auf den zweiten Blick für blanken Zynismus halten könnte, ist bei genauem Nachdenken sehr durchdacht. Ein System, ob in der Wirtschaft oder in der Politik, das nur dann funktioniert, wenn alle Beteiligten mit hohen moralischen Ansprüchen an ihr eigenes Verhalten und natürlich an das Verhalten anderer herangehen, weil es nur dann funktioniert, wenn sich alle moralisch verhalten, ein solches System funktioniert in der Regel überhaupt nicht. Denn es zahlt Prämien an diejenigen, die sich diesem erwarteten moralischen Verhalten nicht beugen und schlicht und ergreifend ihre eigenen Interessen verfolgen. Deswegen will ich auch ausdrücklich und gerade im Zusammenhang mit den vorhin angesprochenen aktuellen Fragen meine Zurückhaltung und Skepsis gegenüber jetzt wieder lautstark eingeforderten gesetzlichen Regelungen zu Protokoll geben. Eine Gesellschaft, die moralische Ansprüche kodifizieren muss, die in gesetzliche Verpflichtungen umsetzen muss, was sie an sozialem Verhalten von ihren Mitgliedern erwartet, hat die Schlacht schon verloren, die auf dem Feld der Gesetzgebung nicht zu gewinnen ist.
Vielleicht kann man diesen auch nicht ganz einfachen Zusammenhang wieder mit einem knappen Zitat unseres heutigen Papstes verdeutlichen, der lange vor der Übernahme seines Pontifikates in einem seiner vielen lesenswerten Aufsätzen geschrieben hat: "Eine Moral, die die Sachkenntnis der Wirtschaftsgesetze überspringen zu können meint, ist nicht Moral, sondern Moralismus. Also das Gegenteil." Aber gerade weil das so ist, haben wir jeden Anlass darüber zu denken, ob die Mindeststandards an ethisch orientiertem Verhalten, von denen vorhin im Zusammenhang mit Wirtschaft und Landwirtschaft und Arbeitnehmerrechten und technischen Entwicklungen in unserer Gesellschaft zu Recht die Rede war, die wir in unserer Gesellschaft voraussetzen müssen, bei ökonomischen wie bei politischen Entscheidungen wirklich so stabil sind, wie sie es sein müssen, um nicht nur die Funktionsfähigkeit, sondern die Glaubwürdigkeit dieser politischen und wirtschaftlichen Systeme sicher zu stellen. Deswegen will ich eine Bemerkung zu einem anderen der dringend behandlungsbedürftigen Zusammenhänge machen, nämlich dem Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Ungleichheit, eine der ebenso unvermeidlichen wie zentralen Herausforderungen gerade freiheitlicher Gesellschaften.
Für unsere Gesellschaft wie für andere gilt, dass sie den Gleichheitsgrundsatz als eines ihrer Verfassungsprinzipien normativ wie eine Flagge vor sich her trägt und gleichzeitig statistisch ein wachsendes Maß an Ungleichheit registriert. Das ist keine banale Situation. Und sie wird auch nicht dadurch unerheblich, dass wir nun mal in unserer Verfassung in ein und der gleichen Verfassung sowohl das Freiheitsprinzip und damit die Möglichkeit der Selbstentfaltung von Menschen garantieren als auch auf dem Gleichheitsgrundsatz bestehen. Die beiden Prinzipien stehen sich schon als solche kräftig wechselseitig im Wege und lassen sich offenkundig nicht gegeneinander aufwiegen. Wir müssen uns aber nicht nur, aber insbesondere in der Politik mit der Frage auseinandersetzen, welches Maß an Freiheit und welches Maß an Ungleichheit eine Gesellschaft zulässt und erträgt. Ich persönlich glaube übrigens nicht, dass es ein generelles Bedürfnis nach Gleichheit der Lebensverhältnisse gibt. Anders formuliert: Ich habe den Eindruck, dass die allermeisten Menschen mit der gerade erwähnten statistischen Ungleichheit der Lebensverhältnisse relativ gut zu Rande kommen. Ungleichheit ist im Übrigen eine der größten Vorzüge der Schöpfung. Die Menschheit befände sich in einer völlig anderen Verfassung und vermutlich nicht in einer besseren, wenn es Ungleichheit mit ihrer stimulierenden Wirkung nicht gäbe. Das Problem ist also nicht Ungleichheit im Prinzip. Ungleichheit wird aber immer dann ein Problem, wenn es keinen plausiblen Zusammenhang mehr gibt zwischen individueller Leistung und individuellem Einkommen oder Vermögen. Und da reden wir jetzt nicht über ein theoretisches Problem unserer Gesellschaft, sondern über ein praktisches. Wenn der Eindruck entsteht, dass selbst bei verweigerter Leistung oder bei nachgewiesenen Fehlleistungen die Bezahlung oder Abfindung besonders üppig ausfallen. Diese Strapazierung von Freiheit und Gleichheit hält auf Dauer keine Gesellschaft aus. Es treibt sie auseinander und hält sie eben nicht beieinander.
