Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > Textarchiv
Der Nato-Rückzug aus Afghanistan müsse "verantwortungsvoll erfolgen, Alleingänge sind nicht angebracht": Dies erklärt Dr. Karl A. Lamers (CDU/CSU) zu Überlegungen einzelner Nato-Länder, ihre Soldaten vielleicht schon 2013 und damit vor der für Ende 2014 geplanten Beendigung der Operation der Allianz am Hindukusch zurückzuholen. Der Präsident der Parlamentarischen Versammlung der Nato plädiert im Interview dafür, den Abzug der einzelnen nationalen Truppenkontingente besser zu koordinieren. Afghanistan gehört zu den Hauptthemen der Frühjahrstagung des Nato-Parlaments vom 25. bis 28. Mai 2012 in der estnischen Hauptstadt Tallinn. Lamers leitet die Bundestagsdelegation beim Abgeordnetenhaus der Nato. Das Interview im Wortlaut:
Herr Dr. Lamers, geht es der Nato beim Truppenrückzug um das geordnete Beenden des Engagements mit einer soliden Perspektive für das Land oder nur noch um einen Schlussstrich unter bestmöglicher Gesichtswahrung?
Die Mission am Hindukusch hat ein klares Ziel: Von Afghanistan darf kein Terrorismus mehr ausgehen, in dem Land soll künftig ein gewisses Maß an Sicherheit herrschen. Es gilt, einen funktionierenden Staat zu schaffen, dem wir die politische Verantwortung übertragen können. Dazu gehört auch die Stärkung einheimischer Sicherheitskräfte. Wir werden unsere afghanischen Partner langfristig unterstützen. Der bis Ende 2014 geplante Rückzug wird mit Augenmaß erfolgen und sich an den Notwendigkeiten vor Ort orientieren. Ein ungeordneter Abzug würde nicht nur das Ziel des Nato-Einsatzes, sondern auch das deutsche Kontingent gefährden, das Hervorragendes leistet.
Ist für Afghanistan nicht das Chaos programmiert, falls Länder wie die USA, Frankreich oder Australien ihre Soldaten schon 2013 zurückholen sollten? Die Regierungstruppen dürften kaum in der Lage sein, den Taliban Einhalt zu gebieten.
Der Nato-Rückzug muss verantwortungsvoll erfolgen, Alleingänge sind nicht angebracht. Ich bin im Blick auf die Fähigkeiten der afghanischen Armee durchaus optimistisch, deren Aufbau kommt gut voran. Über 300.000 einheimische Soldaten und Polizisten sind bereits im Einsatz, bis Oktober sollen es 350.000 sein. Auch der militärische Qualitätsstandard entwickelt sich positiv. Kabul übernimmt schrittweise die Verantwortung in den 34 Provinzen. Der Kampf gegen den Terrorismus muss indes zudem politisch geführt werden, wozu auch Verhandlungen mit den Taliban gehören.
Auf lange Sicht will die Nato Kabul mit militärischer Ausbildungshilfe unterstützen. Heißt das vielleicht in Wahrheit, dass das bisherige Engagement der Allianz unter einem anderen Namen verlängert werden soll?
Keineswegs, es wird keine Fortsetzung der Nato-Operation unter neuem Namen geben. Der militärische Einsatz des Bündnisses wird Ende 2014 auslaufen, danach werden wir uns auf die Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte konzentrieren. Wie umfangreich unsere Präsenz nach 2014 sein wird und wie dann die Rolle der Allianz im Detail genau aussehen wird, muss noch geklärt werden.
Vertritt das Nato-Parlament beim Thema Afghanistan gegenüber den Regierungen des Bündnisses eine eigenständige Position? Oder ist die Versammlung eine Plattform zur Diskussion der unterschiedlichen Auffassungen der Mitgliedsländer?
Nein, in den nationalen Delegationen finden sich Parteien verschiedener politischer Ausrichtungen und damit auch aus der Opposition wieder, die jeweils — wie auch in Deutschland — ganz unterschiedliche Auffassungen zum Afghanistan-Einsatz haben. Unser Parlament vertritt gegenüber den Regierungen sehr wohl eigenständige Positionen. In unseren Resolutionen haben wir gefordert, den Bürgern die Notwendigkeit des Engagements am Hindukusch verständlicher zu erklären. Überdies verlangen wir, den Abzug der einzelnen nationalen Truppenkontingente besser zu koordinieren und genügend Ausbilder für die langfristige Unterstützung der afghanischen Armee zur Verfügung zu stellen. Zudem mahnen wir politische Anstrengungen zur Lösung der Probleme an, darunter auch einen Dialog mit Pakistan.
In Tallinn wird ein wenig beachtetes Problem diskutiert, nämlich die Auswirkung des arabischen Frühlings auf die Sicherheitspolitik. In den entsprechenden Ländern scheinen sich anders als erhofft nicht liberale, sondern konservative Kräfte durchzusetzen. Drohen neue Gefahren?
Der arabische Frühling hat allein aufgrund der geografischen Nähe der Mittelmeerländer Folgen für die die transatlantische Sicherheit, problematische Entwicklungen im Innern dieser Staaten können auch Auswirkungen auf uns haben. Allerdings hat der arabische Frühling Demokratisierungsprozesse in Gang gesetzt, die eine Kooperation zur Eindämmung von Sicherheitsgefahren vereinfachen könnten. In Verbindung mit einer guten wirtschaftlichen Entwicklung kann eine Demokratisierung auch radikalen Gruppen den Nährboden entziehen. Natürlich beobachten wir das Erstarken radikal-islamistischer Parteien mit Sorge. Bisher haben wir es aber mit Regierungen im Aufbau zu tun. Eine eindeutige politische Ausrichtung ist derzeit noch nicht absehbar, und wir sollten hier auch Geduld bewahren.
Die Nato-Abgeordneten wollen über Kontakte mit neuen Parlamenten in arabischen Ländern den Reformprozess fördern. Sehr erfolgreich scheint das aber nicht zu sein.
Das sehe ich nicht so. Sofort nach Beginn der Umwälzungen hat das Nato-Parlament die Bereitschaft signalisiert, eine demokratische Entwicklung in arabischen Staaten zu unterstützen. Im September 2011 war ich das erste Mal in Tunesien und habe dort den Grundstein für eine enge Kooperation mit der dortigen Volksvertretung gelegt. Die Zahl arabische Politiker und Wissenschaftler, die an einem Dialog mit uns interessiert sind, wächst. Ich finde es durchaus erstaunlich, dass man in diesen Nationen trotz der gewaltigen Herausforderungen in vielen Bereichen ein so starkes Interesse für das Nato-Parlament entwickelt. Demnächst reise ich erneut nach Tunesien und auch nach Ägypten, um die Kontakte zu vertiefen.
(kos)