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Als Büroleiter des hessischen Innenministers Ekkehard Gries nahm Dr. Wolfgang Gerhardt im Oktober 1977 am Frankfurter Flughafen die von palästinensischen Terroristen entführten und dann von einem GSG9-Spezialkommando befreiten "Landshut"-Geiseln in Empfang. Als stellvertretender hessischer Ministerpräsident redete er später im Bundesrat, als die Mauer gefallen war. Der promovierte Erziehungswissenschaftler war Vorsitzender der FDP, Fraktionschef im Bundestag und beinahe Außenminister. Nach 16 Jahren Landtag und 19 Jahren Bundestag nimmt der 69-Jährige nun zwar Abschied von der Politik. Seiner Partei bleibt der im hessischen Ulrichstein geborene Gerhardt dennoch erhalten: Den Vorsitz der FDP-nahen "Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit" behält er weiterhin.
Seine Tage im Bundestag sind gezählt – ein Jammer, denn ein schöneres Büro kann man dort kaum haben: Das Brandenburger Tor ist nur einen Steinwurf entfernt, die Kuppel des Reichstagsgebäude durch die bodentiefe, breite Fensterfront im sechsten Stock des Jakob-Kaiser-Hauses zum Greifen nah. Bewusst überlässt Wolfgang Gerhardt Besuchern den Platz auf dem gelben Sofa, von dem sie das Panorama ausgiebig bestaunen können.
Der Abschied von diesem Ort und auch der Rückzug aus der Politik scheinen Gerhardt jedoch nicht schwer zu fallen: "Es war eine Kopf- und eine Bauchentscheidung", sagt er. "Ich habe schon zu Beginn der Legislaturperiode gewusst, dass es meine letzte ist." 35 Jahre als Abgeordneter in Landtag und Bundestag seien einfach genug, findet er.
Als 22-Jähriger kommt Gerhardt 1965 zur FDP. Er studiert zu dieser Zeit in Marburg Erziehungswissenschaften, Germanistik und Politikwissenschaft – letzteres ausgerechnet bei dem bekannten marxistischen Theoretiker Wolfgang Abendroth.
"Er war ein fantastischer Hochschullehrer – man musste ja nicht in allen Fragen seiner Meinung sein", sagt Gerhardt, der sich im Liberalen Hochschulbund für Hochschulreformen aber auch für eine neue Deutschlandpolitik engagiert: "Die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie war damals hoch umstritten – ein Tabu, das wir überwinden wollten." Geprägt haben ihn, sagt er, vor allem Liberale wie Hans Wolfgang Rubin und Werner Maihofer, Wegbereiter und Vertreter der späteren sozialliberalen Koalition.
Nach seiner Promotion 1970 über die Bildungspolitik der FDP nach 1945 leitet Gerhardt das Regionalbüro der Friedrich-Naumann-Stiftung in Hannover und wird persönlicher Referent des hessischen Innenministers Hanns-Heinz Bielefeld. Unter dessen Nachfolger Ekkehard Gries steigt er zum Leiter des Büros des Hessischen Staatsministers des Innern auf.
Es ist die Zeit, in der der Terror der "Roten Armee Fraktion" Deutschland in Atem hält. Er beschäftigt auch Gerhardt: Am 24. April 1975 landet bei ihm im Ministerbüro ein Anruf der schwedischen Reichspolizei, die wegen der Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm eigentlich das Bundeskriminalamt erreichen will. Da gibt es einen Knall: "Ich hörte, wie eine Sprengladung explodierte." Es gibt Tote und Verletzte in der Stockholmer Botschaft. Rund zwei Jahre später ist er Teil einer Delegation, die am Flughafen Frankfurt die Geiseln aus der befreiten Lufthansa-Maschine "Landshut" in Empfang nimmt. "Der RAF-Terror hat uns täglich beschäftigt", sagt Gerhardt im Rückblick.