Frau Hannich hat dankenswerterweise daran erinnert, das Grundgesetz gilt auch in Zeiten der Globalisierung, jedenfalls bei uns. Und ich kann nicht erkennen, dass irgendeine der Verfassungsprinzipien wegen der stattgefundenen Veränderungen in Zeiten der Globalisierung seine Bedeutung verloren hätte. Auch nicht der Verfassungsgrundsatz der Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Und manchmal muss man offenkundig daran erinnern, dass Shareholder-Value nicht die englische Übersetzung von Gemeinwohl ist.
Was, meine Damen und Herren, hält denn nun die Welt zusammen? Das Geld offensichtlich nicht. Die Wirtschaft auch nicht. Und, das wird den einen oder anderen von Ihnen jetzt überraschen, die Politik auch nicht. Gesellschaften werden nicht durch Politik zusammengehalten, sondern durch Kultur. Kultur verstanden als das Mindestmaß an gemeinsamen Werten und Orientierungen und Überzeugungen, ohne dass eine konkrete Gesellschaft ihre Strukturen und ihre Regeln weder erklären oder erhalten kann. Ich glaube, dass diese Bemerkung für alle existierenden Gesellschaften zutrifft. Ich glaube mit anderen Worten, dass es keine einzige Gesellschaft auf unserem Globus gibt, die ohne ein Mindestmass an gemeinsamen Überzeugungen und Orientierungen ihren inneren Zusammenhalt erklären und schon gar erhalten kann. Das bedeutet übrigens nicht, dass es jeweils die gleichen Überzeugungen und Orientierungen sind. Ganz offenkundig haben wir in verschiedenen Teilen der Welt sehr unterschiedliche Verhältnisse. Und genau die hat unser Papst im Auge gehabt, als er darauf hingewiesen hat, dass eine allgemein gültige Weltformel als ethisches Postulat, das von allen akzeptiert würde, nicht vorhanden und auch gegenwärtig nicht erreichbar ist. Aber aus diesem richtigen Hinweis zu schlussfolgern, dass Werte, Orientierungen und Überzeugungen an Bedeutung verloren hätten, ist weder logisch noch politisch überzeugend. Ganz im Gegenteil, manches spricht dafür, dass der Bedarf an gemeinsamen Orientierungen und Überzeugungen in modernen Gesellschaften eher gewachsen ist.
