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Das Amt des Alterspräsidenten ist parlamentarische Tradition und Teil der Geschäftsordnung des Bundestages. Ein Amt von hoher Würde, aber nur von kurzer Dauer. Es hat sich nach traditioneller Praxis mit der Wahl des neuen Bundestagspräsidenten erschöpft. Obwohl er nicht in sein Amt gewählt wird, sondern in seiner Eigenschaft als ältester Abgeordneter zu dieser Ehre kommt, ist es anerkannte Tradition, dass der Alterspräsident die erste Rede vor dem Plenum hält. Bisher haben alle Alterspräsidenten der Bundesrepublik von dieser Tradition Gebrauch gemacht und dabei eigene Akzente gesetzt.
Nach dem ostdeutschen Schriftsteller Heym eröffnet am 26. Oktober 1998 zum zweiten Mal ein Vertreter der PDS die konstituierende Sitzung des Parlaments. Der 70-jährige Bundestagsabgeordnete Fred Gebhardt (1928-2000) hält als Alterspräsident die Eröffnungsansprache im 14. Deutschen Bundestag. Nachdem diese Tatsache vor vier Jahren bei den Unionsparteien noch Protest und die Sorge um die Würde des Amtes ausgelöst hatte, bleiben solche Bekundungen diesmal aus.
Das Alter und ein Parteiaustritt versetzen den ehemaligen Stadtrat 1998 in dieses Amt. Bis zu seinem 70. Geburtstag ist Gebhardt noch Mitglied in der SPD. Der Frankfurter ist SPD-Genosse der ersten Nachkriegsstunde. In der Zeit ist er unter anderem Frankfurter SPD-Vorsitzender, Mitglied des Wiesbadener Landtages und zeitweise stellvertretender Fraktionsvorsitzender.
Nach 52 Jahren aktiver Mitgliedschaft tritt er im Frühjahr 1998 aus der hessischen SPD aus. Bei der Bundestagswahl kandidiert er als Parteiloser über die offene Liste der PDS.
Die PDS überspringt mit 5,1 Prozent bundesweit die Fünf-Prozent-Hürde und ist zum ersten Mal in Fraktionsstärke im Bundestag vertreten. SPD und Bündnis 90/Die Grünen gewinnen die Bundestagswahl. Die SPD ist mit 40,9 Prozent Stimmenanteil zum ersten Mal seit 1972 wieder die stärkste Fraktion im Bundestag. Bündnis 90/Die Grünen kommen auf 6,7 Prozent. Nach 16 Jahren Regierungszeit müssen Union (35,1 Prozent) und FDP (6,2 Prozent) in die Opposition.
Gebhardt widmet seine Rede den Themen soziale Gerechtigkeit und Arbeitslosigkeit. Dieser Bundestag müsse sich auch daran messen lassen, ob es ihm gelinge, mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen und Armut zu überwinden, lautet seine Forderung.
Jeder Staat stehe heute vor der Frage, wie er Kosten senken, wie er Einsparungen vornehmen könne, fügt er hinzu. "Aber wir sollten uns davor hüten, auf Kosten von Kindern, Jugendlichen, Alten und Kranken zu sparen."
Dem 14. Deutschen Bundestag gibt er eine große Aufgabe auf.
Seines Erachtens kann das Parlament am Ende der Legislaturperiode erst dann mit seiner Arbeit zufrieden sein, wenn "die Arbeitslosigkeit zumindest drastisch abgenommen hat, unsere Gesellschaft sozial gerechter geworden ist, Geld, Gewinne und Profite nicht der dominierende Maßstab unseres Lebens sind, wir nicht Arme, sondern Armut bekämpft haben, wir beim ökologischen Umbau vorangekommen sind, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit zurückgedrängt wurden, wir nicht Flüchtlinge, sondern Fluchtursachen bekämpft haben, Jugendliche eine Perspektive besitzen, Chancengleichheit in der Gesellschaft zugenommen hat, wir bei der Gleichstellung der Geschlechter real vorangekommen sind und die Welt insgesamt friedlicher geworden ist, Hunger und Elend weltweit zurückgedrängt wurden".
Zum Schluss seiner Ansprache hat er noch einen Vorschlag zur Traditionserweiterung. "Was spräche eigentlich dagegen, daß der 15. Deutsche Bundestag wie bisher von seinem ältesten Mitglied eröffnet würde, zusätzlich aber das jüngste Mitglied die Gelegenheit zu einer Ansprache erhielte?", fragt er. Dafür erntet er bei allen Anwesenden des Hauses Beifall, der Vorschlag wird jedoch nie aufgegriffen.
Fred Gebhardt stirbt am 15. August 2000 im Alter von 72 Jahren. (klz/09.10.2013)