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**** NACH § 117 GOBT AUTORISIERTE FASSUNG ****
*** bis 12.40 Uhr ***
Deutscher Bundestag
47. Sitzung
Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014
Beginn: 9.00 Uhr
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Nehmen Sie bitte Platz. Ich wünsche Ihnen allen einen wunderschönen guten Morgen. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kollegin Annette Schavan hat mit Ablauf des 30. Juni 2014 auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Für sie ist der Kollege Waldemar Westermayer nachgerückt. Im Namen des gesamten Hauses begrüße ich den neuen Kollegen sehr herzlich und wünsche eine gute Zusammenarbeit.
(Beifall)
Der Ältestenrat hat sich in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt, während der Haushaltsberatungen ab dem 9. September 2014 keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Als Präsenztage sind die Tage von Montag, dem 8. September, bis Freitag, dem 12. September 2014, festgelegt worden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch – Leistungsausweitung für Pflegebedürftige, Pflegevorsorgefonds (Fünftes SGB XI-Änderungsgesetz – 5. SGB XI-ÄndG)
Drucksache 18/1798
Überweisungsvorschlag:
A. f. Gesundheit (f)
A. f. Recht und Verbraucherschutz
A. f. Arbeit und Soziales
A. f. Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über das Ergebnis der Prüfung der Notwendigkeit und Höhe einer Anpassung der Leistungen der Pflegeversicherung nach § 30 des Elften Buches Sozialgesetzbuch
Drucksache 18/1600
Überweisungsvorschlag:
A. f. Gesundheit (f)
A. f. Arbeit und Soziales
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau), Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Menschenrecht auf gute Pflege verwirklichen – Soziale Pflegeversicherung solidarisch weiterentwickeln
Drucksache 18/1953
Überweisungsvorschlag:
A. f. Gesundheit (f)
Finanzausschuss
A. f. Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Bundesminister Hermann Gröhe.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Hermann Gröhe, Bundesminister für Gesundheit:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich, heute mit Ihnen den Entwurf des ersten Pflegestärkungsgesetzes der Bundesregierung diskutieren zu können. Formal, dem Titel nach, handelt es sich um den Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch. Was aber dahintersteckt, ist alles andere als formal. Es geht um ein Thema, das nahezu jede und jeden in diesem Land betrifft, wenn nicht am eigenen Leib, dann doch in der Familie, in der Verwandtschaft, im Freundeskreis, bei der Arbeit. Es geht um Pflege; es geht um gute Pflege. Darauf kommt es an.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Und es kommt darauf an, dass wir 20 Jahre nach Einführung dieser wichtigen Sozialversicherung einen entscheidenden, einen notwendigen Schritt nach vorne gehen. Ich bin davon überzeugt, dass der vorliegende Gesetzentwurf der richtige Schritt ist, die Pflege in unserem Land nachhaltig zu stärken. Knapp 2,5 Millionen Menschen sind bei uns jeden Tag auf Pflegeleistungen angewiesen. Das entspricht der Einwohnerzahl von Köln und München zusammen. Rund 950 000 Frauen und Männer sind bei uns in gut 12 000 Pflegediensten und genauso vielen Pflegeheimen beschäftigt. Sie und die unzähligen pflegenden Angehörigen engagieren sich tagtäglich in beeindruckender Weise für ihre Mitmenschen. Herzlichen Dank für diesen Dienst!
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Diese Zahlen zeigen die gesellschaftliche Dimension, die das Thema Pflege besitzt. Aber es geht nicht um Zahlen. Es geht um Menschen. Es geht genau genommen um die Generation unserer Mütter und Väter, Menschen, denen wir alle unendlich viel verdanken. Eine gute und den Menschen in seinen individuellen Bedürfnissen respektierende Pflege ist Ausdruck der Humanität unserer Gesellschaft. Es geht darum, dass diese Menschen die pflegerische Begleitung erfahren, die ihren persönlichen Bedürfnissen entspricht. Mit unserem Gesetzentwurf stellen wir genau sie in den Mittelpunkt unserer Anstrengungen.
Dieser Bundesregierung liegen die Verbesserungen in der Pflege am Herzen. Das gilt auch für mich ganz persönlich. Das zeigt sich darin, dass wir bereits ein gutes halbes Jahr nach dem Regierungsstart heute dieses Gesetz vorlegen. Das zeigt sich darin, dass seit April dieses Jahres die Erprobung des neuen Begutachtungsverfahrens für den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff läuft. Und das macht sich auch an Personen fest. Ich freue mich, dass heute Staatssekretär Karl-Josef Laumann auf der Regierungsbank Platz genommen hat. Als Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung wird er nicht nur dieses, sondern auch weitere Gesetzeswerke intensiv begleiten. Er ist gleichsam Ohr und Sprachrohr für die Belange der Pflege innerhalb der Bundesregierung. Ich freue mich, ihn bei dieser Aufgabe an meiner Seite zu wissen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brauchen eine Pflege, die die Besonderheit eines jeden einzelnen Pflegebedürftigen wahrnimmt und berücksichtigt. Herzenswärme, Fachkompetenz und auch die Zeit für die kleinen Wünsche, das erhoffen wir uns von einer guten Pflege. Pflege und Pflegebedürftigkeit sind Themen, die uns alle bewegen und in Zukunft eine noch wichtigere Rolle spielen werden. Am Montag hat die OECD die aktuellen Gesundheitsdaten für Deutschland veröffentlicht. Demnach ist die Lebenserwartung in Deutschland bei Geburt auf nunmehr 81 Jahre gestiegen, und sie steigt weiter an. Ein heute 65-jähriger Mann darf erwarten, weitere gute 18 Jahre zu leben, eine gleichaltrige Frau rund 21 Jahre. Wir werden also in den nächsten Jahren mehr ältere und alte Menschen unter uns haben. Dies bedeutet, vielen Menschen werden viele gute Jahre geschenkt ‑ wahrlich ein Grund zur Freude!
Damit steigt zugleich die Zahl derjenigen an, die voraussichtlich der Pflege bedürfen. Bis zum Jahr 2030 ‑ so schätzen wir ‑ werden aus den heute 2,5 Millionen Pflegebedürftigen dann 3,5 Millionen pflegebedürftige Menschen, also rund 1 Million mehr, geworden sein. Dabei weise ich ausdrücklich darauf hin: Pflege ist nicht allein eine Sache des Alters.
(Beifall der Abg. Mechthild Rawert (SPD))
Auch ein Unfall, eine tückische Krankheit können für jeden von uns bedeuten, von einem Tag auf den anderen auf Pflege angewiesen zu sein.
Meine Damen, meine Herren, in mehreren Gesetzen stellen wir deshalb in dieser Wahlperiode die Weichen für eine Stärkung unseres qualitativ hochwertigen Pflegesystems. Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist dazu ein wichtiger erster Schritt. Wir stärken die Pflegebedürftigen. Wir stärken die Angehörigen. Wir stärken die Pflegekräfte.
Was heißt das konkret? Das bedeutet jährlich ein Plus von 2,4 Milliarden Euro an Leistungen für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen. Davon fließen rund 1,4 Milliarden Euro in die Stärkung der ambulanten Pflege. Dies entspricht dem Wunsch der ganz überwiegenden Zahl der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen, Pflege in den eigenen vier Wänden erleben zu können. Alle Leistungsbeträge der Pflegeversicherung werden um 4 Prozent angehoben, um der Preisentwicklung der letzten drei Jahre Rechnung zu tragen.
Wichtig für die Pflege in den eigenen vier Wänden ist der Umstand, dass wir die Unterstützung für den Umbau der eigenen Wohnung deutlich erhöhen. Da geht es mitunter um kleine Maßnahmen, die das Leben wieder vereinfachen oder sicherer machen, wie Haltestangen oder ‑griffe oder der Umbau der Toiletten, der Badezimmer. All dies wollen wir verstärkt fördern.
Pflege daheim. Der größte Pflegedienst in Deutschland ist nach wie vor die Familie. Hier geht mein besonderer Dank an die vielen Kinder und Enkel, Brüder und Schwestern und alle Verwandten, die ihren Angehörigen oftmals im wahrsten Sinne des Wortes unter die Arme greifen. Herzlichen Dank! Dies trägt zur Menschlichkeit unserer Gesellschaft unendlich viel bei.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, jede Pflegesituation ist anders. Deswegen bedürfen die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen passgenauer Hilfe für ihre jeweilige Lebenssituation. Unterstützungsleistungen wie die Kurzzeit-, Verhinderungs-, die Tages- und Nachtpflege sollen deshalb weiter ausgebaut und besser miteinander kombiniert werden können. Bisher wurden diese Leistungen zum Teil gegeneinander aufgerechnet. Das ändert sich nun. Wer beispielsweise bereits ambulante Pflegeleistungen und/oder Pflegegeld bekommt, kann künftig daneben die Tages- und Nachtpflege ohne Anrechnung voll in Anspruch nehmen.
Erstmalig - dies ist mir auch ganz wichtig - werden Demenzkranke in der sogenannten Pflegestufe 0 Sachleistungen der teilstationären Tages- und Nachtpflege in Anspruch nehmen können. Gerade für Familien mit demenziell erkrankten Pflegebedürftigen ist dies eine wichtige Verbesserung. Es ist übrigens ein Vorgriff auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff mit seinen künftig fünf Pflegegraden.
Neben der ambulanten Pflege nehmen wir auch eine Stärkung der stationären Pflege vor. Lassen Sie mich zunächst aber einige Anmerkungen zu denen machen, die Tag und Nacht professionell in unseren Pflegediensten und Pflegeheimen ihren Dienst tun. Ich habe bereits die Gelegenheit genutzt, ihnen für ihre wichtige Arbeit zu danken. Sie leisten einen Dienst am Menschen und an der Gesellschaft, dessen Anerkennung sich auch in einer angemessenen Vergütung widerspiegeln muss.
(Beifall im ganzen Hause - Volker Kauder (CDU/CSU): Mindestlohn!)
Wenn ich mir die Vergütungen der ausgebildeten Pflegekräfte in einzelnen Bundesländern ansehe, stelle ich fest: Diese fallen immer noch sehr unterschiedlich aus. Bei gleicher Arbeit und gleicher Qualifikation gibt es Unterschiede von bis zu 800 Euro im Monat. Ich bin sicher, dass die Vertragspartner angesichts des ansteigenden Fachkräftemangels in diesem Bereich hier zu weiteren Angleichungen nach oben kommen werden und kommen müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Meine Damen, meine Herren, gute Pflege braucht Zeit. Deswegen treiben wir den Abbau überflüssiger Bürokratie voran und erhalten dabei die notwendige Qualitätssicherung. Wir setzen auf Betreuung als Ergänzung zur Pflege; denn Lebensqualität für den Pflegebedürftigen hängt nicht nur an der fachlichen Pflege, sondern auch an anderen Dingen wie Zuhören, Geselligkeit und Vorlesen; jeder von uns kennt solche Lebenssituationen. Deswegen ist es wichtig, dass wir im Rahmen dieses Gesetzes eine halbe Milliarde Euro pro Jahr in die Hand nehmen, um die Zahl der Betreuungskräfte in unseren Pflegeeinrichtungen von 25 000 auf bis zu 45 000 zu erhöhen. Das bringt eine spürbare Verbesserung des Alltags und der Lebenssituation in unseren Pflegeeinrichtungen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Wie Sie wissen, werden wir neben diesen Leistungsverbesserungen zum 1. Januar 2015 jährlich rund 1 Milliarde Euro in einen Pflegevorsorgefonds einzahlen mit dem Ziel, dann, wenn die sogenannte Babyboomer-Generation ins Pflegealter kommt, zu erreichen, dass die Pflegebeiträge nicht ins Uferlose steigen. Dies ist ein konkreter Beitrag zur Generationengerechtigkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wir werden zu Anfang des nächsten Jahres mit der Arbeit am zweiten Pflegestärkungsgesetz beginnen. Wenn wir die Erprobungsergebnisse aus der laufenden Parallelbegutachtung haben, beginnt sofort der nächste Schritt: die Realisierung des in dieser Legislaturperiode insgesamt umzusetzenden neuen Begutachtungsverfahrens.
Heute aber bringen wir den ersten kraftvollen Schritt zur Verbesserung der Lage der Pflegebedürftigen, ihrer Angehörigen und der Pflegekräfte auf den Weg.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke erhält jetzt das Wort Pia Zimmermann.
(Beifall bei der LINKEN)
Pia Zimmermann (DIE LINKE):
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Herbst letzten Jahres legen sich in Deutschland in vielen Städten immer mehr Menschen samstags fünf vor zwölf auf die Straße und auf Plätze. Damit wollen sie zum Ausdruck bringen, dass in der Pflege hierzulande etwas nicht in Ordnung ist, dass die Pflege hierzulande am Boden liegt. Ich selber habe 15 Jahre im Pflegebereich gearbeitet und weiß genau: Sie legen sich auf die Straße für mehr Wertschätzung und Anerkennung ihrer Arbeit, für ein grundsätzlich anderes Verständnis von Pflege und für eine menschenwürdige Pflege.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Linke unterstützt dieses Anliegen; denn gute und umfassende Pflege ist ein Menschenrecht.
Und was machen Sie, meine Damen und Herren von der Großen Koalition? Sie täuschen Handlungsbereitschaft vor, anstatt die Probleme in der Pflege ernsthaft anzugehen.
(Beifall bei der LINKEN - Rudolf Henke (CDU/CSU): Das ist doch gar nicht wahr!)
Die Pflegeversicherung ist ungerecht. Als Teilleistungsversicherung macht sie gute Pflege vom Geldbeutel der Betroffenen abhängig, und das ist mit uns nicht zu machen.
(Beifall bei der LINKEN)
Gute Pflege darf kein Privileg sein, sondern muss für alle umfänglich zugänglich sein entsprechend den individuellen Bedürfnissen jedes einzelnen.
Schauen wir uns einmal an, was Sie vorhaben. Sie wollen die Leistungen der Pflegeversicherung um 4 Prozent anheben, das heißt eine Erhöhung um 4 Prozent in jeder Pflegestufe. Das verkaufen Sie als Verbesserung. Aber ‑ das muss in aller Deutlichkeit gesagt werden ‑ hierbei handelt es sich um eine längst überfällige Anpassung der Leistungen der immer teurer werdenden Pflege, Herr Minister Gröhe, und zudem ist es eine unzureichende Anpassung. Sie selber schreiben in dem heute vorliegenden „Bericht der Bundesregierung über das Ergebnis der Prüfung der Notwendigkeit und Höhe einer Anpassung der Leistungen der Pflegeversicherung“, dass Sie noch nicht einmal die vollständige Angleichung an die Preisentwicklung vornehmen, weil diese in den Jahren 2011 und 2012 vom hohen Anstieg der Energiepreise bestimmt war. Dies, meine Damen und Herren, lasse ich ganz unkommentiert.
Nur so viel: Hier zeigt sich deutlich, dass die immer wieder von den Verbänden formulierte Kritik an den fehlenden Regeln für diese Leistungsdynamisierung durch die Pläne der Bundesregierung einmal mehr bestätigt wird. Damit Anpassungen der Leistungen der Pflegeversicherung nicht weiterhin von politischer Willkür und von politischem Gutdünken abhängig sind, fordern wir eine gesetzliche, verbindliche jährliche Leistungsdynamisierung.
(Beifall bei der LINKEN)
Darüber hinaus muss die Pflege vollumfänglich ausfinanziert werden. Wir haben hier eine gesellschaftliche Verantwortung. Menschen mit Pflegebedarf, mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen haben einen Anspruch auf eine gute umfassende Pflegeversorgung, die sich nicht an Profiten orientiert, sondern an ihrem individuellen Bedarf.
(Beifall der Abg. Kathrin Vogler (DIE LINKE))
Herr Minister Gröhe, diese Verantwortung darf nicht ins Private abgeschoben werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Heute ist es so: Wer sich professionelle Pflege nicht leisten kann, ist auf die Unterstützung und auf ehrenamtliche Pflege aus der Familie und dem sozialen Umfeld angewiesen. Wer wo wann von wem gepflegt wird, muss aber eine selbstbestimmte Entscheidung der Betroffenen sein. Diese Entscheidung darf natürlich nicht durch finanzielle Nöte beschränkt werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Und da ist noch etwas: Sie haben die Personalsituation in der Pflege überhaupt nicht im Fokus Ihres politischen Handelns. Sie behaupten zwar, mit der ersten Stufe der Pflegereform die Personalsituation verbessern zu wollen, tatsächlich tun Sie das aber nicht. Herr Minister Gröhe, es kommt nicht nur darauf an, die Anzahl der Köpfe zu erhöhen, sondern es kommt auch darauf an, die Ganzheitlichkeit in der Pflege wiederherzustellen und das, was wir haben, zu behalten. Wenn Sie auf der Seite der Betreuungskräfte den Personalschlüssel erhöhen, aber auf der Seite der Pflegefachkräfte alles beim Alten lassen, senken Sie insgesamt das Pflegeniveau.
(Beifall bei der LINKEN)
Weder für die Pflegefachkräfte noch für die Betreuungskräfte wird es weniger Belastung geben. Die einen tragen Verantwortung und müssen zusehen, wie sie im Schweinsgalopp ihre Arbeit erledigt bekommen; die anderen tragen Verantwortung, erledigen die Betreuungsarbeit im Dauerlauf, und alle haben keine Chance, sich fort- und weiterzubilden.
Die meisten Menschen, die in der Pflege arbeiten, haben diesen Beruf ergriffen, weil sie gerne mit Menschen zusammenarbeiten wollen. Für sie sind Gespräche, Unterstützung bei der Grundpflege sowie soziale Interaktion elementarer Bestandteil ihres beruflichen Selbstverständnisses. Die Unterteilung von Pflege- und Sorgearbeit in verschiedene Arbeitsprozesse, nämlich Pflege auf der einen Seite und Betreuung und Unterstützung auf der anderen Seite, zerstört das Verständnis von umfassender Pflege. Herr Minister, so wird umfassende Pflege weiter abgewertet, und eine Attraktivitätssteigerung der Pflegeberufe findet nicht statt.
Meine Damen und Herren, kommen wir zur Bezahlung. Damit Lohndumping in der Pflege endlich ein Riegel vorgeschoben wird, muss der Pflegemindestlohn für Helferinnen und Helfer auf 12,50 Euro, wie es auch Verdi fordert, erhöht werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Für Fachkräfte darf ein Bruttogehalt von 3 000 Euro nicht unterschritten werden. Auch die Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten in der Pflege müssen spürbar verbessert werden. Aber statt einer solchen Anerkennung der professionellen Pflegearbeit schaffen Sie mit dieser Reform ein neues Einfallstor für prekäre Beschäftigung in der Pflege. Sie wollen Pflegesachleistungen in niedrigschwellige Betreuungs- und Entlastungsangebote umwidmen. Die Pflegesachleistungen waren bisher für die Finanzierung von ambulanten Pflegedienstleistungen vorgesehen. Nun sollen aus diesen Mitteln Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Helferinnen und Helfer bezahlt werden. Meine Damen und Herren, so geht das nicht. Dass dahinterstehende Verständnis ist doch Folgendes: Pflege kann jeder. ‑ Das ist eine Missachtung der hochanspruchsvollen Arbeit der Pflegekräfte.
(Beifall bei der LINKEN)
Außerdem liegt die Vermutung nahe, dass mit diesem Schritt ein eigenständiger Sektor an niedrigschwelligen Entlastungsangeboten geschaffen und der private Pflegemarkt weiter ausgebaut werden soll.
Meine Damen und Herren, die Linke fordert Sie auf: Lassen Sie die Pflege nicht länger am Boden liegen!
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Wir wollen das Recht auf selbstbestimmte Pflege in den Mittelpunkt stellen, sowohl für die Pflegebedürftigen als auch für die Pflegenden. Pflege und Betreuung müssen sich an den individuellen Bedürfnissen der Pflegebedürftigen ausrichten. Angehörige und nahestehende Personen müssen entlastet werden. Die Arbeitsbedingungen in der Pflege müssen unbedingt grundlegend verbessert werden. Das Pflegepersonal muss gerecht entlohnt werden.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Um all das verwirklichen zu können, braucht es eine entsprechende Finanzierung; das ist klar. Wir als Partei der Pflegegerechtigkeit
(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ‑ Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Das ist ja ganz neu!)
schlagen Ihnen dafür die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung vor.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank. ‑ Nächste Rednerin ist Hilde Mattheis, SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Hilde Mattheis (SPD):
Guten Morgen, Frau Präsidentin. ‑ Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor ungefähr einem Jahr attestierte eine Allensbach-Studie der Politik: Nur 64 Prozent der Bevölkerung glauben, dass sich bei der Pflege in der nächsten Zeit etwas ändern werde. 56 Prozent glauben sogar, dass die Politik überhaupt nicht in der Lage sei, für gute Pflege zu sorgen.
Diese Ergebnisse haben uns damals sehr beunruhigt. Ich glaube, wir haben uns in dieser Koalition auf einen guten Weg gemacht, genau das zu widerlegen und zu sagen: Wir sind bereit, und wir können in diesem Land für gute Pflege viel bewegen. ‑ Ich fordere die Opposition auf, uns auf diesem Weg positiv und kritisch-konstruktiv zu begleiten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Fundamentalkritik ist an der Stelle, an der es um Leistungsverbesserungen für Pflegebedürftige geht, nicht immer unbedingt dienlich. Wir wollen, dass in diesem Land bessere Leistungen bei den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen ankommen. Das tun wir mit diesem ersten Umsetzungsschritt.
(Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber klein!)
Wir wollen uns in dieser Legislaturperiode nicht nur mit diesem einen Baustein zufriedengeben. Unser Grundkonzept für bessere Pflege, für die Unterstützung von pflegenden Angehörigen und für mehr Anerkennung und Wertschätzung ‑ da finden Sie uns ganz massiv an Ihrer Seite ‑,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
unser Konzept sieht mehrere notwendige Bausteine vor.
(Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wollen wir nicht! ‑ Pia Zimmermann (DIE LINKE): Dann müssen Sie auch etwas tun!)
Diese Bausteine ‑ schauen Sie in unseren Koalitionsvertrag ‑ haben wir miteinander verabredet. Wir wollen nicht nur diesen ersten Umsetzungsschritt, sondern wir wollen die Ausbildungsreform und natürlich auch eine bessere Verankerung sowie eine Verständigung mit Ländern und Kommunen darüber, was deren Aufgabe ist. Frau Zimmermann, ich glaube, da sind wir einer Meinung: Wir hier in Berlin, in diesem Saal, können nicht sagen, welche Infrastruktur in einer Stadt notwendig ist. Da müssen wir uns schon auf einen gemeinsamen Weg begeben.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Neben all diesen Punkten ist uns ein wichtiges Anliegen, dass ‑ das steht auch so im Koalitionsvertrag ‑ in dieser Legislatur so schnell wie möglich die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs kommt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wenn wir jetzt diese Schritte miteinander vereinbaren, ist uns sehr wohl bewusst: Wir gehen damit einen Weg und nehmen einige Leistungen vorweg, aber ‑ auch das ist eine Vereinbarung, die wir getroffen haben ‑ die Reform dieses Begriffes wird kommen. Wenn nicht jetzt, wann dann in einer Großen Koalition?
Wir wollen mit der Vorwegnahme von Pflegeleistungen sehr schnell die Situation von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen verbessern. Wir haben lange darauf gewartet.
(Pia Zimmermann (DIE LINKE): Das stimmt!)
In der letzten Legislaturperiode war der Erfolg in diesem Bereich nur sehr eingeschränkt. In dieser Legislaturperiode ‑ das zu sagen, gestatten mir die Fachpolitiker aller anderen Fachrichtungen; man ist, wenn man mit Herzblut für eine Sache streitet, immer ein Stück weit mit Scheuklappen versehen ‑ ist das, was Pflege anbelangt, eines der zentralen Anliegen dieser Regierung.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU - Pia Zimmermann (DIE LINKE): Dafür machen Sie aber ganz schön wenig!)
Jetzt stellen Sie sich vor, wir hätten hier sehr schnell für alle Bereiche, die ich aufgezählt habe, etwas vorgelegt! Sorgfalt geht hier vor Schnelligkeit. Lassen Sie uns in dieser Legislatur lieber „step by step“ die Punkte umsetzen, die wir miteinander vereinbart haben.
Die Verbesserungen, zu denen es in der ersten Stufe kommen wird, sind nicht banal. Da geht es um bessere und flexiblere Leistungen für Angehörige. Da geht es darum, einen Mix hinzubekommen: Wenn man die Leistungen in der Kurzzeitpflege oder der Verhinderungspflege nicht voll ausschöpft, dann kann man im Rahmen der Leistungshinterlegung die Mittel, die für den einen Bereich vorgesehen waren, für den anderen Bereich nutzen. Das ist doch gut.
Wir wollen, dass die Tages- und Nachtpflege stärker unterstützt wird. Denn die Lebenssituation in den Familien ist einfach so, dass zum Beispiel Menschen mit Demenz eine Tagesstrukturierung nicht mehr hinbekommen, dass Angehörige wenigstens in der Nacht oder zeitweise am Tag entlastet werden wollen. Das ist doch die Lebensrealität.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es wurde hier eine Individualisierung gefordert; auf diese Weise kann man sie ein Stück weit erreichen.
Ein Punkt, der schon angeführt wurde, ist für uns von Bedeutung: Wir wollen die Leistungen nach § 45 b SGB XI verbessern und flexibilisieren. Das heißt auch, sich damit auseinanderzusetzen ‑ das ist von Wichtigkeit ‑: Wie kriegen wir es hin, zwischen einer Entlastungsleistung, einer Betreuungsleistung und einer Fachpflegeleistung zu differenzieren und das Zusammenspiel so individuell zu gestalten, dass es wirklich dem Bedarf der Menschen gerecht wird,
(Beifall der Abg. Sabine Dittmar (SPD))
anstatt einfach einen kategorischen Schnitt zu machen und für alle etwas zu hinterlegen? Wir selber können dabei nicht den Bedarf im Einzelfall ermessen; aber wir können den Rahmen dafür angeben, dass sich Bedarfe an individuellen Bedürfnissen ausrichten. Da machen wir jetzt mit diesem Gesetz einen ersten wichtigen Schritt und machen einen Knopf dran, so wie wir es jahrelang gefordert haben.
Der zweite Punkt. Ja, wir brauchen mehr Pflegefachkräfte. Sie haben es ausgeführt; wir alle sind uns da im Grunde einig. Wie kriegen wir das hin? Da gibt es keinen Königsweg; da gibt es viele Wege. Ein Weg ist eine Ausbildungsreform. Ein weiterer ist, den Beruf so attraktiv zu machen, dass die Verweildauer erhöht wird, dass Menschen diesen Beruf so lange ausüben können, bis sie in die Lebensphase der Rente eintreten, und ihn nicht vorher verlassen müssen, weil die psychische und körperliche Belastung so groß ist. Dazu brauchen wir ein Ausbildungsgesetz. Aber wir brauchen eben auch eine gute Bezahlung und einen guten Fachkräfteschlüssel. All diese Punkte betreffen die Rahmenbedingungen; wir werden sie angehen.
Wir haben den Bereich der Vorsorge in der Tat stark im Blick. Es gibt immer mehrere Möglichkeiten, Vorsorge zu organisieren. Eine Möglichkeit ist, Geld anzusparen, womöglich aber mit dem Risiko eines hohen Realwertverlustes. Eine andere Möglichkeit ist, Gelder einzusetzen, um Vorsorge dafür zu treffen, dass es im Jahr 2030 bzw. 2033 genug Arbeitskräfte gibt, die Menschen professionell pflegen können und in diesem Beruf ihre Erfüllung finden. ‑ Dass dieser Beruf erfüllt, dass ihn sehr viele Menschen gerne ausüben möchten, zeigen unter anderem die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit: Auf eine Ausbildungsstelle kommen drei Bewerber. An diesem Punkt müssen wir ansetzen. Wir wollen durch eine Erhöhung der Vorsorgemittel im Bereich Pflege dafür sorgen, dass im Jahr 2030 genügend gut ausgebildete Fachkräfte vorhanden sind, um die Menschen zu pflegen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Beim Thema Pflege braucht es nicht nur eine breite gesellschaftliche Akzeptanz, sondern auch eine breite gesellschaftliche Unterstützung. Pflege kommt nicht immer laut daher. Sie betrifft einen Bereich des Lebens, in dem es darum geht, dass Menschen ihre Würde behalten können und zu garantieren, dass Solidarität in der Gesellschaft greift ‑ eine Solidarität, die darauf beruht, dass diejenigen geben, die geben können, und diejenigen nehmen können, die den Bedarf haben; das betrifft den Anfang und das Ende des Lebens. So definieren wir Generationengerechtigkeit.
Lassen Sie uns das in die Tat umsetzen, damit die Menschen davon überzeugt werden: Politik ist imstande, etwas für die Pflege zu tun. Das wollen wir gemeinsam tun.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank. ‑ Nächste Rednerin ist Elisabeth Scharfenberg, Bündnis 90/Die Grünen.
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Weiterentwicklung in der Pflege, Neuorientierung in der Pflege, heute nun die Stärkung der Pflege ‑ egal welchen Namen Ihre Reform trägt, sie bleibt weit hinter den berechtigten Erwartungen der betroffenen Menschen und auch der Expertinnen und Experten sowie der Verbände zurück.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Auch innerhalb der Koalition scheint keine uneingeschränkte Harmonie zu herrschen.
(Jens Spahn (CDU/CSU): Doch, doch!)
Frau Kollegin Mattheis, Sie haben dieser Tage nochmals ‑ übrigens vollkommen zu Recht ‑ den unsinnigen Pflegevorsorgefonds infrage gestellt, und die Reihen werden immer dichter; die taz berichtet heute davon.
(Jens Spahn (CDU/CSU): Ja, wenn die taz berichtet, dann ist das gefährlich!)
Auf den unsinnigen Pflegevorsorgefonds komme ich später noch einmal zurück.
Zunächst stelle ich fest: Ja, wir brauchen eine bessere Pflege, und dafür brauchen wir wesentlich mehr Geld. Deswegen ist es im Grundsatz richtig, dass diese Koalition den Beitragssatz zur Pflegeversicherung deutlich anheben will; das ist unbestritten.
(Beifall des Abg. Dr. Karl Lauterbach (SPD))
Ich will auch nicht abstreiten, dass das eine gewisse politische Kraft erfordert. Aber ich frage mich: Ist das schon Leistung genug? Nein, es ist nicht genug; denn mehr Geld allein ist kein Wert an sich, mehr Geld allein ist auch keine Reform. Geld ersetzt keine Ideen, und diese Koalition hat keine Ideen.
(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Sie haben keine Vision, wohin sich der Bereich Pflege in unserer Gesellschaft entwickeln könnte. Sie haben kein mutiges, kein fortschrittliches Konzept, in welche Richtung Sie die pflegerische Versorgung in unserem Land weiterentwickeln wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Völlig klar ist: Wir können nicht weitermachen wie bisher. Die Menschen in unserem Land wollen das auch nicht, und doch machen Sie einfach so weiter.
(Mechthild Rawert (SPD): Das stimmt nicht!)
Sie setzen den Pflegezug auf die Schiene und lassen ihn in die falsche Richtung fahren. Aber bei einem Zug, der in die falsche Richtung fährt, ist eben auch jeder Haltebahnhof falsch. Auch wenn Sie uns hier erzählen, dass dieser Zug durch blühende Landschaften in Form Ihrer wirr zusammengewürfelten Leistungsverbesserungen fährt, können Sie es nicht schönreden. Am Ende des Tages liefern Sie Stückwerk ab. Sie nehmen die wirklich brennenden Probleme nicht in Angriff.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Machen wir es konkret!
(Volker Kauder (CDU/CSU): Jetzt wollen wir es wissen!)
Sie haben wieder einmal die überfällige Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs vertagt.
(Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist überhaupt nicht das Thema! Weiter! - Tino Sorge (CDU/CSU): Qualität geht vor Schnelligkeit, Frau Kollegin!)
Ob er dann, wenn er überhaupt jemals kommt, die hohen Erwartungen erfüllt, die über Jahre geweckt wurden, bleibt abzuwarten. Sie tun nichts für die Pflegekräfte. Sie tun nichts gegen den Fachkräftemangel. Über die angekündigte Reform der Pflegeausbildung sind Sie sich auch noch nicht einig.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE))
Sie haben auch noch nichts zur besseren Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf unternommen. Ebenso wenig schaffen Sie es, die Pflegeversicherung endlich nachhaltig und sozial gerecht zu finanzieren.
Stattdessen bleibt es dabei, dass sich die Privatversicherten konsequent aus der Solidarität mit den Schwächsten entziehen können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dafür parken Sie 1 Milliarde Euro pro Jahr in einem Pflegevorsorgefonds, der nicht funktionieren kann. Auch hier wird nur der Anschein von Nachhaltigkeit erweckt. Wir haben dazu vor einigen Wochen eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Das Ergebnis war: Sie konnten oder wollten keine halbwegs konkrete Zahl nennen oder sagen, was genau dieser Fonds eigentlich bringt. Mit anderen Worten: Sie können Ihre eigene Politik gar nicht erklären, weil Sie selbst nicht genau wissen, was der Fonds bringen soll, oder weil Sie genau wissen, dass der Fonds nichts taugt.
(Zuruf von der SPD: Alternativen bitte!)
Bis auf Herrn Spahn glaubt in dieser Koalition ja nicht wirklich jemand an diesen Unsinn.
(Zuruf von der CDU/CSU: Woher wissen Sie denn das? ‑ Thomas Oppermann (SPD): Was haben Sie denn vor?)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Herr Minister Gröhe, wie erklären Sie denn eigentlich den Pflegebedürftigen und den Angehörigen, den Pflegekräften und den gesetzlich Versicherten, dass Sie zwar viel Geld ausgeben werden ‑ es ist das Geld der Versicherten, das Sie ausgeben ‑, aber die Probleme nicht wirklich angehen? Was sagen Sie den ausgepowerten Pflegekräften? Was sagen Sie den überforderten pflegenden Angehörigen, die mit ihren realen Problemen, mit denen sie sich tagtäglich auseinandersetzen müssen, weiterhin alleingelassen werden? Diese Menschen werden dieser Debatte heute kopfschüttelnd und enttäuscht folgen. Herr Gröhe, Sie bleiben hier nicht nur Antworten schuldig ‑ das muss ich Ihnen ganz offen sagen ‑,
(Mechthild Rawert (SPD): Sie sollten schon mal besser zuhören! Das wäre hilfreich gewesen!)
sondern ignorieren auch die Lebenswelt und die Lebenswirklichkeit genau derer, die eine echte Pflegereform dringend gebraucht hätten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE))
Dieses Gesetz ist keine Pflegereform. Es ist allenfalls eine Pflegeversicherungsreform, eine sehr teure, aber bestimmt keine fortschrittliche Reform. Pflege ist mehr, viel mehr als nur die Pflegeversicherung. Das müssen wir endlich alle begreifen. Sie müssen sich viel deutlicher darauf besinnen, worum es bei den Betroffenen eigentlich geht. Deswegen sollten Sie sich, deswegen sollten wir uns alle fragen, welche Versorgung wir uns denn für uns selbst wünschen. Sagen Sie einmal ganz ehrlich: Wollen Sie für sich wirklich nur etwas mehr von dem, was wir schon haben? Das ist nämlich genau der Kurs, den Sie hier fahren. Ist es wirklich damit getan, die Leistungen der Pflegeversicherung um 4 Prozent anzuheben? Ich will das nicht kleinreden, wirklich nicht.
(Jens Spahn (CDU/CSU): Das tun Sie die ganze Zeit! Seit fünf Minuten!)
Aber ist das die Antwort auf die Probleme, die wir in der Pflege haben, die dieses Land braucht?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ‑ Mechthild Rawert (SPD): Welche Antwort braucht denn dieses Land?)
Wird diese Antwort den Menschen die Angst vor einem unwürdigen Leben im Alter nehmen?
(Volker Kauder (CDU/CSU): Solange wir das machen, haben wir keine Angst!)
Geht es nicht vielmehr darum, den Menschen eine Perspektive zu eröffnen, damit sie selbstverständlich auch bei Pflegebedürftigkeit an dieser Gesellschaft teilhaben können,
(Dr. Karl Lauterbach (SPD): Was sind denn Ihre Vorschläge? Noch kein einziger Vorschlag!)
die Perspektive, dass ein Leben im Alter und bei Pflegebedürftigkeit keine Last, sondern ganz normaler Bestandteil unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens ist?
(Thomas Oppermann (SPD): Was schlagen Sie vor?)
Teilhabe ist ein elementares Grundbedürfnis, ein elementares Recht. Das spielt in Ihrem Reformwerk aber überhaupt keine Rolle. Dabei ist es das, worum es uns allen im Kern geht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dazu braucht es ein grundlegendes Umdenken. Wir müssen Pflege wieder stärker als Aufgabe und Verantwortung von uns allen und für uns alle begreifen. Ein bisschen Rumwerkelei an der Pflegeversicherung ist einfach zu wenig. Es braucht ein deutliches Signal zur Stärkung ambulanter Versorgungsstrukturen. Wir brauchen einen neuen Pflegebegriff, mit dem nicht nur bestehende Leistungen der Pflegeversicherung erweitert werden, sondern mit dem flexible Formen von Leistungen bereitgestellt werden, Leistungen, die die Betroffenen bei der Führung eines selbstbestimmten Lebens wirklich unterstützen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hilde Mattheis (SPD): Das machen wir jetzt!)
Das Allerwichtigste ist: Die Pflege muss wieder dort gestaltet und gesteuert werden, wo sie stattfindet, das heißt vor Ort, in den Gemeinden, in den Vierteln, in den Quartieren, dort, wo die Menschen leben. Das kann eine Pflegeversicherung alleine aber nicht stemmen. Wir müssen vor allem die Kommunen in die Lage versetzen und dabei unterstützen, diese Gestaltungsaufgabe wieder wahrnehmen zu können. Das ist die eigentliche Zukunftsaufgabe, um die es geht.
In Ihrem Koalitionsvertrag steht einiges dazu drin. Dort steht auch, dass Sie sich mit der Situation der Kommunen beschäftigen wollen und klären wollen, wie die Rolle der Kommunen bei der Pflege gestärkt werden kann. Nur, es passiert einfach nichts. Man hört rein gar nichts von Ihnen dazu.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ‑ Tino Sorge (CDU/CSU): Machen Sie doch einmal die Augen und die Ohren auf! ‑ Mechthild Rawert (SPD): Sie müssen auf den Herbst warten!)
So mutig es erscheinen mag, der Pflegeversicherung mehr Geld zur Verfügung zu stellen, so kraftlos, beinahe feige, ist das, was Sie diesbezüglich am Ende des Tages anstellen.
(Dr. Karl Lauterbach (SPD): Die Rede ist kraftlos! ‑ Thomas Oppermann (SPD): Das ist eine enttäuschende Rede!)
Meine Fraktion, ich und auch die betroffenen Menschen im Land haben wirklich mehr von Ihnen erwartet.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ‑ Tino Sorge (CDU/CSU): Wir haben heute auch mehr von Ihnen erwartet!)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank. ‑ Der nächste Redner ist Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach (SPD))
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Frau Scharfenberg und Frau Zimmermann, Ihre Kritik war mir zu pauschal.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD ‑ Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Damit müssen Sie leben! ‑ Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wird uns auch zu wenig sein, was jetzt kommt!)
Wenn man diesem Thema gerecht werden will, dann muss man schon beim Thema bleiben
(Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe das Thema auf den Punkt gebracht!)
und die Substanz zumindest ein bisschen würdigen, dann muss man sich mit dem beschäftigen, was wir tatsächlich verbessern.
(Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann legen Sie einmal los, Herr Nüßlein! Aber inhaltlich!)
Wenn Sie im Detail Kritik üben wollen, können Sie das gerne tun. Wenn Sie hier aber in Minioppositionsmanier in Bausch und Bogen alles pauschal verdammen, was wir hier machen, dann werden Sie nicht einmal Ihrer Rolle als Opposition ordentlich gerecht.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Der Deutsche Bundestag hat vor 20 Jahren die Pflegeversicherung beschlossen.
(Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt mal zur Sache!)
Sie war damals gar nicht unumstritten, was man heute gar nicht mehr glauben mag; denn wir alle wissen, dass diese Pflegeversicherung ein Erfolgsmodell ist, um das uns Europa mittlerweile beneidet.
(Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das bloß nie bei den Menschen ankam!)
Wir haben in den letzten beiden Legislaturperioden bereits deutliche Verbesserungen vorgenommen: Wir haben Leistungen dynamisiert, Maßnahmen zur Entlastung pflegender Angehöriger und Zusatzleistungen für an Demenz erkrankte Pflegebedürftige beschlossen; das ist nichts Neues. Zusammengenommen gab es dadurch Leistungsverbesserungen mit einem Volumen von über 3 Milliarden Euro. Von einem Stillstand in der Pflegepolitik zu sprechen, war also schon vor der Reform, über die wir heute in erster Lesung debattieren, falsch.
(Beifall bei der CDU/CSU ‑ Pia Zimmermann (DIE LINKE): Das stimmt! Sie war rückwärtsgewandt!)
Es geht weiter voran. Mit dem ersten Pflegestärkungsgesetz bringen wir in einer ersten Stufe ‑ ich sage das ganz bewusst; hier hat die Nummerierung tatsächlich einmal einen Sinn, weil es in dieser Legislaturperiode zwei Reformstufen geben wird ‑ die im Koalitionsvertrag vereinbarten Verbesserungen im Bereich Pflege auf den Weg. Dabei geht es um eine Vielzahl von Verbesserungen und um ein Volumen von 2,4 Milliarden Euro.
Wir haben vor, die Leistungsbeträge um 4 Prozent anzuheben. Dabei geht es um den Inflationsausgleich.
(Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist ja wohl auch eine Selbstverständlichkeit!)
‑ Da können Sie ruhig schreien. ‑ Aber allein das ist ganz wichtig für die Betroffenen, für die Pflegebedürftigen. Mit dem von Ihnen viel gescholtenen Vorsorgefonds setzen wir ein Zeichen,
(Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist aber ein teures Zeichen, und nutzlos!)
dass wir das System zukunftsfähig machen wollen. Auch das sollten Sie aus meiner Sicht würdigen.
Die Leistungen im Bereich der häuslichen Pflege werden deutlich verbessert und flexibilisiert; denn wir wollen jedem älteren Menschen ein selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung ermöglichen, solange das irgendwie geht. Das ist ein gerechtfertigter und der wichtigste Anspruch älter werdender pflegebedürftiger Menschen.
(Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja! Aber was tun Sie dafür?)
Dafür wollen wir das Zusammenwirken von Fachkräften, Angehörigen und Ehrenamtlichen intensivieren. Die Bereiche ambulante Pflege, innovative Wohn- und Pflegeformen sowie stationäre Einrichtungen sollen Hand in Hand arbeiten. Den pflegenden Angehörigen helfen wir insbesondere durch die vorgesehenen Verbesserungen im Bereich der Kurzzeit- und Verhinderungspflege sowie der Tages- und Nachtpflege. Damit greifen wir die Wünsche der vielen pflegenden Angehörigen auf, entlastende und unterstützende Pflegeleistungen flexibler in Anspruch nehmen zu können.
Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich für eine weitere Flexibilisierung werben, insbesondere im Hinblick auf die sechsmonatige Wartezeit im Bereich der Verhinderungspflege. Hier geht es darum, mehr Menschen zu motivieren bzw. ihnen die Möglichkeit zu geben, in einem plötzlich und überraschend auftretenden Fall der Pflegebedürftigkeit häusliche Pflege zu praktizieren. Über diesen Punkt sollten wir im Laufe des Verfahrens noch einmal diskutieren.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Herr Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann?
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
Ja, gern.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Frau Kollegin Zimmermann.
Pia Zimmermann (DIE LINKE):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Vielen Dank, Herr Nüßlein, dass Sie meine Frage zulassen.
Sie haben gerade gesagt, dass Sie gerne möchten, dass Menschen möglichst lange in ihren eigenen vier Wänden gepflegt werden können. Sie haben die Verhinderungspflege und weitere Möglichkeiten angesprochen. Das alles ist ja nur für einen bestimmten Zeitraum gedacht. Eine Person, die pflegebedürftig ist, muss aber meistens mehrere Jahre gepflegt werden. Dieser Zustand setzt ein, ändert sich meistens aber nicht mehr. Das sind die Fälle, von denen ich ausgehe.
Wie können wir mit Blick auf die zu pflegenden Personen, aber auch mit Blick auf die Pflegenden eine Regelung treffen, die verhindert, was meistens der Fall ist: dass die Frauen ihren Beruf aufgeben oder in Teilzeit gehen müssen und dann, wenn sie nach der Arbeit, meinetwegen nach einem vierstündigen Arbeitstag, nach Hause kommen, bei besonders schweren Pflegefällen noch 20 Stunden am Tag im Stand-by-Modus sind, weil sie bestimmte Pflegeleistungen erbringen müssen? Wie wollen Sie es regeln, dass die Pflege nicht auf den sogenannten größten Pflegedienst, den wir haben, nämlich auf die Familie und das soziale Umfeld, zurückfällt? Wie können wir das so regeln, dass die Pflege professionell durchgeführt wird und es auch zu einer Entlastung der Angehörigen und der pflegenden Personen kommt?
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
Zunächst einmal will ich in meiner Antwort auf Ihre Frage ganz ausdrücklich betonen, dass man die Pflege in der Familie nicht durch professionelle Pflege ersetzen sollte. Die Pflege in der Familie müssen wir wertschätzen; wir können sie gar nicht hoch genug bewerten. In der Tat müssen wir auch mit Blick auf das Arbeitsrecht die notwendigen Voraussetzungen schaffen, damit hier Spielräume entstehen. Aber man kann natürlich nicht sagen: Auf der einen Seite wollen wir, dass in der Familie gepflegt wird. Auf der anderen Seite stehen wir dem aber kritisch gegenüber, weil die Pflege in der Familie nicht so professionell, wie wir es uns wünschen, durchgeführt werden kann; das kam ja in Ihrer Frage zum Ausdruck.
(Kathrin Vogler (DIE LINKE): Nein! Das hat sie ja gar nicht gesagt!)
Im Gegenteil, das, was die ambulanten Dienste an dieser Stelle leisten, und das, was in der Familie leistbar ist, sollte miteinander verknüpft werden. Ich sehe eine Chance darin, dies fortzuführen. Ich will das überhaupt nicht, wie Sie es gerade zwischen den Zeilen angedeutet haben, infrage stellen. Ganz im Gegenteil, ich glaube, dass es uns durch das, was wir vorhaben, gelingen wird, den ambulanten Bereich zu stärken und dafür Sorge zu tragen, dass Pflege möglichst lange im familiären Umfeld praktiziert werden kann. Aber das geht eben nur unter bestimmten Bedingungen.
Für Personen, die so pflegebedürftig sind, dass die Pflege nicht mehr zu Hause zu leisten ist, gibt es stationäre Einrichtungen, die wir an dieser Stelle ebenfalls stärken, und zwar dadurch, dass wir mehr Personal zur Verfügung stellen; der Personalschlüssel ändert sich ja. Deshalb kann ich nicht erkennen, warum man das infrage stellen sollte. Ganz im Gegenteil, wir tun das Richtige, meine Damen und Herren.
(Pia Zimmermann (DIE LINKE): Ich habe das nicht infrage gestellt!)
- Sie haben das infrage gestellt,
(Pia Zimmermann (DIE LINKE): Nein! ‑ Mechthild Rawert (SPD): Das hat sie gar nicht gemacht!)
jedenfalls zwischen den Zeilen;
(Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Sie sollen nicht zwischen den Zeilen lesen, sondern die Frage beantworten!)
so habe jedenfalls ich Sie verstanden. Sonst müssen Sie sich klarer ausdrücken. Ich hatte den Eindruck, dass Sie das infrage gestellt haben.
(Pia Zimmermann (DIE LINKE): Ich habe eine andere Frage gestellt!)
Ich werbe ernsthaft dafür, dass wir an dieser Stelle weiterarbeiten und uns Gedanken darüber machen, was wir noch tun können. Diejenigen, die ihre Wohnung altersgerecht umbauen, werden wir mit Zuschüssen von bis zu 4 000 Euro unterstützen; das ist fast eine Verdopplung der bisherigen Obergrenze. Auch das ist ein Ansatz, um häusliche Pflege zu erleichtern. Außerdem sorgen wir für eine weitere Angleichung der Leistungen bei körperlich und bei demenziell bedingter Pflegebedürftigkeit. Pflegebedürftige, die körperlich in stärkerem Maße eingeschränkt sind, zum Beispiel nach einem Schlaganfall ‑ Sie haben zu Recht gesagt, das sei nicht immer eine Frage des Alters ‑, können jetzt zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen in Anspruch nehmen. Damit räumen wir den Pflegebedürftigen mehr Wahlmöglichkeiten ein. Das ist ja etwas, was Sie einfordern. Insofern sind wir da auf dem richtigen Weg. Ich hätte gewünscht, dass Sie das mehr würdigen.
Wer seinen Anspruch auf ambulante Pflegesachleistungen nicht voll ausschöpft, der kann den nicht genutzten Betrag künftig für niedrigschwellige Angebote, etwa in der Betreuung, verwenden. Auch das ist ein Beispiel für mehr Wahlmöglichkeiten.
Ich will noch einmal deutlich machen ‑ ich habe das schon in meiner Antwort auf Ihre Frage gesagt ‑, dass die Kritik mancher Pflegeverbände an dieser Neuregelung nicht gerechtfertigt ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir bei der Betreuung und Entlastung von Pflegebedürftigen mehr ehrenamtlich tätige Menschen brauchen und zum bürgerschaftlichen Engagement bereite Personen fördern müssen. Wenn wir den Anspruch haben: „ambulant vor stationär“, dann können wir dies nur mit Ehrenamtlern umsetzen. Wir wollen die Anforderungen an die Qualität nicht reduzieren oder infrage stellen. Ganz im Gegenteil: Wir werden die Anforderungen an die Qualität aufrechterhalten, aber zusätzlich die Bedeutung des Ehrenamts in diesem Zusammenhang ganz deutlich herausstellen.
Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz in der sogenannten Pflegestufe 0 erhalten künftig Zugang zu Leistungen der Tages- und Nachtpflege sowie der Kurzzeitpflege. Dies ist bereits ein wichtiger Schritt zur Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und betrifft auch die Frage, wie man die häusliche Pflege befördert.
In der stationären Pflege ‑ auch das habe ich angedeutet ‑ wird das Betreuungs- und Aktivierungsangebot schon vor Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs erweitert und auf alle Pflegebedürftigen ausgedehnt. Das Betreuungsverhältnis wird auf eine Betreuungskraft zusätzlich für 20 Pflegebedürftige verbessert, was den Einsatz von weiteren 20 000 Betreuungskräften möglich macht. Allerdings muss der Arbeitsmarkt diese Kräfte auch hergeben. Wir werden uns also auch Gedanken darüber machen müssen, wie man im Rahmen von Arbeitsmarktmaßnahmen und durch Ausbildung die Voraussetzungen dafür schafft, dass das gelingt.
Wer die von uns vorgesehenen Maßnahmen schlecht- oder kleinredet, Frau Scharfenberg, verunsichert die Menschen und schadet der Akzeptanz der Pflegeversicherung.
(Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe die Punkte genannt!)
Insofern tut mir persönlich die Pauschalkritik weh. Wenn Sie ein Detail kritisieren, dann ist das kein Thema; aber eine solche Pauschalität tut mir weh, weil Sie die Menschen hinsichtlich dessen verunsichern, was wir im Rahmen der Pflegeversicherung tatsächlich für die Pflegebedürftigen leisten.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD ‑ Pia Zimmermann (DIE LINKE): Aber es bleibt eine Teilkaskoversicherung!)
‑ Sie haben recht: Es bleibt eine Teilkaskoversicherung. Das ist eine Frage, die man unter der Überschrift der Finanzierbarkeit, der Machbarkeit diskutieren muss. Es muss eine Teilkaskoversicherung bleiben, weil es nämlich darum geht, das Pflegerisiko abzusichern.
(Pia Zimmermann (DIE LINKE): Aber damit machen Sie die Pflege vom Geldbeutel abhängig!)
Wir dürfen die Versicherung doch nicht so gestalten ‑ das müsste Ihnen als Argument gefallen ‑, dass wir die Erbschaft für die nächste Generation absichern. Darum kann es doch nicht gehen. Wenn man eine Vollkaskoversicherung einführt, also eine Versicherung, ohne dass Eigenanteile zu leisten sind, dann sichert man im Grunde bei weiten Teilen der Bevölkerung die Erbschaft der nächsten Generation, sonst nichts.
Ich will deutlich unterstreichen: Wir machen jetzt einen ersten wichtigen Schritt und werden einen weiteren Schritt folgen lassen, der wohlüberlegt ist und mit dem wir den Pflegebegriff anpassen. Wir werden dafür Sorge tragen, dass aus beiden Schritten eine runde Sache wird. Ich bin gespannt, aber nicht gerade erwartungsvoll, ob Sie das am Schluss entsprechend würdigen und uns dafür loben werden. Ich glaube es nicht wirklich; aber wünschen und hoffen darf man ja kurz vor Beginn der Sommerpause.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank. ‑ Für die Fraktion Die Linke hat jetzt Kathrin Vogler das Wort.
(Beifall bei der LINKEN)
Kathrin Vogler (DIE LINKE):
Vielen Dank. ‑ Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Nüßlein, wenn man Sie hat sagen hören, welcher Reformbedarf hier auf einmal besteht, dann fragt man sich, wer eigentlich in den letzten Jahren in Deutschland regiert hat.
(Jens Spahn (CDU/CSU): Sie Gott sei Dank nicht!)
Das kann ja nicht die Union gewesen sein.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir wissen doch alle, und nicht erst seit gestern, dass grundlegende Verbesserungen in der Pflege dringend notwendig sind. Wenn ich mit Pflegenden spreche ‑ ganz egal, ob es sich um Angehörige oder Beschäftigte in der ambulanten oder stationären Pflege handelt ‑, dann höre ich immer nur: Stress, Zeitdruck, übermäßige Arbeitsbelastung. Wenn man mit Menschen mit Pflegebedarf spricht und sie fragt, was sie sich wünschen, dann hört man nur eines, nämlich mehr Zeit.
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Kollege Nüßlein hat gerade sehr eindrucksvoll dokumentiert, dass auch diese Bundesregierung leider keine Antwort auf diese große Herausforderung hat.
Wir alle haben eine Vorstellung davon, wie wir im Alter leben wollen. Dazu gehören größtmögliche Selbstständigkeit und Teilhabe. Die Realität sieht für viele aber leider ganz anders aus. Auch die Berichte über Zwangsmaßnahmen in der Pflege müssen uns, glaube ich, Sorgen machen. Aus Personalmangel, aus Zeitmangel und aus Unwissenheit werden Menschen gegen ihren Willen angebunden oder hinter Bettgitter gesteckt. Diese Menschenrechtsverletzungen ‑ das will ich noch einmal ganz klar sagen ‑ geschehen nicht aus Bosheit, sondern sind Ausdruck einer strukturellen Unterversorgung.
(Maria Michalk (CDU/CSU): Trotzdem nicht zulässig!)
Diese Unterversorgung müssen wir beenden; denn gute Pflege ist ein Menschenrecht.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich höre mit Freude, dass Sie zumindest zaghafte Schritte der Verbesserung ankündigen. Ich sage aber ganz klar: Mit Ankündigungen alleine wird sich die Linke nicht abfinden. Wir werden weiter darauf achten, dass für die Menschen tatsächlich etwas passiert.
(Beifall bei der LINKEN ‑ Mechthild Rawert (SPD): Das passiert auch!)
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, über den wir in Expertenkommissionen und hier im Hause über drei Wahlperioden diskutiert haben, bringt nur dann etwas für die Menschen mit Pflegebedarf, wenn Teilhabe und Selbstbestimmung im Mittelpunkt stehen. Hier sehe ich mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf leider noch keinen echten Fortschritt. Das ist eine vertane Chance.
(Beifall bei der LINKEN)
Uns allen ist doch klar, dass wir für die Umsetzung einer solchen grundlegenden Pflegereform viel Geld benötigen. Die jetzige Erhöhung der Pflegeversicherungsbeiträge hat aber rein gar nichts mit Nachhaltigkeit zu tun.
Nach unserem Zeitplan werden wir heute Nachmittag um 13.20 Uhr das Lebensversicherungsreformgesetz beraten. Die Menschen werden die Erfahrung machen, dass das, was sie im Rahmen ihrer Lebensversicherungen fürs Alter angespart haben, vor dem Hintergrund der Niedrigzinssituation und der Finanzkrise eben nicht mehr sicher ist.
(Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist ja Quatsch! Das ist absoluter Quatsch, was Sie hier erzählen! ‑ Maria Michalk (CDU/CSU): Das ist doch auch wieder Quatsch! ‑ Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Sie sollten so etwas nicht sagen, wenn Sie davon nichts verstehen!)
Sie wollen dieses Modell der Lebensversicherung, bei dem eine Rücklage für spätere Zeiten gebildet wird, mit dem Vorsorgefonds auch auf den Bereich der sozialen Pflegeversicherung übertragen.
(Dr. Karl Lauterbach (SPD): Das ist doch Unsinn!)
Da die SPD jetzt offensichtlich erkannt hat, dass das hoch problematisch ist, und das strittig stellt, kann ich Ihnen nur sagen: Bitte bleiben Sie hier hart! Sorgen Sie dafür, dass das Struck‘sche Gesetz, dass eben nichts so aus diesem Parlament herausgeht, wie es hineingekommen ist, gerade bei diesem Vorsorgefonds eingehalten wird
(Beifall bei der LINKEN ‑ Volker Kauder (CDU/CSU): Sie gehen so heraus, wie Sie hineingegangen sind!)
und dass die 1,2 Milliarden Euro jährlich, die die Union für spätere Zeiten bei Banken und in Aktienfonds parken möchte, jetzt unmittelbar für Verbesserungen für die Pflegebedürftigen und deren Angehörigen verwendet werden!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen unbedingt einen konkreten Zeitplan für die Umsetzung des neuen Pflegebegriffs haben. Es muss auch sichergestellt werden, dass kein pflegebedürftiger Mensch später schlechter gestellt ist als heute.
(Beifall bei der LINKEN ‑ Mechthild Rawert (SPD): Bestandsschutz!)
In der Perspektive brauchen wir aber Leistungen, die sich wirklich am individuellen Bedarf orientieren. Dafür werden wir uns als Linke weiter einsetzen. Wir werden Sie auch unterstützen, wenn wir Schritte in diese Richtung erkennen können.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank. ‑ Nächster Redner ist Dr. Karl Lauterbach, SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss meine Rede umstellen. Als so später Redner in dieser Debatte dachte ich, dass über die Reform schon alles gesagt worden wäre. Bisher hat man aber nicht viel dazu gehört. Das alles war sehr unspezifisch,
(Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Minister hat doch geredet, oder?)
und nicht alles, was man gehört hat, war richtig.
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da wollen wir einmal wissen, was Sie zu bieten haben!)
Worum geht es bei dieser Reform eigentlich? Die Grünen haben vorgetragen, die Reform sei teuer. Es ist richtig: Die Reform ist teuer. Darauf sind wir stolz. Wir sind stolz darauf, dass die Reform teuer ist, denn sie muss teuer sein. 6 Milliarden Euro, paritätisch finanziert. Die Leistungen der Pflegeversicherung werden in zwei Schritten um 20 Prozent erhöht. Das ist die größte Steigerung im Rahmen einer Sozialreform in den letzten Jahrzehnten. Wir sind stolz darauf, die größte Reform der Pflegeversicherung seit ihrem Bestehen vorlegen zu können. Wir stehen dazu: Die Reform ist teuer. Aber genau das brauchen wir auch.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU - Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das hat keiner infrage gestellt!))
Ich will auch ehrlich sagen: Diese Reform ist nicht perfekt; das ist gar keine Frage. Ich möchte aber trotzdem sagen: Das, was wir als Reform zum jetzigen Zeitpunkt vorlegen, ist das Ergebnis dessen, was wir im Koalitionsvertrag über viele Wochen verhandelt haben. Ich möchte Minister Gröhe ausdrücklich dafür danken, dass er sich aus meiner Sicht sehr eng an den Vertrag gehalten hat, der in dieser Sache zielführend ist und den wir mit gutem Willen und im Konsens vereinbart haben. Daher gilt: Wir werden diese Reform verbessern können; das ist gar keine Frage. Jeder Parlamentarier weiß: Wir wollen nicht verändern, sondern wir werden verbessern. Aber der Raum für Verbesserungen ist hier nicht groß; denn der eingebrachte Gesetzentwurf ist sehr gut. Dafür sind wir dankbar.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Ehrlich gesagt habe ich nicht viel an Gegenvorschlägen gehört.
(Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das stimmt nicht!)
Was haben wir an Vorschlägen - ich vermeide es, polemisch zu sein - von den Grünen gehört? Die Pflege muss für alle begreifbar sein. Die Pflege muss menschenwürdig sein. Wir müssen so gepflegt werden, wie wir gepflegt werden wollen. - Das wollen wir alle. Aber was haben wir heute an konkreten Gegenvorschlägen gehört? Wer erinnert sich an konkrete Gegenvorschläge?
(Sabine Dittmar (SPD): Keine!)
Keine konkreten Gegenvorschläge!
(Kathrin Vogler (DIE LINKE): Wahlprogramm!)
Wir sind bereit, jederzeit mit Ihnen konkrete Gegenvorschläge zu diskutieren. Sie müssen aber auch vorgetragen werden. Wir wollen die Reform im Geist einer gemeinsamen Arbeit umsetzen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU - Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zuhören nützt manchmal!)
Ich will auf die Reform selbst zu sprechen kommen. Ich komme zunächst einmal zur Dynamisierung der Leistungen. Hier wurde gesagt, die Dynamisierung der Leistungen müsse ein Automatismus sein und müsse nicht jedes Mal verhandelt werden; das hat Frau Zimmermann vorgetragen. - Die Pflegeversicherung ist keine Vollkaskoversicherung. Die von Ihnen vorgeschlagene Dynamisierung würde nur Sinn machen, wenn es eine Vollkaskoversicherung wäre.
(Kathrin Vogler (DIE LINKE): Da ist doch Quatsch!)
Bei einer Teilkaskoversicherung muss jedes Mal neu verhandelt werden. Dann muss es einen Kompromiss zwischen der Dynamisierung der Leistungen auf der einen Seite und der Einführung neuer Leistungen auf der anderen Seite geben. Wir dynamisieren zwar nur um 4 Prozent, aber das macht fast 1 Milliarde Euro aus. Zusätzlich führen wir zahlreiche neue Leistungen ein. Somit verbessern wir die Pflege durch die Dynamisierung und durch die Einführung neuer Leistungen.
(Beifall der Abg. Sabine Dittmar (SPD))
Diese Freiheit muss das Parlament haben. Das ist bei einer Teilkaskoversicherung der einzige Weg, auf sich verändernde Verhältnisse rasch zu reagieren.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Hier wurde auch von den Betreuungskräften gesprochen. Frau Zimmermann, Sie haben gesagt - dafür gab es aus Ihren eigenen Reihen wenig Beifall -, die Linkspartei sei die Partei der Pflegegerechtigkeit.
(Pia Zimmermann (DIE LINKE): Ja!)
Ist Ihnen aufgefallen, dass in Ihrer ganzen Rede die Angehörigen, die den größten Teil der Pflegeleistungen erbringen, nicht ein einziges Mal erwähnt worden sind?
(Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Das ist überhaupt nicht wahr!)