Deswegen finde ich den regelmäßigen Hinweis vieler zeitgenössischer Publizisten und Soziologen auch nicht sehr überzeugend, dass in Zeiten der Globalisierung, die zugleich Zeiten der Säkularisierung seien, solche geistigen Zusammenhänge und schon gar religiöse Zusammenhänge hoffnungslos an Bedeutung verloren hätten. Ich halte das übrigens auch statistisch für widerlegt. Wenn wir uns die Zahlen ansehen, stellen wir fest, dass in der Welt, in der wir heute leben, sowohl die Zahl der Gläubigen als auch die Zahl der Religionen weltweit zunimmt. Die Experten zählen gegenwärtig fast 10.000 mehr oder weniger selbstständige Religionsgemeinschaften. Auch die Zahl der Christen nimmt weltweit keineswegs ab, sondern nimmt in bemerkenswerter Weise zu. Allerdings nicht gleichmäßig überall in der Welt. Während von diesem Zuwachs von Christen in der Welt ausgerechnet Europa nahezu nicht betroffen ist, hat sich die Zahl der Christen in Afrika und Lateinamerika in den letzten 30 Jahren verdoppelt, in Asien sogar verdreifacht. In dem gleichen Zeitraum, von dem ich rede, ist die Zahl der konfessionell gebundenen Christen in Deutschland von damals rund 90 Prozent in Westdeutschland auf jetzt gerade rund 60 Prozent im vereinten Deutschland zurückgegangenen. Dennoch und vielleicht gerade wegen dieser europäischen und deutschen Zahlen und Entwicklungen wird oft übersehen, dass der viel beschworene Prozess einer für unaufhaltsam gehaltenen und übrigens meist auch ausdrücklich als Errungenschaft gepriesenen Säkularisierung in dieser Ausprägung eben kein globaler Trend ist, sondern - wie uns die Religionssoziologen sagen - eigentlich nur bei uns im Westen stattfindet, während wir im Rest der Welt eine gegenläufige Entwicklung feststellen können: eine erstaunliche Revitalisierung und Reaktivierung religiöser Orientierungen und Organisationen. Ich halte das nicht für einen Zufall, sondern ich vermute, dass hier ein ursächlicher Zusammenhang besteht zwischen den Veränderungen in Zeiten der Globalisierung, von denen ich vorhin gesprochen habe und den tiefen Verunsicherungen, die sich daraus für viele Menschen in der Unübersichtlichkeit der Welt, in der wir leben, und der Rasanz der Veränderungen ergeben haben, und dem vitalen Bedürfnis an Verlässlichkeit, an Verbindlichkeiten, auch an Bindungen, die man für begründet und belastbar halten kann. Deswegen spricht, wie ich fest davon überzeugt bin, manches dafür, dass es nicht nur bei uns, sondern aber sicher auch bei uns eher neue Chancen, weil neue Notwendigkeiten für religiöse Orientierungen und religiöse Besinnungen gibt.
Der "Religionsmonitor" der Bertelsmann-Stiftung, eine empirische Untersuchung über religiöse Orientierungen in unserer Gesellschaft, hat im vergangenen Jahr den für viele Beobachter überraschenden Befund erbracht, dass rund 70 Prozent der Menschen in Deutschland sich selbst als religiös einstufen, Dabei allerdings eine deutliche Unterscheidung machen zwischen ihrer religiösen Orientierung und ihrer kirchlichen Bindung, was ein anderes spannendes Thema in diesem Zusammenhang ist. Jeder fünfte, also immerhin 20 Prozent in Deutschland, stuft sich selbst sogar als hochreligiös ein, was immer das im Einzelnen bedeuten mag. Aber wenn man unter "hochreligiös" ganz vorsichtig versteht, dass diese 20 Prozent religiöse Fragen für sich selbst als nicht völlig unbedeutend betrachten, hat man das wohl nicht überinterpretiert. Daraus lässt sich, wie ich finde, nachvollziehbar schließen, dass Religionen bei uns, wie überall sonst auf der Welt, unverändert zu den ganz vitalen, für die allermeisten Menschen in welchem Ausmaß auch immer nicht nur angelernte, sondern für unverzichtbar gehaltenen Orientierungen des eigenen Lebens und des sozialen Verhaltens gehören.
Das, was in einer konkreten Gesellschaft - beispielsweise unserer - an Werten und Orientierungen und an möglichen Verbindlichkeiten besteht oder wächst, die über individuelle Interessen hinausgehen, speist sich ganz wesentlich aus religiösen Überzeugungen. Und das ist präzise der Zusammenhang, von dem der Bischof gesprochen hat und den wir in dieser Gesellschaft dringend wieder herstellen müssen. Das liegt im Übrigen nicht nur im Interesse der Kirchen, es liegt noch mehr im Interesse des Staates und seiner Verfassung, die ohne diese Basis nicht zusammenhält.