1978 zieht Gerhardt selbst in den Hessischen Landtag ein, dem er dann bis 1994 angehört. 1987 wird er Wissenschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident. In diese Zeit fällt auch der für ihn bedeutendste parlamentarische Moment: Als die DDR-Regierung am 9. November in Berlin die Grenze öffnet, redet er am nächsten Morgen im Bundesrat. "Ich erinnere mich gut, wie Walter Momper als Bundesratspräsident die Sitzung eröffnete und zunächst über die Geschehnisse der vergangenen Nacht sprach."
1991 verliert Schwarz-Gelb die Landtagswahl in Hessen und Gerhardt tritt zurück. Seine Laufbahn im Hessischen Landtag sieht er am Ende: "Ich wollte nicht als ehemaliger Minister im Parlament bleiben. Also habe ich sehr frühzeitig den Kollegen mein Ausscheiden und meine Bundestagskandidatur angekündigt." Drei Jahre später zieht Gerhardt tatsächlich in den Bundestag ein.
Zunächst wird er Mitglied im Postausschuss, später im Auswärtigen Ausschuss, dem er bis heute angehört. Seine Karriere nimmt Fahrt auf: 1995 übernimmt er den Bundesvorsitz der FDP, 1998 auch den Fraktionsvorsitz. Zudem profiliert sich Gerhardt als Außenpolitiker. Gerne wäre er Außenminister geworden. 2002 gilt er im Falle eines schwarz-gelben Wahlsiegs als gesetzt in diesem Amt, doch dann kommt die Elbe-Flut in Ostdeutschland und die SPD gewinnt die Wahl. Unvollendet sieht er seine Laufbahn deshalb nicht: "Ich habe bedauert, nicht Außenminister geworden zu sein. Aber als Fraktionsvorsitzender in der FDP im Bundestag bot man mir auch genügend Raum zur Politikgestaltung."
"Als Fraktionsvorsitzender gewann Gerhardt Statur, doch ein Mann der lauten Töne war er nie", schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung über ihn. Er sieht es so: "In der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner habe ich immer das Florett bevorzugt." Doch das scheint nicht auszureichen.
Als die FDP nach der Bundestagswahl erneut in der Opposition landet, ist er im innerparteilichen Ringen um die Macht Guido Westerwelle unterlegen. Bereits 2001 hat dieser Gerhardt an der Parteispitze abgelöst, nun beansprucht er auch den Fraktionsvorsitz. Viele empfinden es als ein jähes Ende seiner Karriere, als er im März 2006 den Posten abgibt und abseits der Tagespolitik Leiter der Friedrich-Naumann-Stiftung wird. Doch Gerhardt beharrt: "Ich habe schon damals die Potenziale dieser Aufgabe gesehen."
Seither treiben ihn nicht mehr Wahlergebnisse um, sondern viel grundsätzlichere Probleme der FDP: "Warum tut sich der politische Liberalismus in Deutschland so schwer? Warum können so wenige Menschen mit Freiheit umgehen? Warum haben sie sogar Angst, Dinge selbst in die Hand zu nehmen?" Mit solchen Fragen sich zu beschäftigen, sei wichtig, so Gerhardt, und nun sein Job.
So betreut er als Herausgeber die Zeitschrift "liberal" – für den erklärten "Vielleser" Gerhardt, der als Student mit dem Gedanken liebäugelte, Journalist zu werden, eine besondere Freude: " Vielleicht hätte ich doch Journalist werden sollen, so viel Spaß macht mir das!" Diese Arbeit sei auch der Grund, weshalb es ihm leichtfällt, vom Mandat Abschied zu nehmen: "Ich bin ja weiterhin in Berlin, ich ziehe nur in ein anderes Büro. Als Stiftungsvorsitzender habe ich Zugang zum Präsidium der FDP und zum Bundestag. Kein Kontakt wird gekappt, ich bestimme nur, wann ich davon Gebrauch mache. Das gefällt mir." (sas/01.07.2013)