Sie haben sich ausschließlich auf die Pflegekräfte in den Pflegeeinrichtungen und Pflegediensten konzentriert. Die Betreuer wurden dadurch von Ihnen abqualifiziert. Sie haben doch versucht, die Betreuer gegen die ausgebildeten Pflegekräfte auszuspielen.
(Pia Zimmermann (DIE LINKE): Herr Lauterbach, wo sind Sie denn gewesen?)
Das ist unfair. Auch die Betreuer, egal ob Ehrenamtliche oder Familienangehörige, leisten eine wichtige Arbeit. Wir dürfen in der Pflege die einzelnen Gruppen nicht gegeneinander ausspielen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Ich sage Ihnen ganz offen: Ein gutes Wort und die Zeit, den zu pflegenden Menschen einmal zuzuhören, ohne dass dabei gepflegt wird,
(Pia Zimmermann (DIE LINKE): Genau, zuhören! Das ist das Stichwort!)
hilft diesen Menschen oft mehr als das Waschen, Rasieren und Saubermachen. Die menschliche Komponente wird vom Betreuer genauso geleistet wie von der ausgebildeten Pflegekraft.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU - Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Sie können überhaupt nicht zuhören!)
- Wenn Sie eine Zwischenfrage haben, können Sie diese jederzeit stellen. Aber das Zwischenrufen nervt. - Es kam überhaupt nicht zur Sprache, dass wir zahlreiche Maßnahmen unternommen haben, die Pflege unbürokratischer zu machen. Wir haben dafür gesorgt, dass jemand, der zu Hause einen anderen Menschen pflegt, aber kurzfristig verhindert ist, im Rahmen der Verhinderungspflege und der Kurzzeitpflege eine professionelle Pflegekraft organisieren oder den zu pflegenden Menschen in eine Pflegeeinrichtung bringen kann. Die Tatsache, dass man ständig im Druck ist, wenn man für die Eltern die Pflege übernimmt oder organisiert hat, dass man dann, wenn etwas dazwischenkommt, gar nicht weiß, wie es weitergeht, das ist einer der Hauptstressfaktoren in der Pflege überhaupt. Viele Menschen sind in Pflegeeinrichtungen, weil die Leute den Stress nicht bewältigt bekommen, die Pflege auch dann ständig vorhalten zu müssen, wenn es gerade nicht geht. Dem begegnen wir mit der deutlichen Flexibilisierung und Stärkung der Verhinderungs- und der Kurzzeitpflege. Das ist eine wesentliche Entbürokratisierung.
(Beifall der Abg. Mechthild Rawert (SPD))
Das ist das, was die Menschen, die Angehörigen und die zu Pflegenden, wünschen. Darauf sind wir eingegangen. Das wurde hier mit keinem Wort gewürdigt.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Das gilt genauso für die sogenannten Entlastungsleistungen. Wir machen es jetzt zum Beispiel möglich, dass man die Betreuungsleistung umwidmen kann, indem man einfach für jemanden einkaufen geht. Wenn Sie sich die Reform konkret vorstellen ‑ es sind hier ja oft nur Schlagworte, die vorgetragen werden ‑, dann betrifft das jemanden, der einkaufen geht und für jemanden sorgt. Hier kann die Leistung abgerechnet werden, auch wenn es keine Betreuung ist. Wenn jemand Papierkram erledigt, zu einem Amt geht und so, dann kann das demnächst abgerechnet werden. Das ist von uns auch ein Vertrauensbeweis gegenüber den Angehörigen. Denn wir gehen nicht davon aus, dass das ausgenutzt wird. Wir vertrauen den Angehörigen und den Pflegenden, dass sie in dieser Zeit tatsächlich auch etwas für den zu Pflegenden machen. Da sagen wir, ihr müsst nicht nachweisen, dass das immer nur Betreuungsleistungen sind, sondern diese sogenannten Ergänzungsleistungen, Entlastungsleistungen sind alles Maßnahmen, die im Konkreten den Stress in der Familie und bei den zu Pflegenden wegnehmen. Das halte ich für richtig. Das sind unbürokratische und gute Wege.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Der Begriff der Pflegebedürftigkeit wurde schon erwähnt. Da wird immer kritisiert, er kommt nicht schnell genug usw., usf. Machen wir uns doch nichts vor: Es sind 2,5 Millionen Menschen, auf die der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff langfristig angewendet wird. Wir wollen sicherstellen, dass niemand weniger bekommt, als ihm zusteht. Niemand soll schlechtergestellt werden. Das muss in der Praxis funktionieren. Dieses Projekt hau ruck einzuführen, wäre doch völlig unverantwortlich gewesen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Machen wir uns doch nichts vor: Das ist die größte Veränderung in der Art und Weise, wie wir eine Sozialleistung bezahlen. Wir wollen ja, dass die Dinge unbürokratischer und besser werden. Es wäre rücksichtsloser, unverantwortlicher Populismus gewesen, wenn wir, ohne das in den Regionen auszutesten, dem „Druck der Straße“ nachgegeben und im Hauruckverfahren einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt hätten.
(Kathrin Vogler (DIE LINKE): Die Straße ist der Druck?)
- Obwohl Sie hierzu nicht einen einzigen konkreten Vorschlag zur Pflegereform vortragen können, erwarten Sie von uns, für die gesamte Bevölkerung ein kompliziertes System einzuführen, ohne dass wir es ausgetestet haben. Diese Verantwortungslosigkeit haben wir nicht. Wir stehen dazu. Wir führen das zu dem Zeitpunkt ein, an dem es angemessen ist, und zwar so schnell wie möglich. Dieses Vertrauen haben wir verdient.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU - Pia Zimmermann (DIE LINKE): Machen Sie einmal ein paar Schritte, statt stehen zu bleiben!)
Ich komme auch noch zu dem Pflegevorsorgefonds. Ich sage dazu schlicht und ergreifend meine persönliche Meinung. Wir werden das diskutieren. Das ist ganz klar. Das geht in diese Runden hinein, in denen wir alles verbessern wollen. Aber ich sage einmal das, was ich persönlich denke. Ich persönlich finde den Vorschlag nicht falsch. Denn wir müssen Folgendes bedenken: Wir werden in 30 Jahren folgende Situation haben: Die Menschen werden durch sinkende Renten von Altersarmut bedrängt werden, die Familien werden zum Teil zerbröckelt sein, höhere Scheidungsquoten, weniger Kinder.
(Kathrin Vogler (DIE LINKE): Wer ist denn an den sinkenden Renten schuld?)
- Hören Sie doch einfach zu! - Die Differenz zwischen dem, was eine Familie dann finanziell und menschlich einbringen kann, und dem, was dann gefordert wird, wird für die Babyboomer-Generation größer sein als für jede andere Generation davor.
Daher halte ich es persönlich nicht für falsch, dass wir einen Teil dieses Geldes ‑ es sind ja nur 20 Prozent der Ausgaben, die wir jetzt beschließen ‑ zurücklegen und dann verbrauchen, wenn es die Leute benötigen. Das gibt auch eine gewisse Sicherheit. Insoweit bin ich für jeden zusätzlichen Vorschlag dankbar. Aber wir stehen auch in diesem Punkt zum Koalitionsvertrag. Wir werden das diskutieren, aber wir stehen zum gesamten Paket. Ich glaube, dass wir insgesamt ein Paket vortragen werden, das die Pflege entbürokratisiert, das die Pflege ein Stück weit nachhaltiger macht und das die Pflege menschlicher macht. Davon bin ich überzeugt.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank. ‑ Nächste Rednerin ist Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen.
Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Liebe Präsidentin! Liebe Kollegen! Ich glaube, hier im Haus fehlt es nie an wertschätzenden Worten für die Pflege.
(Beifall bei der LINKEN)
Aber an entscheidenden wertschätzenden Taten herrscht seit Jahrzehnten in diesem Haus ein großer Mangel; das müssen wir feststellen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
In der heutigen Diskussion geht es zum größten Teil um die massiven Versäumnisse in den letzten acht Jahren. Deshalb müssen wir davon sprechen, dass die Pflege am Boden liegt und dass die Pflegekräfte und die Familienangehörigen nicht mehr können.
(Dr. Karl Lauterbach (SPD): Wo denn?)
Das ist eigentlich die Grundsituation, über die wir nun reden und die Sie überall vor Ort erleben.
Dann haben Sie sich als Union in der letzten Legislaturperiode in einem lang andauernden Streit mit der FDP erlaubt, die Probleme im Pflegebereich auszusitzen. Sie haben nichts Materielles auf den Weg gebracht. Sie haben nur kleinste Korrekturen vorgenommen und beispielsweise Stellen für Entlastungskräfte geschaffen. Das ist tatsächlich nicht die Lösung des Problems. Deshalb reden wir hier so kontrovers über den Pflegebereich.
Karl Lauterbach, es ist sicherlich schön, staatstragend zu reden. Wenn man in einer Großen Koalition ist, ist das vielleicht auch notwendig. Aber ich muss wirklich sagen: Die gleiche Rede, die Frau Scharfenberg eben gehalten hat, hätten Sie vor einem Jahr genauso gehalten. Das halten wir fest.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN ‑ Jens Spahn (CDU/CSU): Niemals! - Dr. Karl Lauterbach (SPD): Das war noch vor der Reform!)
Kommen wir zum nächsten Punkt. Nachdem Sie sich endlich durchgerungen haben, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, eine Erhöhung des Beitragssatzes in der Pflegeversicherung um insgesamt 0,5 Prozentpunkte und eine Ausweitung des Leistungskatalogs zu beschließen, erlauben Sie sich, davon etwas für ein teures Symbolprojekt abzuzwacken ‑ es ist ein Drittel der Mehreinnahmen aus der Erhöhung um 0,3 Beitragssatzpunkte ab 1. Januar 2015 ‑, das kein einziges Problem lösen wird,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
weder bei den Angehörigen noch bei den Pflegekräften und auch nicht bei uns, den Finanziers und Beitragszahlern. Was nutzt es mir, wenn ich 2035 einen um 0,14 Prozent geringeren Beitrag zur Kranken- und Pflegeversicherung zahle? Das ist Irrsinn, was Sie hier machen. Sie parken das Geld quasi weg, das wir dringend für Entlastungen im Pflegebereich brauchen. Das ist der entscheidende Punkt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Nun kommen wir zum nächsten Punkt. Sie heben sehr stark auf die Entlastung der Angehörigen ab. Es ist sicherlich richtig, die verschiedenen Instrumente, die wir heute haben, für die Entlastung zu flexibilisieren. Es wäre überhaupt nicht nachvollziehbar, das nicht zu tun.
(Beifall des Abg. Dr. Karl Lauterbach (SPD))
Darauf kann man sich aber nicht ausruhen. Wer sind denn diese zusätzlichen Betreuungs- und Assistenzkräfte? Ich kenne ‑ wahrscheinlich genauso wie Jens Spahn ‑ sehr viele solcher Kräfte bei uns im westlichen Münsterland. Es handelt sich in der Regel um erfahrene Hausfrauen, die nach der Familienphase und mit einer Bezahlung in Höhe von 400 Euro in den entsprechenden Einrichtungen arbeiten. Das ist aber kein Zukunftskonzept. Wir brauchen auf Dauer andere Wege, wenn wir diesen wichtigen Teil abdecken wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Denn bei diesem Konzept wird darauf gesetzt, dass diese Frauen beispielsweise nicht in die Rentenversicherung einzahlen und nicht in einem regulären Vollzeitarbeitsverhältnis stehen. Es handelt sich also um prekäre Bedingungen, auf die wir nicht grundsätzlich setzen können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Frau Mattheis pocht nicht umsonst darauf, das Geld, das Sie nun im Vorsorgefonds parken wollen, beispielsweise für die Verbesserung der Ausbildung der Pflegekräfte auszugeben. Wenn ich heutzutage ein Pflegeseminar besuche, dann sagen mir die Teilnehmer: Ich lerne hier etwas, was ich eigentlich gerne tun würde. Aber ich weiß schon heute, dass ich unter den hier herrschenden Arbeitsbedingungen niemals länger als zehn Jahre arbeiten werde. ‑ Das ist unwürdig für unsere Gesellschaft. Das dürfen wir nicht erst am Ende der Legislaturperiode ändern, sondern das müssen wir schnell angehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Aber wahrscheinlich werden wir erleben, dass die Erweiterung und die Neufassung des Pflegebegriffs, der endlich für mehr Zeit in der Pflege sorgen könnte, erst 2017, also am Ende der Legislaturperiode, kommen werden. So sieht die Situation aus. Dann müssen wir uns auch ehrlich damit befassen und dürfen nicht nur drum herumreden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank. ‑ Nächster Redner ist Jens Spahn, CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Jens Spahn (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema der Pflege und die Frage, welche Herausforderungen Pflege für jeden Einzelnen bedeutet, sind mittlerweile in jeder Familie angekommen. Jeder hat als Partner, als Kind, als Enkelkind erlebt, was es physisch und psychisch für eine Familie bedeutet, wenn jemand pflegebedürftig wird. Was heißt es eigentlich, pflegebedürftig zu sein?
Am Ende heißt es, die Dinge des Alltags ‑ waschen, aufstehen, essen ‑ nicht mehr alleine tun zu können. Das ist, glaube ich, eine Erkenntnis, die für jemanden, der dies nach 75, 80 oder 85 Jahren im Safte nicht mehr kann, ganz schwierig ist; sie ist nicht nur für den Betroffenen selbst schwierig, sondern auch für die Angehörigen. In dieser Situation Unterstützung zu leisten, ist das, was Pflegeversicherung am Ende tun soll. Wir können den Schicksalsschlag der Pflegebedürftigkeit nicht irgendwie ungeschehen machen, aber wir können so gut es geht Unterstützung für die Familien, für den Pflegedienst der Nation, leisten. Das Pflegestärkungsgesetz, das wir heute beraten, leistet einen ganz wichtigen Beitrag dazu, Familien und Pflegebedürftige in ihrer Situation zu unterstützen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Kollege Lauterbach hat recht: Da helfen nicht die grundsätzlichen wolkigen Worte, sondern es braucht ganz konkrete Verbesserungen für die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen und die Pflegekräfte.
Wenn man einmal schaut, Frau Kollegin Scharfenberg, was wir denn konkret tun, dann wird man eine ganze Menge sehen. Das eine ist der ambulante Bereich. Ich habe gerade gesagt: Die Familien sind der Pflegedienst der Nation. Für die werden wir ganz konkrete Verbesserungen haben. Wir werden mehr Betreuungsleistung haben. Sie sagen, das sei nichts, aber ich glaube, dass es für viele wichtig ist, drei, vier oder fünf Stunden Entlastung zu haben, zu wissen, dass man von zu Hause weg kann und sich einmal mit Freundinnen treffen kann, dass man einkaufen gehen kann oder einfach den Kopf von der 24-Stunden-Pflege freibekommen kann, weil man weiß, dass jemand da ist und sich zu Hause um den Pflegebedürftigen kümmert. Das ist für die, die konkret betroffen sind, eine große Hilfe. Es ist kleinkariert, wie Sie, Frau Scharfenberg, das hier gerade kritisiert haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Es ist auch eine konkrete Hilfe, dass zum 1. Januar 2015 mehr Geld für die Familien zur Verfügung steht, weil wir die Sätze um 4 Prozent erhöhen, und es zusätzliche Flexibilität gibt ‑ Stichwort Verhinderungs-, Kurzzeitpflege ‑, also das, was man braucht, um einmal eine Auszeit für zwei oder drei Wochen nehmen zu können, was ganz wichtig ist. Wir erhöhen die Mittel – Geld, das direkt bei den Betroffenen ankommt –, wir erhöhen die Flexibilität. Das hilft den Menschen konkret. Ich finde, das kann man auch einmal in einer solchen Debatte anerkennen. Man muss nicht alles schlechtreden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Das Gleiche gilt für die stationären Einrichtungen. Die Betreuungskräfte leisten nicht die klassische Pflege, und das sollen sie auch nicht, sondern sie sind da zur zusätzlichen Unterstützung, um Gespräche zu führen oder um mit den Pflegebedürftigen spazieren zu gehen. Sie entlasten damit die Pflegekräfte und machen insgesamt möglich, dass mehr Zeit für den Einzelnen da ist. Das ist es, was übrigens aus allen Pflegeeinrichtungen berichtet wird.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wenn Sie einmal vor Ort sind, dann werden Sie hören, dass alle sagen: Es war eine der besten Maßnahmen der letzten Jahre, dass es diese Betreuungskräfte gibt. ‑ Wir wollen die Zahl der Betreuungskräfte mehr als verdoppeln. Das sind ganz konkrete Verbesserungen. Man könnte einmal anerkennen, Frau Kollegin Scharfenberg, wie wir den Menschen helfen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Seit zehn Jahren und länger wird über Bürokratieabbau geredet. Wir haben jetzt endlich beschlossen, dass nicht mehr alles aufgeschrieben wird, was den ganzen Tag in der Pflege geleistet wird, sondern, um es einfach zu formulieren, es wird nur noch dokumentiert, was ungewöhnlich oder anders als sonst ist. Nach allem, was wir wissen, reduziert das die Bürokratie um mehr als ein Drittel. Selbst wenn es nur die Hälfte davon ist, wäre das eine deutliche Verbesserung. Zum ersten Mal gibt es einen konkreten Vorschlag, wie der Alltag der Pflegekräfte verbessert werden kann. Diesen Vorschlag müssen wir jeder einzelnen Pflegeeinrichtung unterbreiten, damit die Verbesserungen konkret spürbar werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Es ist einfach kleinkariert, was Sie gerade abgeliefert haben. Sie haben nicht eine der konkreten Verbesserungen, die den Menschen und den Pflegebedürftigen helfen, gewürdigt,
(Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist nicht meine Aufgabe!)
sondern Sie haben pauschal alles vom Tisch gewischt. Wenn das das Niveau ist, auf dem Sie die Debatte in den nächsten Wochen führen wollen, dann bitte schön. Ich glaube, wir haben gute Argumente und konkrete Vorhaben, die zeigen, dass wir wollen, dass es den Menschen in der Pflege ab dem 1. Januar besser geht. Wenn Sie, Frau Scharfenberg, pauschal bei Ihrer Position bleiben, dann glaube ich nicht, dass das bei den Menschen ankommen wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Wir werden jetzt in zwei Schritten ‑ auch darauf ist hingewiesen worden ‑ 6 Milliarden Euro mehr in der Pflegeversicherung ausgeben. Das ist bei einem System, das heute einen Umfang von 22 Milliarden Euro hat, enorm. Das ist eine Erhöhung um ein gutes Viertel.
(Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das war auch absolut defizitär!)
Sie haben mit einem recht: Geld allein bringt nichts. Aber ohne zusätzliches Geld wird es auch nicht gehen. Deswegen ist das ein sehr wichtiger, großer Schritt, den wir auch immer angekündigt haben; denn in einer älter werdenden Gesellschaft werden für das gesellschaftspolitische Megathema Pflege am Ende alle mehr Geld brauchen.
Jetzt kommt es darauf an - ich glaube, die genannten Beispiele haben es deutlich gemacht -, dass dieses Geld am Bett ankommt, bei den Pflegebedürftigen, und nicht bei den Sozialhilfeträgern, dass es nicht irgendwo im System versickert, sondern ganz konkret am Bett in Leistungsverbesserungen, in zusätzliche Betreuungskräfte, in mehr Zeit investiert wird. Die Maßnahmen, die wir hier vorschlagen, stellen genau das sicher. Wir wollen das zusätzliche Geld ganz konkret bei den Menschen haben. Es soll mehr Zeit, mehr Pflege, mehr Betreuung bringen.
(Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja! Genau!)
Das stellen wir sicher, auch wenn viele gerne gesehen hätten, dass das Geld an anderer Stelle ausgegeben wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Nun zum Pflegebedürftigkeitsbegriff. Sie wissen ganz genau, Frau Scharfenberg, dass man - auch wenn jetzt zwei Gutachten vorliegen; das sagen die Pflegewissenschaftler und die anderen Sachverständigen selber - nicht vom einen auf den anderen Tag hätte regeln können, dass Demenz und andere Einschränkungen im Alter besser berücksichtigt werden.
(Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das stimmt! - Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das sagen wir Ihnen seit Jahren!)
Eins machen wir nicht - das ist ganz wichtig -: Wir machen kein Experiment mit 1 Million Menschen.
(Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist auch richtig so! - Gegenruf des Abg. Volker Kauder (CDU/CSU): Sagen Sie das laut!)
Jedes Jahr werden 1 Million Menschen in Deutschland in der Pflegeversicherung neu daraufhin angeschaut, welche Unterstützung sie brauchen. Da machen wir nicht mal eben, nur weil es ein theoretisches Gutachten gibt, ein Gesetz, in dem wir regeln, was wir mit diesen Menschen machen. Möglicherweise stellen sich dann einige schlechter; es gibt Unklarheiten und viel Durcheinander. Stattdessen untersuchen wir gerade in diesen Wochen parallel in der Praxis, in Studien, was sich konkret - nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis - ändert, um vor einer gesetzlichen Regelung herauszufinden, welche Folgen das hat. Das ginge - das wissen Sie ganz genau - nicht von heute auf morgen. Wir machen das mit der nötigen Gründlichkeit. Ich glaube, damit ist den Menschen am Ende am besten geholfen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Scharfenberg? - Bitte schön.