Eine der inzwischen populärsten Fehleinschätzungen auch der publizierten Diskussion über dieses Thema besteht im regelmäßigen Hinweis, was in dieser Gesellschaft gilt, was in dieser Gesellschaft verbindlich ist, mit anderen Worten, was unsere Gesellschaft zusammenhält, das steht doch im Grundgesetz. Dieser Hinweis ist ebenso richtig wie irreführend. Denn er transportiert den fröhlichen Irrtum, eine Verfassung sei der Ersatz für die Kultur einer Gesellschaft. In Wahrheit ist eine Verfassung Ausdruck der Kultur einer Gesellschaft. Und sie hat so lange Bestand, wie diese kulturellen Grundlagen einer Gesellschaft lebendig bleiben. Das, was Frau Hannich und andere vorhin in dem Gespräch mit Blick auf Grundrechtsfragen und Gesetzgebung und Zweifel an Substanz oder auch nicht unseres Umgangs mit Grundrechten haben, gehört genau in diesen Zusammenhang.
Natürlich verändert sich eine Gesellschaft und verändern sich in einer Gesellschaft die Vorstellungen über den Umgang mit dieser oder jener Möglichkeit oder Herausforderung. Und eine Verfassung ist eben nicht die ein für allemal "omnia saecula saeculorum" sichere und gesicherte Grundlage für die richtig gehaltene Orientierung einer Gesellschaft, wenn die kulturellen Voraussetzungen für diese Orientierungen verloren gehen. Nun behaupte ich natürlich nicht, dass dies ausschließlich über Religion und religiöse Überzeugungen vermittelt und transportiert wird. Aber dass es keine zweite, auch nur annähernd vergleichbar bedeutende Institution einer Gesellschaft gibt, mit einem auch nur annähernd vergleichbaren Potential der Erzeugung und Vermittlung von Werten wie Religionen, das behaupte ich nun allerdings. Und dafür können wir in der deutschen und der europäischen Geschichte, wie in der Geschichte anderer Kontinente aufschlussreiches Anschauungsmaterial finden. Man könnte mühelos, wenn wir uns mit unserem Grundgesetz befassten, den Nachweis führen, wie sehr unser Verständnis von Grundrechten mit religiös entstandenen Überzeugungen in einem unlösbaren Zusammenhang steht. Der Schlüsselsatz unseres Grundrechtsverständnisses, "die Würde des Menschen ist unantastbar", ist ja nicht die Beschreibung einer Realität, sondern eines Anspruchs, somit müsste der Satz eher umgekehrt lauten: Die Würde des Menschen ist antastbar, sie wird täglich irgendwo angetastet, und wir Deutschen haben uns in unserer Geschichte - vermute ich - die schlimmsten Verirrungen der Menschheit überhaupt geleistet, was die organisierte Verletzung der Menschenwürde betrifft. Dieser Satz, mit dem unsere Verfassung beginnt, ist die säkulare Verfassung der christlichen Glaubensbotschaft von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Und wenn diese Überzeugung in unserer Gesellschaft verloren geht, dann verliert auch diese Festlegung unserer Verfassung ihre Wurzeln. Und deswegen ist der Hinweis auf die Verfassung ebenso richtig wie unzureichend, wenn er die kulturellen Zusammenhänge ausblendet, aus denen heraus eine solche Verfassung nur zu verstehen ist und schon gar lebendig bleibt. Natürlich ist Religion zunächst einmal und in erster Linie Privatsache, am Anfang und am Ende, aber sie ist eben mehr, sie ist immer auch öffentliche Angelegenheit. Und die Privatisierung des Religiösen verkennt eben die fundamentale Bedeutung dieser Funktion von Religion für den Zusammenhalt auch und gerade moderner Gesellschaften.
