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Der NSU-Untersuchungsausschuss ist auf weitere Versäumnisse der Ermittler gestoßen. © DBT/photothek.net
"Es entzieht sich meiner Vorstellungskraft", so der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschuss, Sebastian Edathy (SPD), warum die Polizei bei der Fahndung nach dem Anfang Januar 1998 untergetauchten Jenaer Trio nicht mit Adressenlisten gearbeitet habe, die entscheidende Hinweise auf Aufenthaltsorte der Verschwundenen hätten liefern können. Wie Edathy kritisierten auch die Obleute der Fraktionen zum Auftakt der Zeugenvernehmungen am Freitag, 1. März 2013, Pannen und Fehlgriffe bei den Ermittlungen zur Mordserie. Kritik gab es auch am Umgang von Bundeskriminalamt (BKA) und Thüringer Landeskriminalamt (LKA) mit den bei einer Garagendurchsuchung in Jena aufgetauchten Unterlagen des Trios, das nach dem Abtauchen zum "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) mutierte.
Im Verlauf der Sitzung kristallisierte sich bei einer Gegenüberstellung der damals in die Prüfung der bei der Garagenrazzia gefundenen Asservate involvierten Ermittler Jürgen Dressler (LKA) und Michael Brümmendorf (LKA) heraus, dass die Listen mit rund 35 Telefonnummern und Adressen von Rechtsextremisten seinerzeit im Hin und Her bei der konkreten Asservatenauswertung aus dem Blick gerieten.
Im Ausschuss herrscht die Überzeugung vor, dass im Fall einer Nutzung der "Garagenlisten" große Chancen bestanden hätten, Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe nach ihrem Untertauchen zügig zu entdecken. Dann wäre es zu der Erschießung von neun türkisch- oder griechischstämmigen Kleinunternehmern und einer Polizistin zwischen 2000 und 2007 möglicherweise nicht gekommen. So weit nach der Enttarnung des NSU im November 2011 bislang bekannt geworden ist, hielt sich die Zelle nach ihrem Verschwinden zunächst im Raum Chemnitz auf – und aus dieser Gegend stammten mehrere auf den Listen vermerkte Kontaktdaten.
Laut Edathy wurden in den Jenaer Garagen insgesamt drei Adressenlisten gefunden, zwei in einem Pappkarton und eine in einer Plastiktüte. Diese dritte Liste wurde, wie im Zuge der Zeugenbefragung deutlich wurde, offenbar erst im Januar 2012 ausgewertet. Der Ausschuss erfuhr von der Existenz dieses Asservats erst kürzlich. Dressler und Brümmendorf erklärten, diese Liste sei ihnen 1998 unbekannt gewesen.
Unter Verweis auf seine "feste Erinnerung" sagte der BKA-Beamte, nach der Begutachtung der beiden Listen aus dem Karton habe er sich sofort mit Dressler in Verbindung gesetzt. Man sei übereingekommen, dass der Erfurter Ermittler die Abklärung der Adressen vornehmen werde, da der LKA-Polizist das rechtsextreme Geflecht um Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe besser kenne als er, der zur Unterstützung des LKA bei der Suche nach der Gruppe im Februar 1998 für zwei Wochen nach Erfurt abgeordnet war. Dressler hingegen erklärte, er könne sich an den von Brümmendorf geschilderten Sachverhalt "in dieser Form nicht erinnern". Er wisse auch nicht, wie mit den Listen damals weiter verfahren worden sei. LKA-Fahnder Sven Wunderlich hatte jüngst vor dem Ausschuss bemängelt, er habe die Listen seinerzeit nie erhalten.
Die Adressenvermerke wären doch "erstklassige" Hinweise für die Suche nach dem Trio gewesen, kritisierte Edathy. Dressler: "Da haben Sie recht." Brümmendorf wurde aus den Reihen des Ausschusses vorgehalten, er habe zwar zunächst besonders auf zwei in den Listen benannte Namen, die nahe an Aufenthaltsorte der Jenaer Gruppe hätten führen können, aufmerksam gemacht, dies dann aber in seinem Schlussvermerk zum Ende seiner Tätigkeit in Erfurt nicht niedergelegt – so dass dieser wichtige Hinweis bei den Ermittlungen nicht mehr beachtet worden sei.
Auch wäre es seine Aufgabe als BKA-Vertreter gewesen, außerhalb von Thüringen bei Sicherheitsbehörden anderer Länder näher abzuklären, was es mit Kontaktdaten aus deren Zuständigkeitsbereich auf sich habe, die auf den Listen standen. Brümmendorf räumte ein, solche Abfragen nicht vorgenommen zu haben. Zur Begründung meinte er, neben der Erwähnung auf den Listen habe es keine anderen Hinweise gegeben, dass diese Adressen von Bedeutung sein könnten.