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vielen Dank, dass ich die Zwischenfrage noch stellen darf. - Lieber Herr Kollege Spahn, Sie haben jetzt wunderbar ausgeführt, dass man das nicht von heute auf morgen regeln und den Menschen überstülpen kann, dass das ein sehr großer Umschwung und eine sehr große Aufgabe ist. Wann ist Ihnen denn diese Erkenntnis gekommen? Sie sind jetzt seit acht Jahren in der Regierung. Die Vorschläge liegen uns seit Jahren vor. Wenn man vor vier Jahren angefangen hätte, sich damit auseinanderzusetzen, dann wären wir jetzt an dem Punkt, dass wir das umsetzen könnten. Ich kritisiere nicht, dass es Modellvorhaben gibt, sondern ich kritisiere den Zeitpunkt; ich kritisiere, dass es die erst jetzt gibt. Wann ist Ihnen die Erkenntnis gekommen, und hätte das nicht schon vor vier Jahren stattfinden können? Dann wären wir und die Menschen im Land schon ein ganzes Stück weiter.
(Beifall der Abg. Kathrin Vogler (DIE LINKE))
Jens Spahn (CDU/CSU):
Zunächst einmal sind wir und die Pflegebedürftigen schon ein ganzes Stück weiter, denn wir haben in den letzten Jahren, auch im Vorgriff auf diese Debatte, schon viele zusätzliche Leistungen ermöglicht. Ich habe gerade schon einige Leistungen für Menschen mit Demenz dargestellt; es ist ja nicht so, als ob es heute gar keine Leistungen gäbe. Weil wir wussten, dass diese Debatte noch Zeit braucht, haben wir in den letzten Jahren im Vorgriff bereits viele konkrete zusätzliche Verbesserungen auch für Menschen mit Demenz beschlossen.
Zum Zweiten wissen auch Sie, dass das erste Gutachten aus der vorletzten Legislatur nicht gereicht hat. Frau Ministerin Schmidt, die seinerzeit im Amt war, hat damals gesagt, damit könne man noch nichts konkret umsetzen. Deswegen haben wir in der letzten Legislatur weiter daran gearbeitet. Dass im Beirat alle, bis auf einen, wieder mitgemacht haben, macht deutlich, dass alle erkannt haben, dass der Bedarf, weiter an diesem Thema zu arbeiten, vorhanden ist. Jetzt haben wir die Basis. Man kann immer sagen: zu spät; hätte schneller geschehen müssen. Aber jetzt haben wir die Basis, das gründlich und vernünftig zu machen. Wir tun das, und das ist das, was Sie eigentlich wurmt: dass wir es sind, die das jetzt vernünftig umsetzen.
(Beifall bei der CDU/CSU - Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein! - Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist das Mindeste!)
Das bringt mich abschließend zu dem Thema Vorsorgefonds, Vorsorgen für die Zukunft. Der Jahrgang 1964 ist der geburtenstärkste Jahrgang, den Deutschland jemals hatte. 1,4 Millionen Menschen wurden 1964 geboren; Sie werden nie wieder so häufig zu 50. Geburtstagen eingeladen wie dieses Jahr. Wir wissen schon jetzt, ab wann die alle etwa pflegebedürftig werden. Das Risiko, pflegebedürftig zu werden, besteht meistens ab 75, 80 Jahren. Wir wissen gleichzeitig, dass es zu diesem Zeitpunkt in Deutschland deutlich weniger Beitragszahler geben wird als heute. Da ist es doch vernünftig, Vorsorge zu betreiben! Wenn man weiß, dass in den nächsten Jahren die Situation eintreten wird, dass wir besonders hohen Unterstützungsbedarf haben, weil es in Deutschland besonders viele Pflegebedürftige und gleichzeitig viel weniger jüngere Menschen, die Beiträge zahlen können, geben wird, dann ist es doch kluge Politik, über vier Jahre hinauszudenken und zu sagen: Wir sorgen vor, wir sparen an, und zwar nicht nur zum Schutz der Beitragszahler, sondern vor allem zum Schutz der Pflegebedürftigen der Zukunft. Denn übermäßige Beiträge würden am Ende auch Debatten über Leistungskürzungen bedeuten. Es braucht diesen Fonds, um auch die in der Zukunft Pflegebedürftigen zu unterstützen. Deswegen wollen und werden wir ihn gemeinsam, wie dargestellt, schaffen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Das ist Ihr Prinzip: Sie wollen das Geld am liebsten heute ausgeben. Es gibt viele Vorschläge, wie man das Geld, das wir jetzt sparen, heute noch zusätzlich ausgeben kann. Sie leben eh im Vorgestern. Diese Koalition denkt an morgen. Wir denken an die Zukunft. Wir führen zum ersten Mal in einem sozialen Sicherungssystem in Deutschland eine Säule ein, durch die zum Ausdruck gebracht wird, dass wir nicht nur an heute denken, dass wir nicht nur - in der Vergangenheit zu Recht erworbene - Ansprüche bedienen; vielmehr sorgen wir auch dafür, dass dieses System fit für die Zukunft ist. Ich glaube, die Basis für die Beratungen der nächsten Wochen ist gut.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Mechthild Rawert, SPD-Fraktion.
Mechthild Rawert (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gesagt, getan: Die SPD setzt sich schon seit langem mit dem Thema Pflege auseinander. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hat das Recht auf Beratung eingeführt, Pflegestützpunkte, den Beirat zur Pflegebedürftigkeit, die Einrichtungen zur Prüfung von Qualität und, und, und. Ohne das wäre es nicht möglich, dass wir heute dieses 1. Pflegestärkungsgesetz überhaupt auf den Weg bringen könnten.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Die SPD hat in Regierungs- und auch in Oppositionszeiten gründlich gearbeitet. Wir sind konstant am Ball geblieben. Wir haben im Wahlkampf die 0,5-Prozent-Beitragssatzerhöhung gefordert. Ich bin dankbar, dass diese Koalition diese Forderung jetzt umsetzt; denn das ist die Grundlage dafür, dass wir mittlerweile über zusätzlich 6 Milliarden Euro für den Bereich Pflege verfügen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wir haben schon vorhin über den Pflegebedürftigkeitsbegriff gesprochen. Ja, seit Einführung der Pflegeversicherung wird darüber gesprochen, dass wir eine Ausweitung von den somatischen über die kognitiven bis hin zu den psychischen Einschränkungen brauchen. Das ist richtig; denn wir wollen mehr Selbstständigkeit. Wir wollen soziale Teilhabe, und wir wollen eine stärkere Orientierung an Kommunikation.
Gesagt, getan: Dieses Pflegestärkungsgesetz bringt mehr und bessere Leistungen für Pflegebedürftige, für an Demenz Erkrankte. Vor allen Dingen bringt es mehr und auch zusätzliche Leistungen für pflegende Angehörige.
Vorhin ist gesagt worden, das wäre alles nichts, und auch wir würden es letztendlich als zu kleines Paket betrachten. Es ist richtig - ich habe schon mitbekommen, dass die Koalitionsvereinbarung intensiv gelesen worden ist -: Diese Debatte heute, die erste Lesung dieses Gesetzentwurfs, ist ein Aufschlag:
Erstens. Wir werden ein zweistufiges Verfahren zur Reform der sozialen Pflegeversicherung haben. Wir werden damit eine Dynamisierung des Leistungsrechts herbeiführen und somit mehr Geld - 4 Prozent zusätzlich sind nicht zu unterschätzen - zur Verfügung stellen und damit den Eigenfinanzierungsanteil tatsächlich senken.
Zweitens. Wir werden - es steht in der Koalitionsvereinbarung; es ist also schon vereinbart - ein neues Pflegeberufegesetz auf den Weg bringen.
(Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wann?)
- Keine Panik, Maria. Wir werden es haben, und wir werden uns gegen Ende dieser Legislaturperiode die Hände schütteln. - Ein solches Gesetz sorgt für mehr Qualität durch mehr Fachkräfte. Alle wissen: In die Pflegeausbildung muss investiert werden. Wir wollen - auch das steht in der Koalitionsvereinbarung - kein Schulgeld mehr, und wir wollen mehr horizontale und auch vertikale Durchlässigkeit im Kontext der Pflegeausbildung.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Drittens. Wir wollen eine qualifiziertere, wohnortnahe Pflegeberatung. Wir wollen einen Ausbau der Pflegestützpunkte. Ja, die Zukunft der Pflege liegt im Quartier. Aber auch das steht letztendlich in unseren Vereinbarungen.
Viertens. Wir wollen eine Entlastung der Menschen in den Pflegeberufen erreichen, unter anderem durch Personalmindeststandards. Ich selber bin keine Anhängerin dieser Flashmobs, wo man sich freiwillig auf den Boden legt, um damit zu symbolisieren: Tritt doch auf mich drauf! Vielmehr bin ich eine Anhängerin davon, Pflege tatsächlich stark zu machen, etwas, was hier in der Charité geschieht, das übrigens bundesweit als gutes Beispiel dienen kann. Das halte ich für einen sehr viel sinnvolleren Weg.
Ich finde es auch richtig ‑ das ist eine der Forderungen, die wir haben ‑, dass in der Pflege Tariflöhne gezahlt werden müssen, einmal abgesehen vom Pflegemindestlohn. Das ist noch eine andere Baustelle, die aber schon bearbeitet worden ist.
Wir sagen auch, Tariflöhne dürfen nicht so angesehen werden, dass hinterher jemand sagt: Das ist ein unwirtschaftliches Verhalten. ‑ Das ist tatsächlich ein Punkt, über den wir noch reden müssen.
Wir werden ‑ fünftens ‑ selbstverständlich auch etwas zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf tun. Die meisten Angehörigen sind erwerbstätig, und wir sagen natürlich nicht ‑ das gilt nicht nur für die Männer, sondern insbesondere für die Frauen ‑: Geht alle wieder in den Haushalt zurück. Gebt eure Erwerbstätigkeit auf. ‑ Nein, wir suchen nach Wegen der Vereinbarkeit. Deswegen gibt es ja den Rechtsanspruch auf Pflegezeit. Wir werden ihn ausbauen. Vor allen Dingen werden wir eine gesetzlich geregelte zehntägige bezahlte Auszeit für pflegende Angehörige einführen. Auch das ist Bestandteil der großen Baustelle Pflege.
Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Ich sage das nicht nur, weil mittlerweile jede und jeder irgendwie Ahnung davon hat bzw. in der Familie davon betroffen ist, sondern ich sage das, weil derjenige, der von einer würdevollen Pflege spricht, auch Verantwortung dafür übernehmen muss, dass diese würdevolle Pflege ausfinanziert wird und geleistet wird durch qualifiziertes Personal, durch letztendlich liebevolle Angehörige, die das auch schaffen und für die es nicht nur eine zusätzliche Belastung ist.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Zimmermann?
Mechthild Rawert (SPD):
Ja.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Ich mache darauf aufmerksam: Das ist die letzte Zwischenfrage, die ich in dieser Debatte zulassen werde.
Pia Zimmermann (DIE LINKE):
Herzlichen Dank. ‑ Frau Präsidentin! Liebe Kollegin Rawert, diese Frage muss jetzt natürlich kommen. Wenn wir von Ausfinanzierung einer auskömmlichen Pflege reden, dann steht natürlich auch die Frage der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung im Raum. Die SPD hat das ja im Wahlkampf auch proklamiert. Es war auch auf euren Fahnen zu lesen. Die Frage ist: Wann können wir denn damit rechnen? Wann bringt ihr das denn in die Koalition ein, damit wir tatsächlich zu einer auskömmlichen Pflege kommen, die wirklich rundum finanziert ist?
Mechthild Rawert (SPD):
Die SPD hat das Konzept der Bürgerversicherung sowohl für den Bereich Gesundheit als auch für die soziale Pflegeversicherung nicht aufgegeben. Wir haben aber derzeit eine andere Koalitionsvereinbarung. Karl Lauterbach hat vorhin gesagt, er sagte es persönlich. Okay, dann sage ich es auch persönlich. Ich trete in keinen Urheberstreit ein, wenn es um die Rechte für die Pflegevorsorge geht. Das ist eindeutig „made by CDU/CSU“. Das ist so. Aber das Konzept wird von uns spätestens im nächsten Wahlkampf weiter betrieben; denn wir glauben an die Parität. Wir glauben an eine gerechte Finanzierung. Wir glauben aber auch daran, dass es notwendig ist, jetzt viel Geld ‑ über 4 Milliarden Euro ‑ für die Pflege bereitzustellen, und dass wir dieses auch umsetzen müssen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Es wurde vorhin ein bestimmtes Bild von Familien beschrieben. Ich glaube nicht, dass ‑ ich sage jetzt einmal ‑ die Familien in 20, 30 Jahren alle viel desaströser sind oder Ähnliches mehr. Ich bin vielmehr davon überzeugt, dass eines den Bereich Pflege noch mehr herausfordert, nämlich die Vielfalt der unterschiedlichsten Lebenssituationen. Da sind selbstverständlich die Singles zu nennen. Es gibt 15-jährige Enkeltöchter, die quasi als Einzige in der Familie wissen, wie der Medikamentenplan für die Oma aussieht. Es gibt mittlerweile Wohngemeinschaften, wo die 102-jährige Mutter sich um das Wohlergehen der 80-jährigen Tochter kümmert.
Es geht aber auch darum, diskriminierungsfreie Räume zu schaffen: wie zum Beispiel den „Lebensort Vielfalt“ hier in Berlin, wie zum Beispiel das Wohn- und Lesbenprojekt „RuT - Rad und Tat“. Wir brauchen auch in dieser Richtung viel mehr Ideen und Kompetenzen.
Wir brauchen eine kultursensible Pflege; denn eines ist klar: Die Senioren und Seniorinnen aus dem Kreis der Zugewanderten sind eine der größten Gruppen, die mittlerweile - so sage ich jetzt einmal - in die Pflegebedürftigkeit gehen. Aber unser Pflegesystem hat für deren spezielle Bedürfnisse noch viel zu wenig Kompetenzen.
Ich sage auch - das war ein Punkt, der hier vorhin zur Debatte geführt hat -: Ja, es bedarf noch der genaueren Abgrenzung zwischen den Tätigkeiten der Betreuungskräfte, der Entlastungskräfte und auch der Pflegefachkräfte. Nichtsdestotrotz: Wir werden dieses Thema noch diskutieren. Wir werden auch noch andere Bereiche diskutieren. Was ist zum Beispiel mit der Behandlungspflege? Das können wir aber heute nicht mehr machen, zumal meine Redezeit schon zu Ende ist.
Ich wünsche allen eine schöne Sommerpause. Ich lade Sie ein: Laden Sie uns ein! Erzählen Sie uns von Ihren Pflegeerfahrungen!
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Frau Kollegin, die Redezeit ist abgelaufen.
Mechthild Rawert (SPD):
Schaffen wir gemeinsam eine bessere Pflege!
Einen schönen Sommer!
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Nächster Redner ist Erwin Rüddel, CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Erwin Rüddel (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! 20 Jahre Pflegeversicherung. Eben sind die folgenden Begriffe gefallen: Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz, Pflegestärkungsgesetz. Das sind alles Gesetze, die sehr eng mit der CDU/CSU verbunden sind. Liebe Frau Kollegin Scharfenberg, auch die Grünen haben in Deutschland eine Zeit lang Verantwortung getragen, und in diesen Jahren stand die Pflege nicht auf ihrer Agenda.
Wir reden heute über die bedeutendste Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung seit ihrer Einführung. Wir sprechen über die umfassendste Leistungsverbesserung für pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen. Wir reden über verbesserte Arbeitsbedingungen für alle, die in der Pflege tätig sind. Wir sprechen über geeignete Maßnahmen, um rechtzeitig dem demografischen Wandel Rechnung zu tragen. Wir reden über mehr Qualität, mehr Geld, mehr Betreuung und mehr Hände für gute Pflege in Deutschland.
Die Pflegereform zählt zu den zentralen innenpolitischen Vorhaben der Koalition in dieser Legislaturperiode. Deshalb wollen wir den großen Wurf, und den werden wir umsetzen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Diese Koalition hält ihr Wort, das sie den Pflegebedürftigen, den Angehörigen und den Pflegekräften gegeben hat.
(Beifall bei der CDU/CSU - Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wollen wir mal hoffen!)
Auf die Details der Leistungsverbesserungen sind meine Vorredner bereits ausführlich eingegangen.
Dass wir bei der Reform in zwei Stufen vorgehen, dafür gibt es gute Gründe. Die Abkehr von der Minutenpflege und die regelhafte Einbeziehung von an Demenz erkrankten Menschen kann sinnvoll erst nach wissenschaftlicher Vorbereitung umgesetzt werden. Hier geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Die neue Systematik muss in sich schlüssig sein und einheitlich angewendet werden. Das sind wir den Pflegebedürftigen schuldig; denn vom künftigen Pflegebedürftigkeitsbegriff sind Hunderttausende von Menschen betroffen.
Deshalb ist es richtig, das neue Begutachtungsverfahren in Modellversuchen auf seine Praxistauglichkeit zu prüfen. Im Ergebnis werden alle, die ab einem bestimmten Stichtag pflegebedürftig werden, nach den neuen Bedingungen begutachtet werden. Alle diejenigen, die bereits eine Pflegestufe haben, erhalten Bestandsschutz. Bereits mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz haben wir Grundlagen für Verbesserungen zugunsten an Demenz erkrankten Menschen gelegt. Diesen Weg gehen wir mit dem Pflegestärkungsgesetz konsequent weiter. Ich sage es noch einmal: Die Koalition hält ihr Wort und wird noch vor Ende der Legislaturperiode die zweite Stufe der Reform verabschieden, durch die Menschen mit demenziellen Erkrankungen in der Pflegeversicherung entscheidend besser gestellt sein werden.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zum Thema Bürokratieabbau und Dokumentation. Die Ombudsfrau für Entbürokratisierung in der Pflege, Frau Beikirch, hat hervorragende Arbeit geleistet. Jetzt kommt es darauf an, die Ergebnisse möglichst rasch mit allen Beteiligten umzusetzen. Weniger Bürokratie bedeutet mehr Zeit für Zuwendung.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die Dokumentation muss auf das Maß reduziert werden, das zur Qualitätssicherung wirklich notwendig ist. Es muss uns um die Qualität der Ergebnisse gehen, um das Wohlbefinden, die Gesundheit und die Selbstständigkeit von Pflegebedürftigen und weniger um die Strukturqualität. Die Dokumentation sollte deutlich reduziert werden, indem nur bei Abweichungen vom Regelfall Dokumentation notwendig ist.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich denke in diesem Zusammenhang auch an das sogenannte Wingenfeld-Modell. Hier liegt der Fokus darauf, wie sich der Pflegezustand eines Bewohners im Laufe der Zeit verändert und wie sich die Pflege im Einzelfall konkret auswirkt, soweit das von den Mitarbeitern beeinflusst werden kann. Wichtig ist mir vor allem, dass wir Qualität, Bürokratieabbau und Transparenz in der Pflege nicht gesondert betrachten, sondern als Dreiklang. Dazu gehört auch die Harmonisierung der Prüfkriterien der Medizinischen Dienste der Krankenkassen und der Heimaufsicht.
(Beifall der Abg. Maria Michalk (CDU/CSU))
Meine Damen und Herren, auch die Pflege kann nicht isoliert betrachtet werden. Wir müssen deshalb die Zukunft der Pflege innerhalb von Strukturen planen, in denen ambulante und stationäre Versorgung in der Pflege zusammenwirken. Ein Beispiel ist die zugehende ärztliche Versorgung von Pflegebedürftigen oder Vorkehrungen für Notfallsituationen an den Wochenenden. Sie helfen dabei, den Bewohnern belastende Klinikeinweisungen zu ersparen. Wir werden zudem unsere große Pflegereform mit einer ganzen Reihe weiterer Maßnahmen flankieren, wie dem Ausbau der Vorsorge in einem neuen Präventionsgesetz oder der Förderung von innovativen Versorgungsformen von niedergelassenen Ärzten oder Kliniken.
Mit der Reform der Pflege und ihren Vorhaben im Gesundheitswesen verfolgt diese Koalition eine weitsichtige Politik, die sich konsequent an mehr Qualität und am Nutzen für die Betroffenen orientieren wird.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank. ‑ Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Erich Irlstorfer, CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Erich Irlstorfer (CDU/CSU):
Verehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir besprechen heute die erste Stufe der Pflegereform; so möchte ich es nennen. Sowohl in der häuslichen als auch in der stationären Pflege gibt es immer mehr Menschen mit Demenzerkrankungen, was sich in einer stärkeren Berücksichtigung im vorliegenden Gesetzentwurf widerspiegelt. Über zwei Drittel aller Pflegebedürftigen in Deutschland werden nach wie vor zu Hause gepflegt. So viel dazu, dass Familie im Jahr 2014 angeblich nicht mehr funktioniert. Ich kann nur sagen: Das ist das Leben des Generationenvertrages. Ich sage allen Angehörigen: Respekt und herzlichen Dank, dass Sie sich tagtäglich dieser Aufgabe stellen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Gesellschaftliche Veränderungen, neue Familienstrukturen sowie die berufliche Situation vieler pflegender Angehöriger erfordern Maßnahmen zur Stabilisierung und flexibleren Gestaltung der häuslichen Pflege, die wir heute auf den Weg bringen. Deshalb tun wir das auch. Auch hinsichtlich der stationären Pflege besteht Verbesserungsbedarf. Auch das gehen wir an. Hier erfolgen weitere Verbesserungen der ergänzenden Betreuung der Pflegebedürftigen.
