Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > Textarchiv
Geschaffen worden war das Grundgesetz als Provisorium "in großer heilsam provinzieller Bescheidenheit", wie der Rechtsgelehrte Peter Häberle schreibt. Dass daraus eine "Erfolgsgeschichte" wurde, lässt sich auch an der Wirkung des Grundgesetzes weit über die Grenzen Deutschlands hinaus ablesen. Nicht nur in Europa hat man sich daran orientiert. Auch in asiatischen Staaten wie Japan, Südkorea und Taiwan, auf dem afrikanischen Kontinent, vor allem in Südafrika, sowie in Staaten Lateinamerikas wurden Grundgesetzartikel, -strukturen und -prinzipien zum Vorbild. Vom "Exportgut" oder gar "Exportschlager Grundgesetz" ist daher zuweilen die Rede.
Aber Verfassungsrecht wird nicht gleich einem Wirtschaftsgut in eine andere Rechtsordnung überführt. Wegen der unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gilt vielmehr, was schon der Staatsrechtler Rudolf Smend bemerkte: "Auch wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe."
Neben dem Wortlaut des Grundgesetzes, spielen außerdem die Rechtsprechung, vor allem des Bundesverfassungsgerichts, sowie die Beiträge der Verfassungsrechtslehre eine Rolle. Von einer Ausstrahlungs-"Trias" schreibt Häberle treffend.
Verfassungsvorbilder sind vor allem nach Krisen oder tiefgreifenden Umbrüchen gefragt. So nahmen sich die Verfassungsgeber in Spanien nach der Franco-Diktatur in den 1970er-Jahren das Grundgesetz zum Vorbild, als es um Vorschriften für die Ablösung des Regierungschefs durch ein Misstrauensvotum ging.
Auch in Portugal und Griechenland orientierte man sich damals beim Übergang zur Demokratie am Grundgesetz. Erheblichen Einfluss gewann es in den 1990er-Jahren, als sich nach dem Zerfall der Sowjetunion zahlreiche Staaten Ost- und Mitteleuropas an der deutschen Verfassungsordnung orientierten.
Beachtliche Vorbildwirkung entfaltete das Grundgesetz außerdem in Südafrika nach dem Ende des Apartheid-Regimes. Maßgeblich dafür waren, ähnlich wie in Europa, historische und (rechts-)kulturelle Nähe sowie die intensive Beratertätigkeit deutscher Juristendelegationen.
Deutschland war es nach der Hitler-Diktatur gelungen, mit dem Grundgesetz ein neues Kapitel von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufzuschlagen. Der grundgesetzliche Impetus des "nie wieder" habe die Verfassungsarbeiten in Post-Apartheid-Südafrika inspiriert, schreibt der südafrikanische Jurist Henk Botha.
Besonderen Eindruck hätten das Grundgesetz und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch deshalb gemacht, weil nicht nur die Abwehrfunktion der Grundrechte, sondern ebenfalls die Bedeutung des Allgemeinwohls und die Pflicht des Staates zur Absicherung eines wirtschaftlichen und sozialen Minimums betont werden.
Auch dass die Grundrechte nach deutschem Verfassungsverständnis ins Privatrecht ausstrahlen (Drittwirkung der Grundrechte), fand in Südafrika aus Sorge vor einer "Privatisierung der Apartheidspolitik" starke Beachtung. So heißt es in der südafrikanischen Verfassung, dass die Gerichte "in angemessener Weise" "den Geist, die Bedeutung und die Ziele" der Grundrechte zu berücksichtigen haben.
Große Vorbildwirkung hat das deutsche Verfassungsrecht auch beim Schutz der Menschenwürde entfaltet. Verfassungsrechtler Häberle würdigt den entsprechenden Grundgesetzartikel (1 Absatz 1) als Vorschrift, die "weltweit" Beachtung gefunden habe – von den Niederlanden bis Malawi.
Als die "weltweit erfolgreichste" Grundgesetznorm nennt Häberle jedoch die Wesensgehaltsgarantie des Grundgesetzes (Artikel 19 Absatz 2). Danach darf ein Grundrecht nicht in seinem Kern angetastet werden.
Ähnliche Vorschriften sind zum Beispiel in den Verfassungen der Türkei (Artikel 11 Absatz 2 der Verfassung von 1961) und Chiles (Artikel 19 Ziffer 26 der Verfassung von 1980) sowie in zahlreichen osteuropäischen Verfassungen und auch in der EU-Grundrechte-Charta von 2000 (Artikel 112 Absatz 1) verankert worden.
Ganz weit oben auf der Liste international rezipierter Grundrechtsideen stehen nach Beobachtungen des Verfassungsrechtlers Ulrich Karpen auch die Prinzipen des Föderalismus, der Grundsatz der Gewaltenteilung und die Wächterrolle des Bundesverfassungsgerichts. Karpen verweist dabei auf seine Erfahrungen als Mitglied von Beraterdelegationen in Lateinamerika, auf dem Balkan, in Transformationsländern der ehemaligen Sowjetunion, in Irak, Afghanistan und in Afrika.
Selbstverständlich ist das deutsche Verfassungsdenken jedoch nur eine Quelle für Veränderungen in Transformationsländern. Zunehmende Aufmerksamkeit finden das europäische Recht und die Rechtsprechung der europäischen Gerichtshöfe, die aber ihrerseits Konzepte des Grundgesetzes verarbeiten.
Als aktuelles Beispiel hebt der amerikanische Staatsrechtler Russell Miller die vom deutschen Verfassungsrecht inspirierte Schuldenbremse hervor, zu deren Einführung sich die Euroländer zur Bewältigung der europäischen Finanz- und Schuldenkrise verpflichtet haben. Auch im Zusammenwirken mit dem europäischen Recht wird dem Grundgesetz also fortgesetzte Ausstrahlungswirkung auf Verfassungsentwicklungen im Ausland zugeschrieben. (gel/31.10.2013)