Bereits am Donnerstag, 28. Februar, hatte der ehemalige V-Mann-Führer von Tino Brandt vor dem Ausschuss bestritten, den bis 2001 für das Erfurter Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) als Spitzel "Otto" tätigen führenden Kopf des rechtsextremen "Thüringer Heimatschutzes" (THS) vor polizeilichen Untersuchungen gegen ihn gewarnt zu haben. Norbert Wiesner hatte auf entsprechende Fragen von SPD-Obfrau Dr. Eva Högl und Linken-Sprecherin Petra Pau erklärt, unter seiner Verantwortung seien solche vertraulichen Informationen nicht aus dem Amt nach außen gedrungen: "Ich habe das selbst nie gemacht."
Der 66-jährigen Ruheständler sagte, er habe gar nichts von Aktionen des Landeskriminalamts (LKA) gegen den THS-Mann gewusst. Högl und Pau wiesen den Zeugen darauf hin, dass Brandt nach eigenen Angaben fast immer von polizeilichen Durchsuchungen gewarnt worden sei und dass in einem Fall bei der Ankunft der LKA-Ermittler sogar die Festplatte aus seinem Computer ausgebaut gewesen sei.
Wiesner bezeichnete "Otto", der für seine mehrjährige Spitzeltätigkeit vom Geheimdienst rund 200.000 Mark erhalten haben soll, als seinerzeit wichtigste Quelle in der rechtsextremen Szene Thüringens, zu der das LfV ansonsten nur schwer Zugang habe finden können. Zu der Behauptung Brandts, er habe das Honorar des Geheimdiensts vorwiegend zur Finanzierung des THS genutzt, meinte der Zeuge, der V-Mann habe dies nach seiner Enttarnung 2001 so darstellen müssen, um weiter in seinem thüringischen Umfeld wohnen bleiben zu können. Wiesner räumte ein, dass der Verfassungsschutz im Prinzip nicht wisse, was seine Quellen mit dem an sie gezahlten Geld machen.
FDP-Obmann Hartfrid Wolff zeigte sich "erstaunt", dass der Geheimdienst über die rechtsextreme Szene gut unterrichtet gewesen sei, über Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe indes kaum etwas erfahren haben will. Dieses Jenaer Trio, das nach seinem Abtauchen im Januar 1998 zum NSU mutiert ist, war zuvor im THS aktiv.
Clemens Binninger (CDU/CSU) kritisierte, dass beim Einsatz von V-Leuten "Aufwand und Risiko in keinem Verhältnis zum Ertrag" stünden. Wiesner bestritt die Angaben anderer Zeugen, wonach beim LfV 1997 vorübergehend erwogen worden sei, Zschäpe als Informantin anzuwerben, worauf dann aber verzichtet worden sei. Er könne sich solche Aussagen "nicht erklären", so der Zeuge: "Diesen Sachverhalt kenne ich nicht."
Jens Petermann (Die Linke) monierte, dass Brandt als Spitzel geführt worden sei, obwohl das LKA gegen ihn über 30 Ermittlungsverfahren eingeleitet habe. Wiesner konterte, es sei nie zu einer Verurteilung Brandts gekommen, weshalb er weiterbeschäftigt worden sei.
Grünen-Obmann Wolfgang Wieland erinnerte an den Vorwurf des ehemaligen LfV-Chefs Helmut Roewer, Wiesner habe ein zu enges persönliches Verhältnis zu dem THS-Mann gepflegt und habe sich sogar noch nach dessen Abschaltung mit ihm getroffen.
Der Zeuge wies diese Kritik Roewers "auf das Schärfste" zurück. Die mit Zustimmung seines Vorgesetzten organisierte Begegnung mit Brandt habe nur der ordnungsgemäßen Abwicklung der Tätigkeit als Quelle gedient. Wiesner empörte sich, dass zu jener Zeit Roewer sein Handy habe abhören lassen.
Bei der Suche nach dem Anfang 1998 untergetauchten Jenaer Trio sei der LKA-Zielfahnder Sven Wunderlich über die Erkenntnisse des LfV stets umfassend unterrichtet worden, betonte der Zeuge. Wunderlich sei sogar bei LfV-Aktionen persönlich dabei gewesen. So habe man dessen Vorwurf entkräften wollen, nicht alle Informationen des Geheimdiensts zu erhalten.
Lange Zeit habe ihn der Zielfahnder öfters sogar aufgefordert, ihm endlich die Adresse der drei Untergetauchten zu nennen, berichtete Wiesner. Umgekehrt habe das LfV zu der verschwundenen Gruppe kaum etwas vom LKA erfahren: Es sei um "Konkurrenz" gegangen, die LKA-Fahnder hätte die Gruppe zuerst finden wollen. Eine "ungesunde Rivalität", kommentierte Binninger. (kos/01.03.2013)
28. Februar 2013
1. März 2013