Mit dem Gesetz werden viele notwendige Schritte aufgegriffen, auf die meine Vorredner bereits eingegangen sind. Besonders wichtig ist, dass in einer späteren zweiten Stufe dieser Pflegereform bis 2017 ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt wird. Dies ist notwendig, da der bisherige Pflegebedürftigkeitsbegriff rein somatisch ausgerichtet war, nun aber auch andere wesentliche Aspekte wie Kommunikation und soziale Teilhabe berücksichtigt werden können. Damit werden insbesondere für Menschen mit Demenzerkrankungen oder psychischen Problemlagen Verbesserungen einhergehen.
Aber ich sage nochmals ‑ das möchte ich unterstreichen ‑: „Satt und sauber“ ist nicht unsere Vorstellung von stationärer Pflege. In unserer Vorstellung ist die hygienische Versorgung und eine alters- und patientengerechte Ernährung eine Selbstverständlichkeit. Unser Anspruch ist eine individuelle und vor allem auch personifizierte Pflege, bei der das persönliche Gespräch, das kurze Innehalten am Pflegebett und somit auch Nächstenliebe und Menschlichkeit von Pflegerinnen und Pflegern regelmäßig gelebt werden können und nicht die Ausnahme sind.
(Beifall bei der CDU/CSU ‑ Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da werden wir aber bis 2017 warten müssen!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Diese Bundesregierung setzt sich für eine massive Verbesserung im Bereich der Pflege ein. Das ist ein Hauptthema dieser Legislaturperiode und vor allem ein Zukunftsthema für ganz Deutschland. Das dürfen wir nicht verschweigen, und wir lassen uns das auch nicht kleinreden. Aber ich sage auch: Die Pflegeversicherung hat einen Teilkaskocharakter. Staatliche Maßnahmen können hier nur eine Säule der Unterstützung bilden. Gerade daher ist es notwendig, ein gewisses Erwartungshaltungsmanagement zu betreiben und zu betonen, dass das alles nur ein erster Schritt in die richtige Richtung ist. Es ist nicht möglich, alles auf einmal zu erreichen. Doch unser tägliches Bestreben ist es, für Pflegebedürftige, für Angehörige und für Beschäftigte im gesamten Pflegebereich deutliche Verbesserungen herbeizuführen, die auch wirklich ankommen.
Es gibt im Bereich der Pflege auch weitere wichtige Felder, auf denen Handlungsbedarf besteht. Dazu gehört vor allem die haus- und fachärztliche Versorgung. Hier stehen wir vor der Aufgabe, dass pflegebedürftige Menschen immer noch zu oft für Routineuntersuchungen und -behandlungen in Krankenhäuser transportiert werden müssen. Dies führt zu einer erheblichen Belastung der Pflegebedürftigen sowie zu enormen Kosten für das Gesundheitssystem. Weitere Schritte zur Verbesserung der Situation sind aber notwendig. Wir dürfen uns hier auch neuen Versorgungs- und Behandlungsformen nicht verschließen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur in diesem Punkt besteht Verbesserungsbedarf. Deshalb bauen wir zum einen auf eine konservative Strategie, die ich vorhin mit den Worten Nächstenliebe und Menschlichkeit beschrieben habe. Zum anderen bauen wir auf eine innovative Strategie, die zum Beispiel auch auf digitale Lösungen bei der Pflege, vor allem bei der Dokumentation, setzt. Hier erkenne ich enorme Potenziale für telemedizinische Lösungen, die zu deutlichen Verbesserungen in der Betreuung und Behandlung führen können. Wir brauchen ein Dokumentationssystem, das sich mehr an den wirklich wichtigen pflegerelevanten Bereichen ausrichtet und die Ergebnisqualität aufzeigt. Statt der reinen Dokumentation müssen künftig der Zustand und der Bedarf des Menschen sowie die Frage, wie es ihm geht, stärker im Mittelpunkt stehen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vor diesem Hintergrund bin ich froh, dass wir in Bayern Initiativen ergriffen haben, um den Bürokratieaufwand im Pflegebereich zu verringern. Das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege begleitet das Projekt Redudok von Einrichtungsträgern, der Heimaufsicht München und des MDK. Die Dokumentations- und Kommunikationsstrukturen in Pflegeeinrichtungen werden in diesem Projekt kritisch analysiert und Anregungen zum Bürokratieabbau erarbeitet.
Aber auch auf Bundesebene wird das Thema engagiert angegangen. Ich bin dem Patienten- und Pflegebeauftragten der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, dankbar, dass er sich gerade auch bei diesem Thema engagiert.
Eine neue Pflegedokumentation, die den inhaltlichen und rechtlichen Anforderungen entspricht, ist entscheidend, gerade auch für die Beschäftigten in der Pflege. Denn diese Dokumentation stellt klar, dass nicht jede einzelne Tätigkeit beschrieben werden muss und es trotzdem zu keinen negativen Haftungskonsequenzen für den einzelnen Beschäftigten kommt. Auch das ist eine Verbesserung.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Diese Bundesregierung investiert nicht nur in Straßen, Schienen und Gebäude ‑ nein, diese Bundesregierung investiert in Menschen, in Bildung und Ausbildung, weil wir alle wissen, dass die demografische Entwicklung einen Fachkräftemangel erstens schon bewirkt hat und sich dieser zweitens noch verschärfen wird.
Gleichzeitig wissen wir, dass Pflegeberufe schwere Berufe sind, die leider oft finanziell und gesellschaftlich unzureichend anerkannt werden. Mit anderen Worten: Wenn wir wollen, dass eine angemessene Versorgung in der Pflege gewährleistet wird, müssen wir sicherstellen, dass wir genügend Pflegerinnen und Pfleger ausbilden und der Beruf so attraktiv ist, dass die ausgebildeten Kräfte ihn gerne und lange ausüben.
(Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Stimmt! ‑ Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und wo investiert ihr da?)
Das heißt, dass sie Aufstiegsmöglichkeiten haben müssen, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gewährleistet sein muss, und vor allem, dass sie anständig bezahlt werden und davon auch leben können müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Erich Irlstorfer (CDU/CSU):
Deshalb müssen wir nach der Sommerpause die Weichen stellen, wie wir die Pflegeausbildung neu definieren. Dazu brauchen wir aber auch die Bundesländer. Ich sage ganz deutlich: Monatliches Schulgeld für Auszubildende in der Pflege kann nicht die Antwort auf Pflegekräftemangel sein.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Karl Lauterbach (SPD): So ist es!)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, zum Schluss der heutigen Debatte ‑ ‑
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Aber jetzt bitte zum Schluss.
Erich Irlstorfer (CDU/CSU):
Jawohl. ‑ Ein herzliches „Vergelts Gott“ an alle Beteiligten! Ich hoffe, Sie stimmen diesem Gesetzentwurf zu. ‑ Frau Präsidentin, herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank. Es ist immer so, dass wir alle gemeinsam die Redezeiten vereinbaren und deshalb auch alle gehalten sind, sie einzuhalten.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/1798, 18/1600 und 18/1953 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? ‑ Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annalena Baerbock, Oliver Krischer, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kohleausstieg einleiten – Überfälligen Strukturwandel im Kraftwerkspark gestalten
Drucksache 18/1962
Überweisungsvorschlag:
A. f. Wirtschaft und Energie (f)
A. f. Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
A. f. die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Energiewende durch Kohleausstiegsgesetz absichern
Drucksache 18/1673
Überweisungsvorschlag:
A. f. Wirtschaft und Energie (f)
Finanzausschuss
A. f. Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. ‑ Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte jetzt die Kollegen, die den Saal verlassen wollen, dies zu tun.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Annalena Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen.
Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Schönen guten Morgen, sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen einen
… Entwicklungspfad des konventionellen Kraftwerksparks, der mit den klimapolitischen Zielen der Bundesregierung im Einklang steht. Insbesondere muss vermieden werden, dass das nationale Klimaschutzziel verfehlt wird, wenn erneuerbare Energien ausgebaut und die Energieeffizienz verbessert wird, aber nicht im Gegenzug fossile Stromerzeugung um- und abgebaut wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Jetzt müssten Sie von den Regierungsfraktionen eigentlich klatschen, weil das die Ansage aus dem Bundesumweltministerium vom Frühjahr dieses Jahres ist,
(Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Umweltministerium ist gar nicht da!)
geschrieben im Lichte des Weltklimaberichtes, der hier in Berlin vorgestellt wurde und sehr deutlich gemacht hat: Einen unkontrollierbaren Klimawandel können wir nur verhindern, wenn der größte Teil der weltweiten Kohlevorräte dort bleibt, wo er ist, nämlich unter der Erde.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Es wundert nicht nur uns Grüne, dass ein paar Wochen nach der Veröffentlichung eines solchen Berichts, den die Bundesregierung offiziell entgegengenommen hat, in Brandenburg beschlossen wird, genau das Gegenteil zu tun, nämlich bis 2040 weiter Kohle auszubuddeln, die man eigentlich unter der Erde lassen wollte. Das wundert, wie gesagt, nicht nur uns Grüne, sondern mittlerweile selbst die Amis.
In der New York Times hieß es, dass es schon etwas „strange“ sei, also sehr merkwürdig und komisch, dass die Kanzlerin auf der einen Seite beschließt, Klimapolitik wieder zur Vorreiterpolitik zu machen, und auf der anderen Seite in Ostdeutschland ganze Dörfer ausradiert werden. Auch uns als Klimapolitikern ‑ da schließe ich die CDU/CSU und die SPD ein ‑ ist es immer wieder peinlich; denn wir haben, wenn wir auf internationalen Konferenzen angesprochen werden, wie es denn sein könne, dass wir die erneuerbaren Energien ausbauen und unsere CO2-Emissionen trotzdem steigen, leider gar keine Antwort.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ralph Lenkert (DIE LINKE))
Nachdem es die Amerikaner begriffen haben, müssen auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD, begreifen: Deutschland kann nicht Energiewendeland werden wollen und gleichzeitig Kohleland bleiben; das geht nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Sie hätten gleich noch eine zweite Chance, das zu revidieren. Aber leider setzt sich Ihre energiepolitische Schizophrenie im EEG weiter fort. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz wird zu einem „Erneuerbaren-Beschneidungs-Gesetz“ zum Schutz der Kohle. Das ist wirklich absurd.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Da hilft es auch nichts, dass das Bundesumweltministerium jetzt ein Aktionsprogramm ‑ mittlerweile heißt es „mittelfristiges Sofortprogramm“; auch sehr schizophren ‑ auf den Weg bringen will ‑ ich habe eingangs daraus zitiert ‑; denn es ist zu befürchten, dass das Wirtschaftsministerium ‑ der Minister selbst ist jetzt leider nicht da ‑ auch diesmal wieder getreu nach dem Motto verfahren wird: Was schert mich das Geschwätz aus dem Bundesumweltministerium? Anders kann man nicht erklären, dass die Bundesumweltministerin sehr richtig ankündigt, dass 2 Milliarden Zertifikate aus dem ETS genommen werden müssen,
(Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Umweltministerium ist abwesend!)
aber die Bundesregierung in Brüssel die Position vertritt: Herausnahme von 900 Millionen Zertifikaten. Das reicht definitiv nicht aus. Das ist ein Affront gegen die Umweltministerin.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ähnlich ist es beim Entwicklungspfad für fossile Kraftwerke. Das Umweltministerium kündigt das groß an ‑ sogar im Spiegel steht, man wolle jetzt aus der Kohlekraft aussteigen ‑, aber wenn man dann die Bundesregierung konkret fragt, antwortet wieder das Bundeswirtschaftsministerium. Dort heißt es: Nein, keineswegs, die Bundesregierung beabsichtige nicht, Kohlekraftwerke vom Markt zu nehmen. ‑ Das passt doch vorne und hinten nicht zusammen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Liebe SPD, Sie müssen sich jetzt wirklich einmal entscheiden, ob Ihre Umweltministerin in der Regierung noch eine Rolle spielen soll oder ob Herr Gabriel das jetzt alles einfach übernimmt. Sie müssen sich entscheiden, ob Umwelt- und Klimapolitik für Sie noch eine Rolle spielen wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei der LINKEN)
Denn ein bisschen Energiewende ‑ das geht genauso wenig wie: ein bisschen schwanger; man muss sich entscheiden, was man will. Sie sollten sich schnell entscheiden; denn die CDU/CSU hat sich leider ‑ das müssen wir zu unserem großen Bedauern feststellen ‑ von diesem Thema verabschiedet.
Merkel hat beschlossen:
(Wolfgang Tiefensee (SPD): Frau Merkel ist das immer noch!)
Während andere Staats- und Regierungschefs in New York über das Weltklima diskutieren, möchte sie, Frau Merkel, lieber etwas anderes tun. Es heißt, sie habe Wichtigeres zu tun.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
‑ Da klatschen Sie auch noch? Das ist ja unglaublich.
(Dagmar Ziegler (SPD): Weil Sie „Frau Merkel“ gesagt haben! ‑ Thomas Jurk (SPD): Dafür, dass Sie höflich waren! - Wolfgang Tiefensee (SPD): Das war nur der Beifall für „Frau“ Merkel!)
‑ Das ist ja nett, dass sie wenigstens bei dem Begriff „Frau“ klatschen. Schön, dass Sie so an einzelnen Wörtern hängen.
(Thomas Jurk (SPD): So viel Zeit muss sein!)
Sie müssen sich also entscheiden, mit welcher Position Sie nach New York reisen. Bisher ist unklar, welcher der SPD-Minister ‑ Frau Hendricks, Herr Gabriel oder vielleicht Herr Steinmeier ‑ nach New York fahren wird. Aber wer auch immer fährt: Einer von denen muss eine Antwort darauf geben, was Deutschland zu der Forderung sagt ‑ mit der Annahme des IPCC-Teilberichts hat man das zugesagt ‑, dass man die Kohle in Zukunft unter der Erde lassen soll.
Damit Sie nicht ganz nackig dastehen, wenn Großbritannien sagt: „Also wir haben jetzt CO2-Grenzwerte eingeführt, damit das Betreiben von Kohlekraftwerken ausläuft“, damit Sie nicht ganz nackig dastehen, wenn Obama sagt
(Ulrich Freese (SPD): Dafür bauen sie Atomkraftwerke!)
‑ Herr Freese, jetzt regen Sie sich einmal ab. ‑: „Wir reduzieren unseren CO2-Austoß aus Kohlekraftwerken um 30 Prozent“, haben wir als Opposition etliche Vorschläge auf den Tisch gelegt, von denen Sie sich gerne welche aussuchen können.
Wir regen an, dass Sie sich in der Sommerpause einmal das Bergrecht vornehmen, und zwar nicht nur zum Thema Fracking, sondern auch zum Thema Kohle, um dann vorzuschlagen, dass in Zukunft neue Tagebaue nicht mehr genehmigt werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Damit Sie in New York nicht im Schatten von Obama stehen müssen, regen wir an: Denken Sie darüber nach, wie Sie das Bundes-Immissionsschutzgesetz so ändern können, dass die Menschen in Deutschland vor Quecksilber genauso geschützt sind wie in den USA. Wir regen insbesondere an ‑ ich bitte darum, hier etwas genauer zuzuhören ‑, dass Sie einen Plan vorlegen, wie Sie aus der Kohle aussteigen können. Unser Vorschlag ist, CO2-Grenzwerte einzuführen. Das würde endlich Planungssicherheit in den fossilen Kraftwerkspark bringen. Es kann doch nicht sein, dass die Gaskraftwerke mittlerweile vollkommen aus dem Markt gedrängt werden. Es kann auch nicht in Ihrem Sinne sein, Herr Pfeiffer, dass eine Branche komplett plattgemacht wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Schauen Sie sich diesen Vorschlag einmal genauer an. Denn die anderen Länder könnten Sie in Lima oder in Paris fragen
(Thomas Jurk (SPD): Wir brauchen nicht ständig zu reisen!)
‑ es ist interessant, dass Sie mich dauernd belehren müssen. ‑: Wie kann es denn sein, dass fünf Kohlekraftwerke in Deutschland genauso viel CO2 ausstoßen wie die 90 emissionsärmsten Länder der Welt? - Das ist doch unglaublich. Lassen Sie sich das einmal auf der Zunge zergehen.
(Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Was ist das für ein Vergleich?)
Ihre Antwort, liebe CDU, dass es doch völlig egal sei, ob Deutschland international etwas tue, ist nicht zielführend. Wenn Sie nicht an die Kohle herangehen, werden wir keinen erheblichen Beitrag zum Klimaschutz leisten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Sie rufen immer herein, wie absurd das Ganze sei und dass wir Grüne ‑ das wird jetzt sicherlich auch von Herrn Pfeiffer kommen ‑
(Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Das hätten Sie gern!)
den Industriestandort Deutschland ganz bewusst kaputtmachen wollten. Deshalb zitiere ich zum Abschluss nicht uns Grüne, sondern den Präsidenten der Weltbank ‑ das ist sicherlich keine ökofundamentale Organisation ‑, Dr. Jim Yong Kim:
Es gibt keine Ausreden mehr, 2014 muss das Jahr des Klimaschutzes sein. Und nicht nur, um unseren Planeten zu schützen, sondern auch, um der Weltwirtschaft einen neuen Schub zu verleihen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
In diesem Sinne hoffen wir auf Ihre zweite Halbzeit 2014. Nutzen Sie die Sommerpause erkenntnisreich. Schauen Sie sich unsere Vorschläge an. Ich kann verstehen, wenn Sie nicht mit einem grünen Antrag am Strand liegen wollen.
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Frau Kollegin Baerbock, ich erinnere Sie an die vereinbarte Redezeit.
Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich komme zum Schluss. - Nehmen Sie statt unseres Antrags dann halt den DIW-Bericht, den Bericht des größten Wirtschaftsforschungsinstituts Deutschlands. Auch die haben einen Plan vorgeschlagen, der beinhaltet, über die Festlegung von CO2-Grenzwerten aus der Kohle auszusteigen. Nehmen Sie sich das zu Herzen. Lesen Sie das und machen Sie Ihre Vorschläge im zweiten Halbjahr. Denn eines geht nicht: nichts zu tun und den Kopf weiter in den Kohlesand zu stecken.
Herzlichen Dank und einen schönen Sommer.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN - Zuruf von der CDU/CSU: Wenn Sie weniger reden würden, würden Sie weniger CO2 ausstoßen!)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Baerbock, wir debattieren heute über einen Antrag, den die Fraktion der Grünen eingebracht hat. Ich finde das, was Sie hier fordern, ziemlich unseriös. Es ist so, als ob man Äpfel mit Birnen vergleichen würde.
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)
Wie ist denn der Status quo der Stromerzeugung? Wir reden zunächst einmal über die Stromerzeugung in Deutschland. Wir haben den Anteil der erneuerbaren Energien von 7 Prozent in 2000 auf heute 25 Prozent ausgebaut. Wir wollen und werden sie weiter ausbauen. Tatsache ist, dass die Kohle heute 45 Prozent der Stromversorgung in Deutschland erbringt. Die Kohle wird noch auf absehbare Zeit einen Großteil der Stromerzeugung erbringen müssen. Denn wir sind ‑ dazu haben Sie kein Wort gesagt ‑ gerade dabei, aus der Kernenergie auszusteigen. Die Kernenergie hatte einen Anteil von 30 Prozent an der Stromerzeugung in Deutschland und war und ist CO2-frei.
(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir hatten 2010 knapp 30 Prozent Kernenergie und 10, 15 Prozent erneuerbare Energien. Das heißt, 45 Prozent der Stromerzeugung waren CO2-frei. Im Zuge des Ausstiegs aus der Kernenergie ersetzen wir nur die Kernenergie durch die erneuerbaren Energien. Das ist die Wahrheit.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zuruf der Abg. Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Das ist Ihre Politik, die Sie favorisiert haben und die auch die Mehrheit des Hauses hier so beschlossen hat. Ich war anderer Meinung, aber die Mehrheit hat es so beschlossen. Zur Wahrheit gehört das dazu. Heute stellen Sie sich hierhin und beklagen, dass die Kohle unter CO2-Gesichtspunkten noch diese Rolle spielt, die sie - nach Ihrer Meinung - gar nicht mehr spielen müsste. Auch das gehört zur Wahrheit.
Die Entscheidung, die getroffen wurde, wurde so begründet: Die Nutzung der Kernkraft ist unverantwortlicher, und die Problematik bei der Kernkraft ist noch größer. - Eines geht aber mit Sicherheit nicht: aus beidem gleichzeitig auszusteigen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wolfgang Tiefensee (SPD))
Der Industrie- und Wirtschaftsstandort Deutschland wird es sich nicht leisten können, gleichzeitig aus der Kernenergie und der Kohle auszusteigen. Um die Ziele zu erreichen, werden wir zwar im Lauf der Zeit aus beiden Energien aussteigen, aber sicher nicht so, wie Sie es vorschlagen.
Ich finde es schon ein bisschen scheinheilig ‑ das muss ich sagen ‑, wenn Sie Fortschritte in den USA bei der Emissionsreduzierung als Beispiel heranziehen, gleichzeitig aber kein Wort zur Schiefergasförderung sagen, obwohl dies der alleinige Grund dafür ist, dass die CO2-Emissionen in den USA zurückgehen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
In den USA hat ein Fuel Switch von der Kohle zum Gas stattgefunden. Allein deshalb sind die Emissionen in den USA um 20 bis 25 Prozent zurückgegangen. So ist die Kohle ersetzt worden.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das sind zukünftige Pläne!)
