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Fast 65 Jahre Bundestagsgeschichte – das sind 17 Legislaturperioden, acht Bundeskanzler und unzählige Reden, die im Plenum des Parlaments gehalten wurden. Einige Debatten in dieser Zeit waren besonders kontrovers, wie etwa die über die Frage der Wiederbewaffnung Deutschlands 1952 oder die der Ostverträge 1972. Eine der herausragenden Debatten der vergangenen, der 17. Wahlperiode des Bundestages, war die sogenannte PID-Debatte, bei der die Abgeordneten am 7. Juli 2011 miteinander rangen, ob sie die umstrittene Präimplantationsdiagnostik (PID) in Grenzen zulassen oder verbieten sollten.
Es war ein Urteil, das den Bundestag unter Zugzwang setzte: Am 6. Juli 2010 entschieden die Richter des Bundesgerichtshofes, dass Präimplantationsdiagnostik nicht unzulässig ist – und überraschten damit viele. Bislang nämlich waren nach Auffassung der meisten Juristen und Mediziner in Deutschland Gentests, die an künstlich im Reagenzglas gezeugten Embryonen vorgenommen werden, durch das Embryonenschutzgesetz von 1991 verboten.
Ein Berliner Gynäkologe jedoch hatte das angezweifelt und an Embryonen bei erblich vorbelasteten Paaren Gentests vorgenommen. Er setzte den Frauen nur jene ein, die keinen Erbdefekt aufwiesen und zeigte sich an. Sein Ziel: Rechtssicherheit schaffen. Viereinhalb Jahre dauerte das Verfahren – dann wurde der Arzt freigesprochen. Die Politik aber war damit unter Druck geraten, zügig eine gesetzliche Regelung für den Umgang mit der umstrittenen PID zu finden. Keine leichte Aufgabe für das Parlament.
Denn in dieser bioethischen Frage schwelte schon lange Streit nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der einzelnen Fraktionen. Die Frage, ob ein Embryo bereits in der Petrischale über den vollen Grundrechtsschutz verfügt, spaltete Befürworter und Gegner.
Während die Gegner befürchteten, dass eine Erlaubnis der PID-Technik die Tür zum Designerbaby öffnen könnte, argumentierten die Befürworter, dass das Aussortieren erbkranker Embryonen eine Mutter weniger belaste als eine sonst eventuelle erforderliche Spätabtreibung. Uneinig waren sich aber auch die Befürworter – so vor allem in der Frage, ob auch Erbkrankheiten, die erst im fortgeschrittenen Alter auftreten, ein Grund für das Selektieren der Embryonen sein dürfen.
So kam es, dass der Bundestag am 14. April 2011 mit seinen Beratungen über insgesamt drei Gesetzentwürfe zur Regelung der PID begann, die alle von fraktionsübergreifenden Gruppen erarbeitet worden waren. Die Befürworter der PID um Ulrike Flach (FDP), Peter Hintze (CDU/CSU), Dr. Carola Reimann (SPD), Dr. Petra Sitte (Die Linke) sowie Jerzy Montag (Bündnis 90/Die Grünen) hatten einen Gesetzentwurf eingebracht, der sich für eine begrenzte Zulassung von Gentests an künstlich erzeugten Embryonen aussprach.
Diese sollten erst nach verpflichtender Aufklärung und Beratung sowie dem positiven Votum einer Ethikkommission die PID zulässig sein – und nur, wenn ein oder beide Elternteile die Veranlagung für "eine schwerwiegende Erbkrankheit in sich tragen oder mit einer Tot- oder Fehlgeburt zu rechnen ist", so der Gruppenantrag, den 216 Abgeordnete unterzeichnet hatten.
Auch nach einem zweiten Entwurf, der von einer Gruppe von 36 Parlamentariern um René Röspel SPD), Priska Hinz (Bündnis 90/Die Grünen) sowie Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU) und Patrick Meinhardt (FDP) unterstützt wurde, sollte das Verfahren "grundsätzlich" verboten, in Ausnahmefällen aber "nicht rechtswidrig" sein.
Der Auffassung dieser Abgeordneten zufolge könne PID nur für Paare zugelassen werden, die eine genetische Veranlagung dafür haben, dass Schwangerschaften in der Regel mit einer Fehl- oder Totgeburt oder dem sehr frühen Tod des Kindes innerhalb des ersten Jahres enden. Wie auch der erste Entwurf sah dieser Gentests nur nach Beratung und Zustimmung einer Ethikkommission vor.
Der dritte Entwurf schließlich lehnte die Präimplantationsdiagnostik komplett ab. Die insgesamt 192 Unterstützer, zu denen unter anderem Volker Kauder (CDU/CSU), Johannes Singhammer (CDU/CSU), Birgitt Bender (Bündnis 90/Die Grünen), Andrea Nahles (SPD) und auch Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU/CSU) gehörten, warnten vor einer Zukunft mit Designerbabys.
Schließlich gäben Gentests nicht nur Aufschluss über schwere Erbkrankheiten, sondern auch über andere Merkmale wie etwa das Geschlecht, so die Argumentation. Die Unterstützer befürchteten, Embryonen könnten durch die Selektion zu Abfallprodukten werden. Undenkbar, steht doch ihrem Verständnis nach dem Embryo von Anfang an die volle Menschenwürde zu – auch wenn dieser in einem Reagenzglas erzeugt wurde.