Wenn dieser Zusammenhang überhaupt besteht, dann muss er in ganz besonderer Weise für die Politik gelten. Politik ohne festes Fundament von Überzeugungen, von denen heraus sich ein Gestaltungsanspruch herleiten lässt, ohne verbindliche Orientierungen also, ist die Selbstinszenierung von Macht. Politisches Handeln darf sich nicht allein auf Zweckmäßigkeitsfragen reduzieren, auf das virtuose Abarbeiten von Fallkonstellationen. Aber dass Politik eben nicht dasselbe ist wie Religion, sondern etwas anderes, auch nicht die schlichte Verlängerung von Religion mit anderen Mitteln, das ist jedenfalls eine gefestigte Überzeugung der westlichen Zivilisation. Ich will das mit einer Formulierung von Ernst Wilhelm Böckenförde unterstreichen, der zu Recht vorhin als der wohl prominenteste Vertreter der Entdeckung dieser Zusammenhänge gewürdigt worden ist. Es ist zu fragen, so schreibt er in seinen berühmten Schriften aus den Jahre 1976, ob nicht auch der säkularisierte weltliche Staat letztlich "aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muss, die der religiöse Glaube seinen Bürgern vermittelt. Freilich nicht in der Weise, dass er zum christlichen Staat zurückgebildet wird, sondern in der Weise, dass die Christen diesen Staat in seiner Weltlichkeit nicht länger als etwas Fremde, ihrem Glauben Feindliches erkennen, sondern als die Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist". Das markiert präzise den Unterschied zwischen Politik und Religion und die Notwendigkeit zwischen beiden einen Zusammenhang herzustellen. Die Herstellung solcher Zusammenhänge ist allerdings schwierig. Das kann ich Ihnen, ohne es im Einzelnen ausführen zu können, aus vielfachen eigenen Erfahrungen feierlich bestätigen. Es betrifft nicht nur, aber in ganz besonderer Weise alle die Fragen, die mit dem Anfang und dem Ende des menschlichen Lebens zusammenhängen. Aber es betrifft auch so handfeste Aspekte wie die Frage, wie gehen wir mit unseren heutigen wissenschaftlichen Möglichkeiten etwa im Bereich der Landwirtschaft um, übrigens aber auch mit der Frage, welche Entwicklungsmöglichkeiten lassen wir eigentlich der Dritten Welt mit der sorgfältigen Abschottung unserer Agrarmärkte und einem nicht nur aus deren Sicht gnadenlosen Protektionismus, bei dem die Behauptung unserer eigenen Interessen den organisierten Vorrang gegenüber den Entfaltungsmöglichkeiten in vielen Ländern der Dritten Welt hat. Auch das gehört zu den ethischen Fragen, mit denen wir uns auseinander setzen müssen.
Ich will noch eine Bemerkung zu dem Thema machen, dass ich gerade angesprochen habe, nämlich wie geht diese Gesellschaft und wie geht dieser Staat mit den Fragen um, die am Beginn und am Ende des menschlichen Lebens zu entscheiden sind. Dass es sich hier um Fragen handelt, die ganz gewiss nicht allein nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten oder im Maßstab der heutigen technischen Möglichkeiten beantwortet werden können. Wie lässt sich auf welchem Wege und mit welchen Erfolgsaussichten menschliches Leben schaffen und unter welchen technischen Bedingungen kann man es wie lange verlängern? Es bedarf überhaupt keiner Erläuterung, dass wir es hier mit ganz grundsätzlichen Fragen unseres Menschenbildes und damit der Menschenwürde zu tun haben. Einer Erläuterung bedürfte aber vielleicht, dass sich auch dann, wenn man die Dimension dieser Fragestellung begriffen und die ethische Messlatte als ausschlaggebenden Gesichtspunkt für sich erkannt hat, daraus nicht nur eine denkbare Antwort ergibt. Ich gehöre zu denjenigen, die - wie ganz gewiss die allermeisten Mitglieder des Deutschen Bundestages - sich mit der Frage, ob überhaupt und unter welchen Bedingungen eine Verlängerung der Fristen im Stammzellengesetzes gesetzlich erlaubt sein sollte, sehr sorgfältig