Das ist die andere Seite der Wahrheit. Aus diesem Bereich wollen Sie aber auch aussteigen bzw. erst gar nicht in diesen Bereich einsteigen. Sie verteufeln diese Technologie ja von vornherein.
(Zuruf des Abg. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Insofern ist das, was Sie uns hier heute erzählen, wirklich unredlich.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD - Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wollen Sie denn Fracking?)
Kommen wir zur Nutzung der erneuerbaren Energien. Wir haben zurzeit zwei Stromerzeugungssysteme. Aber nur die Energieerzeugung im Bereich der konventionellen Systeme kann eine gesicherte Leistung erbringen. Was nützt uns eine hohe installierte Leistung im Bereich der Photovoltaik, wenn heute noch zu 100 Prozent Kapazitäten fossiler Energieträger, also konventioneller Kraftwerke, vorhalten müssen, um die Leistung zu gewährleisten, wenn die Sonne nicht scheint? Beim Wind sind es 90 Prozent. Insofern ist es auch unredlich, wenn Sie hier behaupten, durch einen mengenmäßigen Ausbau des Bereichs der erneuerbaren Energien wäre die benötigte Energie in Deutschland zu erzeugen.
Ich nenne ein weiteres Stichwort: Versorgungssicherheit. Die Braunkohle ist ‑ das ist nun wirklich unstrittig ‑ ein heimischer Rohstoff. Er ist in ausreichender Menge vorhanden, und er ist subventionsfrei, anders als andere Energieträger wie die erneuerbaren Energien, die wir gerade ausbauen. Die Braunkohle ist subventionsfrei und absolut wettbewerbsfähig. Die erschlossenen Tagebaue reichen noch für weitere 30 Jahre. Das ist übrigens auch der zeitliche Horizont unserer energiepolitischen Einsparziele, unserer CO2-Reduktionsziele
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das schaffen Sie eben nicht!)
und des Ausbaus des Bereichs der erneuerbaren Energien. In diesem Zusammenhang sprechen wir über 2050.
Zu dem, was ich jetzt anspreche, haben Sie bisher nichts gesagt. Ich bin gespannt, was Sie im weiteren Verlauf dieser Debatte noch dazu sagen werden. Sie blenden die Realitäten aus, greifen in eine Schublade und arbeiten sich daran ab, ohne darauf zu achten, dass die Dinge zusammenpassen. ‑ Braunkohle wird in Deutschland verstromt. Der Strom aus Braunkohle ist zu 90 Prozent KWK-Strom
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was?)
und fließt in die Fernwärme.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ein Schwachsinn!)
Das heißt, ohne Braunkohle werden wir auch unsere KWK-Ziele nicht erreichen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU ‑ Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wo soll denn die Wärme hin?)
‑ Zu 90 Prozent in Strom- und Fernwärmeerzeugung. Das ist doch unstrittig.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wo in der Lausitz soll denn die ganze Wärme hin?)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Herr Kollege Pfeiffer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krischer?
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Selbstverständlich, gerne.
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herzlichen Dank, Herr Kollege Pfeiffer, für die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. Sie haben gerade eine ganz abenteuerliche These aufgestellt. Sie haben behauptet, der in Deutschland erzeugte Strom aus Braunkohle sei KWK-Strom und damit klimafreundlich.
Ich komme aus einem rheinischen Braunkohlerevier. Die in den dortigen Kraftwerken stattfindende Braunkohleverstromung führt zu einer Leistung von ungefähr 10 000 Megawatt. Etwa 100 bis 200 Megawatt davon fließen in die Wärmenutzung. Am Ende fließen also nur ein paar Prozent in die Wärmenutzung. Könnten Sie mir vor diesem Hintergrund erläutern, wie Sie auf die abenteuerliche These kommen, dass 90 Prozent des in Deutschland erzeugten Braunkohlestroms KWK-Strom ist?
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
In Strom und KWK.
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich stelle hier die umgekehrte Behauptung auf, dass 95 Prozent des in Braunkohlekraftwerken erzeugten Stroms reiner Kondensationsstrom mit Wirkungsgraden von teilweise unter 30 Prozent und entsprechenden Klimaemissionen ist. Können Sie mir erklären, wie Sie zu Ihrer Behauptung kommen?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ‑ Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Dann sagen Sie, wie Sie zu Ihrer kommen!)
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Das kann ich gerne tun und es wiederholen - ich habe das vorhin schon gesagt -: 90 Prozent der Braunkohleenergie wird zur Erzeugung von Strom und Fernwärme eingesetzt. Wir werden die KWK-Ziele ohne Braunkohle nicht erreichen.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und wo gehen die restlichen 10 Prozent hin, wenn sie nicht in Strom gehen? - Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ach, Herr Pfeiffer, was rechnen Sie uns denn da schon wieder vor?)
- Noch einmal: Wir werden die KWK-Ziele ohne Braunkohle nicht erreichen. Wie die Situation in Ihrem Wahlkreis ist, weiß ich nicht im Detail. Aber schauen Sie sich einmal an, wie KWK in den neuen Bundesländern eingesetzt wird.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie viele Menschen leben denn da? Wen wollen Sie denn da mit Wärme versorgen?)
Deshalb haben auch Sie die KWK-Ziele mitbeschlossen. Bis zum Jahr 2020 wollen wir das KWK-Ziel von 25 Prozent erreichen.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das hat doch nichts mit der Braunkohle zu tun!)
Dieses Ziel werden wir ohne die Braunkohle nicht erreichen. Das ist in der Sache ja wohl unstrittig;
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein, das ist absurd!)
das können Sie auch nachrechnen.
Sie haben die Technologie angesprochen; dieses Thema können wir in der Tat gerne vertiefen.
(Abg. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nimmt wieder Platz)
- Die Frage ist noch nicht beantwortet, Herr Krischer.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mir reicht es! Danke!)
- Nein, die Frage ist noch nicht beantwortet;
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn Sie keine Ahnung haben, hören Sie lieber auf!)
ich sage Ihnen noch, wie wir unsere Ziele erreichen.
Sie haben, wie gesagt, die Technologie angesprochen, und zwar zu Recht. Die CO2-Emissionen durch Kohleverstromung betragen in Deutschland im Moment ungefähr 380 Kilogramm je Megawattstunde. Weltweit sind es etwa 1 100 Kilogramm; das ist fast das Dreifache. Das heißt, die weltweiten Klimaziele - ich komme nachher noch auf die weltweite Situation zu sprechen - werden wir ohne die entsprechenden Wirkungsgrade in Deutschland nicht erreichen. Sind Sie etwa gegen die weltweiten Klimaziele? Ich hoffe nicht, dass dem so ist.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir verstehen nicht mehr, was Sie sagen! - Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie haben richtig falsche Argumente gebracht, Herr Pfeiffer! Das ist doch unglaublich! Was Sie da machen, ist doch unseriös!)
- Ja, die Argumente sind falsch; das ist klar, dass Sie das sagen.
(Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der hat doch überhaupt keine Ahnung! - Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist echt peinlich, Herr Pfeiffer! - Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was Sie hier sagen, ist ja so ein Unsinn!)
- Werden wir die KWK-Ziele ohne Braunkohle bis 2020 erreichen können, Herr Krischer? Nein.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja! Der Strom geht doch zurück! Das haben Sie selber gesagt!)
Wie sieht die technologische Situation aus? Steinkohlekraftwerke haben in Deutschland einen Wirkungsgrad von 46 Prozent, Braunkohlekraftwerke von ungefähr 43 Prozent.
(Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Genau! - Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein!)
Was bedeutet das? Da Sie ja CO2-Emissionen einsparen wollen, sage ich Ihnen: Der Wirkungsgrad beträgt im weltweiten Durchschnitt 30 Prozent.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aufhören, bitte!)
- Sie wollen die Zahlen, die Fakten und die Realitäten nicht wahrhaben. - Die CO2-Emissionen betragen ungefähr 1 200 Gramm je Kilowattstunde.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ein Quatsch! Die neuen haben 47 Prozent!)
- Der weltweite Durchschnitt liegt bei 30 Prozent.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, ja, der Durchschnitt!)
- Auch Sie haben gerade davon gesprochen, wie die Situation weltweit ist.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wollen Sie Durchschnittszahlen, oder wollen Sie es genau wissen?)
Jetzt zu unseren Kraftwerkskapazitäten. Sie wollen den Export unserer Technologie ins Ausland unterbinden. Sie haben im Ausschuss kürzlich beantragt, dass unsere hocheffiziente Kohletechnologie nicht ins Ausland exportiert werden soll. Sie stellen sich also hierhin und beklagen die weltweit ansteigenden Emissionen. Aber ich frage Sie: Wie wollen Sie eine Reduzierung erreichen?
(Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit erneuerbaren Energien!)
Tatsache ist - ob es Ihnen gefällt oder nicht und unabhängig davon, was wir in Deutschland machen oder nicht machen -: 40 bis 50 Prozent der Kraftwerkskapazitäten, die weltweit neu gebaut werden, sind Kohlekraftwerke. Da das so ist und auf absehbare Zeit so bleiben wird, sage ich Ihnen: Dafür sollten wir am besten unsere eigene Technologie zur Verfügung stellen. Aber Sie wollen, dass diese Technologie weder in Deutschland noch anderswo auf der Welt zum Einsatz kommt. Insofern ist das, was Sie tun, unredlich. Das passt vorne und hinten nicht zusammen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Noch einmal zu den CO2-Emissionen. Sie fordern einen planwirtschaftlichen Eingriff in das System des Emissionshandels, einen Mindestpreis hier und Veränderungen dort. Sie wissen ganz genau, dass weder ein Kohleausstieg noch das EEG dazu führen, dass auch nur 1 Kilogramm oder 1 Gramm mehr CO2 eingespart wird.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ach ja?)
Entscheidend für die CO2-Einsparung in Europa ist der Emissionshandel. In diesem Rahmen wird festgelegt, wie hoch die Emissionen im Industriebereich und im Stromerzeugungsbereich maximal sein dürfen. Das ist vereinbart, und das ist geltende Gesetzeslage. Sie wollen in dieses System planwirtschaftlich eingreifen, statt zu sagen: Wir brauchen eine Gesamtrevision und ein neues Marktdesign, bei dem alle Aspekte - die Förderung der Erneuerbaren, der Emissionshandel, die konventionellen Kraftwerke und KWK - aufeinander abgestimmt sind. Dazu sagen Sie kein Wort. Das ist nicht nur unredlich, sondern völlig daneben, auch in der Sache. Da wird überhaupt nichts funktionieren.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wovon reden Sie?)
Ihr Problem ist: Sie haben eine Pippi-Langstrumpf-Mentalität; Sie verstehen nichts von der Sache und sind nicht bereit, die Zusammenhänge zu akzeptieren.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU ‑ Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie haben den Antrag offensichtlich nicht gelesen!)
Dann fordern Sie auch noch Änderungen beim Bergrecht, da das Bergrecht angeblich zu alt sei. Wenn Sie so denken, dann können Sie auch gleich die Abschaffung des BGB fordern, schließlich ist das BGB aus dem Jahr 1900. Es ist aber ständig modernisiert worden. Gleiches gilt für das Bergrecht. Deutschland hat eines der modernsten Bergrechte der Welt.
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)
Unser Bergrecht hat sich bewährt und ist aufgrund der Anforderungen der EU ständig weiterentwickelt worden. Sie wollen aber gar kein modernes Bergrecht.
Sagen Sie doch einmal, was Sie wollen. Wir wissen nur, was Sie nicht wollen: Sie wollen kein Gas und keine Kohle importieren; Sie wollen die heimischen Rohstoffe nicht abbauen; Sie wollen keinen Bergbau mehr in Deutschland. ‑ Genau da liegt das Problem. Das ist ein schwerer Fall von Aussteigeritis.
(Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie sind ein schwerer Fall!)
Alle Technologien passen Ihnen nicht. Sie zeigen den Menschen Luftschlösser, indem Sie einzelne Themen herausgreifen, die aber nicht zusammenpassen. Sie wollen aus der Kohle- und aus der Gasförderung aussteigen, Sie wollen kein Freihandelsabkommen, und auch Fracking wollen Sie nicht zulassen. Mit Ihrer Aussteigeritis gefährden Sie den Industrie- und Investitionsstandort Deutschland.
(Beifall bei der CDU/CSU - Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist doch alles Quatsch!)
Wir brauchen die Kohle in Deutschland so lange, bis sichergestellt ist, dass die Energieversorgung auch hinsichtlich der zugesicherten Leistung und der Bezahlbarkeit durch andere Technologien erfolgen kann. Sie dagegen wollen am liebsten aus der Realität aussteigen. Wir werden einen solchen Weg nicht zusammen mit Ihnen gehen,
(Beifall bei der CDU/CSU)
sondern werden den Industrie- und Wirtschaftsstandort Deutschland so weiterentwickeln, dass wir eine sichere, saubere und bezahlbare Energieversorgung bekommen, ohne unseren Standort, wie es ihre Vorschläge bewirken würden, kaputtzumachen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenig Beifall in den eigenen Reihen!)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Vielen Dank. ‑ Für die Linke spricht jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter.
(Beifall bei der LINKEN)
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Energiewende und Klimawandel haben einen mächtigen Gegner: die Braunkohleindustrie, die derzeit boomt wie nie. Braunkohlekraftwerke sind ein überkommenes Relikt aus dem fossilen Energiezeitalter. Wir müssen die Verstromung von Kohle so schnell wie möglich überwinden, wollen wir unseren Kindern nicht eine zerstörte Welt hinterlassen. Wenn ich sage „schnell“, dann heißt das für uns: 2040 ist Schluss. Dazu haben auch wir einen Antrag eingebracht.
(Beifall bei der LINKEN)
Im vergangenen Jahr sind in Deutschland so viele Kilowattstunden Strom aus Kohle erzeugt worden wie seit 20 Jahren nicht mehr. Kohlestrom stößt mehr CO2 aus als jeder andere Energieträger; das ist hier unbestritten. Es ist völlig falsch, dass ausgerechnet die Kohle, der schmutzigste Energieträger, solch einen großen Erfolg feiert, in einer Welt, in der wir uns abmühen, den Klimawandel in den Griff zu bekommen. Daran ändern auch die neuesten Zahlen nichts, die besagen, dass der Anteil der Kohle im letzten Halbjahr etwas zurückgegangen ist.
Kohlestrom ist billig, aber nur, weil seine immensen Folgekosten für Gesundheit und Natur nicht in den Preis mit einfließen; das sagt Herr Pfeiffer leider nicht. Billig ist er auch deshalb, weil alte Kohlekraftwerke, die die meisten Schadstoffe ausstoßen, jetzt viel profitabler sind als schadstoffarme Gaskraftwerke. Das beweist auch die Tatsache, dass es im ersten Halbjahr einen Produktionsrückgang bei Gaskraftwerken um 25 Prozent gegeben hat. Das ist wahnsinnig viel. Das müssen wir ändern.
(Beifall bei der LINKEN)
Der schmutzige deutsche Braunkohlestrom flutet auch das europäische Ausland. Auch dort beschwert man sich darüber.
Die Kosten für den Kohlestrom tragen die Menschen. Die gesundheitlichen Folgen wegen Quecksilberbelastung, Atemwegs- und Kreislaufbeschwerden, verkürzte Lebenszeit, die Kosten für die Vertreibung aus der Heimat wegen Braunkohletagebauen, die Zerstörung riesiger Naturflächen ‑ all diese Kosten tragen wir, die Bürgerinnen und Bürger.
Ich habe das Gefühl, dem Kartell der Kohlelobby ist das egal. Das finde ich sehr schade.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Vertreter der Kohleindustrie sitzen überall mit drin ‑ auch hier im Deutschen Bundestag ‑ und reden und entscheiden mit.
Eigentlich sollte der Emissionshandel den CO2-Ausstoß über hohe Preise ja verringern. Dieser Plan ist leider völlig misslungen. Der Emissionshandel ist kläglich gescheitert. Als Folge von Fehlentscheidungen gibt es enorme Überschüsse an CO2-Zertifikaten, wodurch der Preis in den Keller gefallen ist. Eine Tonne CO2-Ausstoß kostet derzeit unter 5 Euro. Im Grunde genommen müsste die Tonne CO2-Ausstoß aber mindestens 60 bis 80 Euro kosten, wenn der Emissionshandel den Betrieb von Kohlekraftwerken ernsthaft infrage stellen soll.
(Beifall bei der LINKEN)
Jetzt will man den Emissionshandel reparieren, indem man einen Teil dieser Überschüsse vom Markt nimmt. Aber selbst wenn die Reform gelingt, werden immer noch zu wenige Zertifikate herausgenommen. Die Versuche, den Emissionshandel wiederzubeleben, werden ihn leider nicht mehr retten. Der Patient Emissionshandel ist klinisch tot.
Nehmen wir einmal an, es würde tatsächlich gelingen, den Preis für eine Tonne CO2 auf jene 60 bis 80 Euro zu treiben, damit die Braunkohle hierzulande irgendwann vom Markt gedrängt wird. Was wären die Folgen, wenn wir solche enorm hohen CO2-Kosten erzwingen würden? Das käme der Umwelt sehr zugute, aber die Verbraucherinnen und Verbraucher würde das über den Strompreis teuer zu stehen kommen, und das wollen wir ja alle miteinander nicht.
Wie kommen wir aus dieser Zwickmühle heraus? Die Bundesregierung will den CO2-Ausstoß bis 2040 um 60 Prozent reduziert haben. Wir sagen: Bis zu diesem Datum muss es ein definitives Ende der Kohleverstromung geben.
(Beifall bei der LINKEN)
Es ist ein Gebot der Stunde, so schnell wie irgend möglich aus der Kohleverstromung auszusteigen. Das ist nicht sofort möglich; das ist klar. Wir brauchen aber jetzt ein Kohleausstiegsgesetz mit einem ambitionierten Ausstiegsfahrplan.
(Jens Koeppen (CDU/CSU): Was sagt denn der Wirtschaftsminister von Brandenburg dazu?)
Anders bekommen wir diesen Rückwärtsgang nicht in den Griff.
Wir wollen den Kohleausstieg vom Ende her denken und schlagen Folgendes vor ‑ bitte hören Sie zu ‑: kein Neubau von Kohlekraftwerken, kein Neuaufschluss von Tagebauen, Stilllegung des letzten Kohlekraftwerks spätestens 2040,
(Beifall bei der LINKEN)
ab 2015 jährliche Begrenzung der Strommengen aus Kohlekraftwerken, ineffiziente Kraftwerke früher abschalten als effizientere, Übertragung von Reststrommengen auf jüngere, effizientere Anlagen zulassen.
Auch das ist wichtig: Der Kohleausstieg muss arbeitsmarkt- und sozialpolitisch flankiert werden. Mit den Betriebsräten vor Ort muss eine Regelung getroffen werden, mit der alle Beschäftigten in diesem Bereich zukünftig leben können.
(Jens Koeppen (CDU/CSU): Was sagt denn der Wirtschaftsminister von Brandenburg dazu? Er sagt doch genau das Gegenteil!)
Dafür sind Konversionsprogramme und eine soziale Absicherung notwendig.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich verstehe die Angst der Kohlekumpel. Das ist mir als Betriebsrätin doch nicht fremd. Wichtig ist, dass sich alle darauf einstellen können.
Ich meine, es wird langsam Zeit, diesen wichtigen Schritt in verantwortungsvoller Weise zu tun. Das ist im Sinne des Klimas wirklich notwendig. Beweisen Sie, dass Sie nicht am Tropf der Kohlelobby hängen und dass Ihnen die Gesundheit, die Umwelt und das Klima wichtiger sind als die Profite der Kohleindustrie. Ich denke, wir sollten uns von den Relikten des vergangenen Jahrhunderts trennen ‑ für zukünftige Arbeitsplätze im Bereich der regenerativen Energien und in vielen anderen Bereichen mit Perspektive und mit guten Löhnen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Die Leute, die vor Ort arbeiten, sind sehr qualifiziert. Hier können wir Qualifikationsprogramme und Strukturprogramme durchführen. Das ist dringend notwendig; denn sonst gibt es Probleme.
(Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Toll!)
Natürlich wird es immer Probleme geben. Aber Sie wollen nicht nach vorne schauen, sondern sagen hier einfach Nein.
Danke.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Becker für die Sozialdemokraten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Dirk Becker (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Grünen! Ich meine es wirklich ernst: Ich habe mir sehr viel Mühe gemacht, Ihren Antrag und auch den Antrag der Linken zu lesen, weil ich weiß, dass das Thema Klimaschutz für Sie ausgesprochen wichtig ist.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Für Sie nicht?)
- Für uns auch. Darum habe ich es ja gemacht.
In dem Antrag habe ich ein paar Punkte entdeckt, bei denen ich gedacht habe: Das werden wir in den nächsten Jahren ernsthaft diskutieren müssen. Das wussten wir aber schon länger. Es tut mir leid, sagen zu müssen: Die Art und Weise, wie Sie dieses Thema versemmeln - Sie versuchen nur, der Regierung irgendetwas um die Ohren zu hauen -, finde ich schade und dem Thema nicht angemessen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Ich finde auch: Es ist ein bisschen grenzwertig, wenn Sie beispielsweise auf Großbritannien und dessen Rolle im Zusammenhang mit der Kohleverstromung verweisen und dabei verschweigen, dass in Großbritannien neue Atomkraftwerke gebaut werden. Ich finde, auch das ist nicht so ganz glaubwürdig.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Ich will nur für all die, die den Antrag nicht gelesen haben, die Frage stellen: Gibt es bei den Grünen das Ziel, die gemeinsam vereinbarten Treibhausgasminderungspotenziale im Hinblick auf 2050 vorzuziehen? Dieses Ziel gibt es nicht. In Ihrem Antrag steht: Es bleibt bei der Vereinbarung, bis 2050 eine Reduktion der Treibhausgase um 80 bis 95 Prozent zu erreichen.