Nach monatelangen Diskussionen beriet der Bundestag schließlich am 7. Juli 2011 in zweiter und dritter Lesung über die Zukunft der Präimplantationsdiagnostik. Unvereinbar standen sich die Positionen von Befürwortern und Gegnern gegenüber.
Die Abgeordneten des Bundestages hatten also zu entscheiden – und waren dabei nur ihrem Gewissen verpflichtet. Für die Abstimmung im Anschluss an die auf drei Stunden angesetzte Debatte war die Fraktionsdisziplin aufgehoben worden. Und so warben die 37 Redner, Befürworter wie Gegner, noch einmal nachdrücklich für ihre Positionen. Denn: Rund 170 Abgeordnete galten noch als unentschlossen.
In der Plenardebatte betonten PID-Befürworter die Nöte von erblich belasteten Paaren mit Kinderwunsch. "Diese Eltern wünschen sich sehnlichst ein gesundes Kind", sagte Ulrike Flach, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium. Mit dem von ihr unterstützten Gesetzentwurf solle diesen Paaren geholfen werden, so die Liberale. Aus ihrer Sicht wäre die Zulassung der PID auch "kein Dammbruch", denn es gehe "um wenige Hundert Fälle im Jahr".
Peter Hintze (CDU/CSU) fügte hinzu, er halte es für "rechtlich nicht haltbar und moralisch verwerflich", mit einem strikten Nein zur PID die "Vermeidung von Abtreibung zu verbieten". Der CDU-Abgeordnete hob hervor: "Nicht eine Ethik der Strafe, sondern eine Ethik des Helfens macht unsere Gesellschaft menschlicher."
Dr. Carola Reimann (SPD) wandte sich gegen das Argument, die eingeschränkte Zulassung der PID ebne den Weg zum Designerbaby. "Wer die Prozedur einer PID auf sich nimmt, tut das nicht, um ein Kind mit blauen Augen zu bekommen", unterstrich die Vorsitzende des Gesundheitsausschusses.
Die Befürworter eines PID-Verbotes rückten die Auswirkungen einer PID-Zulassung auf das Wertegefüge der Gesellschaft in den Mittelpunkt. Bundestagsvizepräsident Dr. Wolfgang Thierse (SPD) sagte, eine PID-Zulassung stelle einen "fundamentalen Paradigmenwechsel" dar, werde mit der Methode doch eine "Qualitätsüberprüfung menschlichen Lebens" ermöglicht.
Volker Kauder (CDU/CSU) betonte, mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle werde der "Lebensprozess in Gang" gesetzt. Dazu gebe es keinen qualitativen Sprung". Er warnte vor "brutalen Konsequenzen", wenn der Mensch in diesen Prozess mittels PID eingreife.
Birgitt Bender (Bündnis 90/Die Grünen) warf dem Entwurf Hintze/Flach vor, er ermögliche, dass ein Embryo "aussortiert wird", der nur die Anlage für eine Behinderung mit sich bringt, aber die Chance hätte, zu einem gesunden Kind zu werden.
Eine solche Auswahl unterscheide "sich grundsätzlich von der Situation einer Abtreibung", denn da finde eine Abwägung der Rechtsgüter zwischen Frau und ungeborenem Kind statt. "Bei der PID wird nur aussortiert", sagte Bender.
Eine Sorge, die auch Dr. Ilja Seifert (Die Linke) umtrieb. Er wollte wissen, wie bei einer Zulassung der PID künftig zu verhindern sei, dass "aus einem Kinderwunsch bald auch Wunschkinder mit speziell geplanten Eigenschaften werden". Die PID könne zur Diskriminierung Behinderter beitragen.
Der Sozialdemokrat René Röspel bot den von ihm mitinitiierten Entwurf als Kompromiss an. "Wir wollen nicht, dass darüber entschieden wird, ob ein Leben gelebt werden darf. Aber wir akzeptieren die Tatsache, dass im Embryo die Entscheidung bereits getroffen ist, dass er nicht leben kann", sagte der SPD-Forschungspolitiker. Patrick Meinhardt (FDP) hob hervor, dass es ausdrücklich nicht um "Selektion" gehe.
Nach dreieinhalbstündiger eindringlicher Debatte in der zweiten Lesung votierten 306 der Abgeordneten in namentlicher Abstimmung für den von einer Ulrike Flach und Peter Hintze initiierten Gesetzentwurf, 228 für den unter anderem von Volker Kauder und Birgitt Bender unterstützten Entwurf. Der von René Röspel und anderen eingebrachte Kompromissvorschlag hingegen erhielt nur 58 Stimmen. So hatten die Abgeordneten nach dritter Lesung nur noch über den Flach/Hintze-Entwurf abzustimmen: Diesen nahmen sie mit 326 von 594 abgegebenen Stimmen an.
Für die umstrittene Präimplantationsdiagnostik schaffte der Bundestag mit dieser Entscheidung den rechtlichen Rahmen. Gentests an Embryonen sind heute in Deutschland zulässig, wenn Paare eine Veranlagung für eine schwerwiegende Erbkrankheit in sich tragen oder bei einer Tot- oder Fehlgeburt des Kindes zu rechnen ist. (sas/22.10.2013)