auseinander gesetzt haben und die im Laufe dieses Prozesses bei der Beschäftigung mit allen damit zusammenhängenden Fragen mehrfach sehr unsicher waren, wie sie am Ende votieren sollten. Ich habe mich schließlich gegen jede Änderung der bestehenden gesetzlichen Regelungen ausgesprochen und dafür eine schriftliche Gratulation meines Weihbischofs erhalten. Das hat mich betroffen gemacht, zumal im Kontext der Äußerungen von anderen prominenten Mitgliedern der deutschen Bischofskonferenz, die mit einem bemerkenswert harten, um nicht zu sagen gnadenlosen Urteil die ethische Verantwortbarkeit anderer Entscheidungen öffentlich kritisiert haben, nicht nur im Allgemeinen, sondern auch im Konkreten etwa am Beispiel der Bundesforschungsministerin Annette Schavan, die als langjähriges Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken sich ihre Entscheidung ganz gewiss nicht einfacher gemacht hat als ich mir meine. Und wenn sie am Ende zu einem anderen Urteil kommt, dann muss ich das und dann muss das auch die Deutsche Bischofskonferenz genauso respektieren, wie sie meine Entscheidung respektiert hat. Jedenfalls erlaube ich mir, ohne dieses Thema jetzt vertiefen zu können, den gut gemeinten und auch ernst gemeinten Hinweis, dass gerade wegen dieses von mir beschriebenen Spannungsverhältnisses zwischen Politik und Religion und der Notwendigkeit, es zusammen zu bringen, wir auch in Formen des christlichen Umgangs miteinander noch die eine oder andere Entwicklungsmöglichkeit haben.
Ich habe überhaupt keinen Zweifel daran, dass die Verkündigung der Wahrheit eine der anspruchsvollsten und im wörtlichen Sinne heiligen Aufgaben einer Gesellschaft ist. Aber die Vermittlung von ewigen Wahrheiten und von dem, was man für Wahrheit hält, in das Regelwerk einer modernen, säkularen Gesellschaft unter den Bedingungen von Mehrheitsentscheidungen, ist, glauben Sie es mir, keine weniger anspruchsvolle Aufgabe. Und da gehen manche Zusammenhänge leider nicht so schnell und schon gar nicht so nahtlos auf, wie man sich das manchmal wünschen würde. Aber gerade deshalb, verehrter Herr Bischof, habe ich die Einladung heute an dieser Konferenz teilzunehmen, ganz besonders gerne angenommen. Nicht nur, weil es so ein kleiner, persönlicher Beitrag zum 50. Jubiläums meines Bistum ist, sondern weil es auch eine Gelegenheit ist, meinen Dank und meinen Respekt zu sagen sowohl an das Bistum wie an die Damen und Herren, die jetzt über viele Jahre und Jahrzehnte in diesen Räten sich genau um diese Vermittlung bemühen. Und mir ist dabei sehr bewusst, dass ich diese Einladung zu einer solchen Veranstaltung unter diesen Bedingungen in keinem anderen deutschen Bistum überhaupt hätte erhalten können - was übrigens außer der Gratulation an das Ruhrbistum ein weiterer Grund zum allgemeinen Nachdenken ist. Die Bereitschaft unserer Kirche, sich mitten in die Welt zu stellen, und den Sachverstand und das Engagement vieler Tausender Katholiken auch zu nutzen, um es in die eigene Urteilsbildung mit einzubeziehen, diese Neigung ist im Großteil der organisierten katholischen Kirche in Deutschland - freundlich formuliert - nicht übertrieben weit entwickelt. Deswegen, Herr Bischof, bin ich ein besonders stolzes Mitglied dieses Bistums, weil sich mindestens mit Hinweis auf das Ruhrbistum der Nachweis führen lässt, dass diese Beteiligung offenkundig, so verstehe ich das jedenfalls, ohne ernsthafte vatikanische Beanstandungen, nicht nur zulässig ist, sondern auch funktioniert.
Meine Damen und Herren, "Leben im Aufbruch" heißt der Obertitel unserer heutigen Veranstaltung. Lassen Sie mich hinzufügen: Nur wenn es nicht nur Leben im Aufbruch gibt, sondern von Zeit zu Zeit immer wieder auch Aufbruch im Leben, kann man das eigene Leben zusammen halten und hoffentlich die Welt im Ganzen.