Wenn Sie hätten glaubwürdig bleiben wollen, hätten Sie sagen müssen: Wir wollen schneller aus der Kohleverstromung aussteigen, um das genannte Ziele nicht 2050, sondern schon 2045 oder 2040 zu erreichen. - Das machen Sie aber nicht. Das heißt, Sie bleiben bei genau diesen Vereinbarungen.
(Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es gibt diese Vereinbarung gar nicht, Herr Becker!)
Das ist nach meiner Einschätzung etwas problematisch.
Das Gleiche gilt für die Linksfraktion. Die Linksfraktion hat immerhin gesagt: Wir haben das Ziel, bis 2040 aus der Kohleverstromung auszusteigen. - Das heißt also: Die Linke will zehn Jahre, bevor die genannten Treibhausreduktionen erreicht werden sollen, aus der Kohleverstromung aussteigen. Das Problem ist aber auch hier: Sie wollen zwar bis 2040 aus der Kohleverstromung aussteigen, bleiben aber bei der Gesamtstrategie, bis 2050 die Treibhausgasemissionen um 80 bis 95 Prozent zu reduzieren. Das heißt, Sie hätten zwar dann weniger CO2-Emissionen aus der Kohleverstromung, aber die Gesamtmenge wollen Sie nicht reduzieren. Da fehlt eine schlüssige Systematik. Das ist nicht glaubwürdig. - Frau Baerbock möchte eine Zwischenfrage stellen.
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Ich bitte darum, abzuwägen: Wenn wir Zwischenfragen zulassen, wird die Debatte auf der einen Seite natürlich sehr lebendig, auf der anderen Seite wird aber die Sitzungsdauer verlängert. Die Sitzungsleitung hat angesichts einer sehr ambitionierten Tagesordnung die Möglichkeit, Zwischenfragen nicht zuzulassen. Davon möchte ich jetzt Gebrauch machen, damit wir zügig weiterkommen.
(Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Moderation war länger als die Frage!)
Dirk Becker (SPD):
Mit Blick auf die Fraktion der Grünen habe ich die Bitte, dass wir uns mit dieser Thematik einmal ernsthaft auseinandersetzen. Ich habe nach der sehr emotionalen Debatte über die Reform des EEG, die ich nachvollziehen kann, die Hoffnung: Es ist jetzt wirklich an der Zeit, dass wir uns mit dem gesamten energiepolitischen Umbau, der jetzt mit der Energiewende zwingend kommen muss, intensiver und fundierter auseinandersetzen; denn auf viele Fragestellungen haben wir alle noch keine schlüssige Antwort.
Nach der Sommerpause, Frau Baerbock, wird die prinzipielle energiepolitische Diskussion kommen: Wie sieht das Marktdesign aus? Was brauchen wir vor dem Hintergrund von Versorgungssicherheit und von Netzstabilität?
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da kommt nichts!)
Wie gehen wir mit der Struktur der deutschen Energieversorgung grundsätzlich um?
Eines ist klar und unstrittig: Wir wollen und brauchen den Erfolg dieser Energiewende, weil wir unsere Klimaschutzziele einhalten wollen, aber auch, weil die Minimierung unserer Abhängigkeit, insbesondere von Energieimporten, ein Akt und ein Gebot der volkswirtschaftlichen, der ökonomischen Vernunft ist. Darum wollen wir den Erfolg dieser Energiewende bis 2050.
(Beifall bei der SPD)
Es gibt für diese Energiewende weltweit kein Vorbild. Das macht es sehr schwierig, herauszufinden, welcher Weg richtig ist. Was aber nicht geht, ist, dass wir weiterhin eine fragmentierte Energiepolitik machen: gestern die Reform des EEG, jetzt das Kohleausstiegsgesetz, morgen dies und übermorgen jenes. Ich bin dem Wirtschafts- und Energieminister ausgesprochen dankbar, dass er diese Woche einen Fahrplan, eine Zehn-Punkte-Agenda vorgelegt hat, mit der erstmals die Energiewende insgesamt strukturiert und systematisiert wird. Es wird so für alle nachvollziehbar, welche Probleme jetzt zu lösen sind und was bis zum Ende der Legislaturperiode vorliegen muss, damit die Energiewende Erfolg hat.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es gibt aber auch Fehlentwicklungen ‑ wir haben das gehört ‑: Die Strompreisentwicklung und die Entwicklung der CO2-Zertifikatspreise sind anders verlaufen, als es noch vor wenigen Jahren prognostiziert worden war.
Sie haben Frau Hendricks angesprochen, die gefordert habe, 2 Milliarden Zertifikate aus dem Markt zu nehmen. Außerdem habe sie ein Vorziehen der Einführung der Marktstabilitätsreserve auf 2017 ins Spiel gebracht. Sie haben dabei den Eindruck erweckt, das sei gegen die Meinung des Wirtschaftsministeriums erfolgt.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Rausgekommen sind nur 900 Millionen!)
Ich würde Sie bitten, sich einmal die Pressemitteilung anzugucken, die von Sigmar Gabriel und von Frau Hendricks war. Ich sage das nur deshalb, damit kein falscher Eindruck hängenbleibt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber sie hat im Ausschuss etwas anderes gesagt!)
Darüber hinaus haben sich auch die Börsenstrompreise in Deutschland teils drastisch reduziert. Sie alle kennen das. Im Prinzip ist man ja immer ein Freund fallender Preise, aber in diesem Fall führt das leider zu fatalen Fehlentwicklungen.
Durch diese fallenden Preise steigen die Kosten für die hocheffizienten, modernen Kraftwerke, für die KWK-Anlagen, während neben den erneuerbaren Energien insbesondere sehr günstige, aber auch ineffiziente Anlagen mit einem hohen CO2-Ausstoß die Stromproduktion sicherstellen.
Hier brauchen wir uns nichts vorzumachen: Auch der Minister hat mehrfach gesagt, wenn es bei dieser Entwicklung bleibt, kriegen wir insgesamt ein Akzeptanzproblem mit der Energiewende. Daher müssen wir Maßnahmen ergreifen, um hier gegenzusteuern.
Ich sage noch einmal ausdrücklich mit Blick auf die Grünen und auch mit Blick auf die Linkspartei: Wir stehen zu dem gemeinsamen Ziel der Reduktion der CO2-Emissionen bis zum Jahr 2050.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die steigen aber, statt zu sinken!)
Und ich sage auch ausdrücklich: Wenn man eine Reduktion der CO2-Emissionen um 80 bis 95 Prozent bis 2050 will, erfordert das im Klartext die vollständige Dekarbonisierung der Stromversorgung.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann darf kein Kohlekraftwerk mehr laufen! Genau darum geht es! - Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist unser Vorschlag!)
Das ist völlig unstrittig.
Ich möchte, wenn ich darf, Herr Präsident, einmal kurz aus einer Drucksache aus der letzten Legislaturperiode zitieren. Es heißt dort:
Im Sinne einer effizienten Ausnutzung fossiler Brennstoffe muss bis zur Erreichung des Ziels der Vollversorgung aus Erneuerbaren Energien eine Modernisierung des konventionellen Kraftwerksparks unter Erreichung höchstmöglicher Wirkungsgrade erfolgen. ... Hierzu werden über Instrumente, wie des Immissionsschutzgesetzes, die gesetzlichen Anforderungen an die Wirkungsgrade so anzupassen sein, dass Kraftwerke, die nicht dem aktuellen Stand der Technik entsprechen ‑ ‑
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist unser Antrag!)
- Was ist das?
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist entweder euer oder unser Vorschlag!)
- Ja, Sie haben in der Tat recht. Das ist ein Zitat aus dem Energiekonzept der SPD-Bundestagsfraktion aus dem Jahr 2011.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber ihr macht es nicht!)
Da Sie sagen, Sie hätten hier das Rad neu erfunden, sage ich Ihnen:
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sagen wir doch gar nicht!)
Bereits 2011 haben wir darüber gesprochen. Wenn Sie jetzt wieder mit dieser Märchenstunde kommen, wir würden nichts machen, dann muss ich Sie darauf hinweisen, dass ich gerade erwähnt habe, dass ab Herbst die Debatte über diese Punkte beginnen wird. Sie haben doch auch vom Bundeswirtschaftsminister die Agenda bekommen, dass ein Grünbuch erstellt werden wird, dass wir uns in einem sehr intensiven, ernsten Prozess mit all diesen Fragen, auf die wir die Antwort heute noch nicht abschließend kennen, auseinandersetzen wollen.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Grünbuch! Weißbuch! Ihr müsst etwas machen!)
Hören Sie jetzt bitte einmal auf, hier immer zu sagen, wir machten nichts. Nehmen Sie zur Kenntnis: Die Arbeitsagenda liegt vor, und bringen Sie sich bitte sachlich in die Diskussion ein.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Uns liegt daran, Versorgungssicherheit, Netzstabilität, die klimapolitischen Ziele,
(Zuruf der Abg. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
aber auch das Thema Preisstabilität zusammenzubekommen. Ich lade Sie wirklich ein: Lassen Sie sich dann mit uns auf eine sachliche Debatte ein!
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich weiß, die letzten Tage und Wochen waren auch aus anderen Gründen für manche emotional sehr schwierig. Das liegt auch an der EEG-Debatte. Ich wünsche uns allen ein bisschen Zeit für Ruhe, um dann vielleicht auch wieder Kraft für eine sachliche Debatte zu tanken.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Vielen Dank. ‑ Ich darf insbesondere anmerken, dass Sie sehr vorbildlich mit der Redezeit umgegangen sind. ‑ Jetzt spricht der Kollege Andreas Jung von der CDU/CSU.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Andreas Jung (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem in dieser Debatte schon die eine oder andere Zahl umstritten war, will ich eine Zahl vorwegstellen, die ‑ wie ich hoffe ‑ unumstritten sein wird, weil sie nämlich vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme kommt. Dieses Institut hat in diesen Tagen wieder einmal berechnet, welche Energiequelle am meisten zum deutschen Strommix beiträgt. Das war bis zum Jahr 2007 die Kernenergie. 2007 wurde die Kernenergie von der Braunkohle abgelöst. Bis zum gesamten letzten Jahr blieb es dabei, dass die Braunkohle am meisten zum Strommix beitrug. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres haben die erneuerbaren Energien zum ersten Mal die Braunkohle überholt. Sie trugen rund 81 Terawattstunden zum Energiemix bei, während die Braunkohle rund 69 Terawattstunden beitrug. Die erneuerbaren Energien sind nun Tabellenführer im deutschen Strommix. Darüber sollten wir uns erst einmal gemeinsam freuen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deswegen kann die Kohle auch schrittweise rausgehen!)
Das zeigt im Übrigen, dass wir bei allen berechtigten und notwendigen Debatten über den richtigen Weg bei der Förderung der erneuerbaren Energien vorankommen und dass die erneuerbaren Energien Schritt für Schritt die tragende Säule in unserem Energiesystem werden. Die heutige Debatte dient dazu, die Frage zu klären, wie wir auf diesem Weg vorankommen. Warum machen wir das eigentlich? Die Förderung der Erneuerbaren ist kein Selbstzweck, sondern hat letztlich eine dienende Funktion. Sie dient der Sicherstellung der Stromversorgung der Wirtschaft und der Privathaushalte. Dabei werden keine neuen Risiken eingegangen wie beispielsweise beim Fracking, das es erforderlich macht, Chemikalien in den Boden zu pumpen. Wir werden im Herbst diesbezüglich ein konsequentes Gesetz verabschieden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD ‑ Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da bin ich mal gespannt! - (Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wollen wir hoffen!)
Die Förderung der Erneuerbaren führt dazu, dass wir Schritt für Schritt auf die Kernenergie verzichten und die Risiken des Umgangs mit radioaktivem Material ausschließen können und dass wir unseren CO2-Ausstoß, also den Ausstoß an Treibhausgasen, reduzieren können. Die Bestandsaufnahme zeigt, dass wir das erste Ziel erreichen, den zurückgehenden Anteil der Kernenergie in vollem Umfang durch den aufwachsenden Anteil der Erneuerbaren zu ersetzen, dass wir aber das zweite Ziel noch nicht erreichen, den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Dieser steigt im Moment. Warum ist das so? Das liegt daran, dass Gaskraftwerke durch Kohlekraftwerke vom Markt verdrängt werden. Das ist erst einmal die Analyse.
Nun stellt sich die Frage, woran das liegt. Es liegt nicht an der deutschen Gesetzgebung ‑ es ist mir wichtig, das zu sagen ‑, sondern maßgeblich am Emissionshandel der Europäischen Union,
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und da hat Deutschland nicht mitgewirkt?)
der zurzeit schwächelt bzw. daniederliegt. Dabei kann es nicht bleiben. Hier muss repariert und verändert werden. Wir brauchen eine nachhaltige und zeitnahe Reform des europäischen Emissionshandels.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Wenn wir das nicht schaffen, wird die Vorreiterrolle, die die EU und insbesondere Deutschland im Klimaprozess einnehmen, infrage gestellt. Auf den Klimakonferenzen schaut man bislang mit Respekt auf Deutschland und erkennt unsere Rolle an. Auf Dauer wird das aber gefährdet werden, wenn unser CO2-Ausstoß steigt.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dirk Becker (SPD))
Um unsere Rolle beibehalten zu können, müssen wir in Europa dieses Problem lösen. Dabei ist der Emissionshandel das Herzstück.
Ich bin froh ‑ der Kollege Becker hat das bereits angesprochen ‑, dass es eine abgestimmte Position der Bundesregierung gibt, die auf die Entscheidungen, die wir schon getroffen haben, raufsetzt. Wir alle wissen, dass wir lange ‑ ich sage: zu lange ‑ um die Entscheidung zum Backloading gerungen haben. Es war aber diese Bundesregierung, die schon in den ersten Tagen die Entscheidung getroffen hat, eine erste Reparatur beim Emissionshandel vorzunehmen. Was ist das Problem? Im Rahmen des Emissionshandels gibt es so viele Zertifikate, dass die Preise in den Keller gefallen sind.
(Beifall der Abg. Barbara Lanzinger (CDU/CSU))
Zuerst ist man von 30 Euro und dann von 17 Euro ausgegangen. Nun liegt der Preis zwischen 4 und 6 Euro, also in Regionen, die dazu führen, dass Braunkohlekraftwerke rentabel und Gaskraftwerke unrentabel werden. Woran liegt das? Das liegt daran, dass von Anfang an viele Zertifikate auf dem Markt waren. In der Wirtschaftskrise ist dann die Produktion eingebrochen. Damit ging der CO2-Ausstoß automatisch zurück. Gleichzeitig ist aber die Anzahl der Zertifikate gleich geblieben. Seitdem gibt es eine Bugwelle, die wir vor uns herschieben. Deshalb kann ein Eingriff in den Emissionshandel nur die Ultima Ratio sein, das letzte Mittel; denn das ist ein marktwirtschaftliches System, das von Verlässlichkeit lebt.
Aber wann, wenn nicht in dieser Situation und bei solchen CO2-Preisen, ist es Zeit und notwendig, von einer solchen Ultima Ratio zu sprechen? Deshalb bin ich der Meinung, dass die Entscheidung, mit dem Backloading zunächst einmal Zertifikate vom Markt zu nehmen, richtig war. Ich begrüße es, dass die Bundesregierung sagt: Wir müssen jetzt einen Schritt weiter gehen. Wir begrüßen den Vorschlag, den die EU für die Marktstabilitätsreserve gemacht hat, nämlich die Anzahl der Zertifikate flexibel an die wirtschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Ich begrüße es, dass die Bundesregierung sagt, dass das früher als 2020 geschehen muss; es muss in den nächsten Jahren passieren, weil die Zeit drängt und das maßgeblich für den CO2-Ausstoß innerhalb der Europäischen Union ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Ich lade alle ein, dass wir gemeinsam darum ringen, weil in der Europäischen Union diese Diskussion noch nicht ausgetragen ist. Dort wird die Entscheidung getroffen, da werden die maßgeblichen Beschlüsse gefasst. Wir können natürlich darüber diskutieren, wie wir diese Maßnahme flankieren. Wir werden im Herbst über Kapazitätsmärkte sprechen. Ich will sehr dafür werben, dass wir dabei insbesondere die Versorgungszeit in den Blick nehmen, also fragen, welche Kraftwerkskapazitäten wir brauchen, um eine sichere Versorgung mit Energie sicherzustellen, dass wir aber gleichzeitig fragen, welchen Beitrag diese Kapazitäten zur Energiewende leisten und welche Rolle sie beim CO2-Ausstoß spielen. Das ist sicherlich eine der Debatten, die wir ergänzend, neben der Debatte über das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz, hier auf nationaler Ebene führen können.
Ich möchte noch hinzufügen, dass, wenn wir über den CO2-Ausstoß in Deutschland sprechen, der Energieerzeugung eine wichtige Bedeutung zukommt, aber eben nicht die alleinige Bedeutung. Deshalb halte ich es auch für richtig, dass die Bundesregierung in diesem Jahr ein Sofortprogramm Klimaschutz angekündigt hat, mit dem die Lücke, die auf dem Weg zur Erreichung unseres 2020-Ziels noch besteht, geschlossen werden kann, und dass dabei die ganze Breite der Sektoren in den Blick genommen werden soll.
Ich will ausdrücklich dazusagen, dass die Haltung unserer Fraktion ist, dass ein besonderer Schwerpunkt auf Energieeffizienz gelegt werden soll. Am besten ist es, Energie erst gar nicht zu verbrauchen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Es kann nicht darum gehen, dass man, wenn man in der Badewanne sitzt, noch weiter Wasser einlaufen lässt und dabei weniger umweltfreundliche Energie durch umweltfreundlichere Energie ersetzt, sondern am besten ist es, wenn überhaupt keine Energie verloren geht, und das bedeutet, den Stöpsel in die Badewanne zu stecken. Deshalb sind wir für Energieeffizienz.
Wir glauben, dass ein besonderer Schwerpunkt der Gebäudebereich sein muss. Ich will ausdrücklich dafür werben, dass wir die öffentlichen Gebäude in den Blick nehmen, den Sanierungsfahrplan verbessern und den Prozess beschleunigen. Wir sollten aber auch darüber nachdenken, wie wir ohne Zwang im privaten Gebäudebereich mehr Anreize schaffen können, um in diesem Bereich, den wir alle im Übrigen schon seit vielen Jahren als schlafenden Riesen bezeichnen, schneller voranzukommen.
Dazu muss der Nationale Energieeffizienz-Aktionsplan, den wir im Koalitionsvertrag verabredet haben, mit Leben gefüllt werden. Es wird die Frage sein, welchen Beitrag jeder dazu leisten kann. Da geht es auch um Unternehmen, die mit Energiemanagementplänen weitere Beiträge leisten können. Energieeffizienz ist ein besonders wichtiges Thema, und da wollen wir uns kraftvoll einbringen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Zuletzt will ich die Mobilität ansprechen. Wir müssen uns auf den Weg machen, um zu einer nachhaltigen Mobilität zu kommen. Ich halte das Ziel der Bundesregierung, die Elektromobilität voranzubringen, für richtig. Ich halte es für notwendig, dass wir entsprechende Maßnahmen auf den Weg bringen. Das soll ebenfalls in diesem Herbst mit dem Elektromobilitätsgesetz passieren. Wir sind auf dem richtigen Weg, weil für uns der Schwerpunkt Forschung und Entwicklung ist. Jetzt geht es aber auch darum, wie wir den einen oder anderen Anreiz setzen können, um die Hürde, die es noch gibt, um ein Elektroauto zu erwerben, überwinden zu können. Auch diese Diskussion steht jetzt an. Die werden wir führen. Für die Union gilt: Wir werden uns kraftvoll einbringen.
Wir stehen hinter den Klimaschutzzielen, die wir, national wie europäisch, vereinbart haben und die wir auf der Klimakonferenz durchsetzen wollen. Wir werden durch die Weichenstellungen, die wir national vornehmen und auf europäischer Ebene beeinflussen können, alles dafür tun, dass die Klimakonferenz in diesem Jahr in Lima und vor allem im nächsten Jahr in Paris zu einem Erfolg wird. Der Klimawandel schreitet voran. Er hat schon jetzt dramatische Auswirkungen. Die Weltgemeinschaft muss jetzt handeln, um diesen Prozess zu stoppen. Dabei haben wir eine besondere Verantwortung, und der wollen wir gerecht werden. Deshalb machen wir uns auf diesen Weg.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD - Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann mal los!)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Der Kollege Hubertus Zdebel spricht jetzt für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Hubertus Zdebel (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Fraktion Die Linke hat für die heutige Plenarsitzung einen Antrag auf ein Kohleausstiegsgesetz vorgelegt. Infolge eines solchen Gesetzes könnte - zumindest fordern wir das - spätestens 2040 das letzte deutsche Kohlekraftwerk vom Netz gehen.
(Beifall bei der LINKEN)
Warum legen wir zur heutigen Plenarsitzung einen solchen Antrag vor? Für einen erfolgreichen Klimaschutz ist ein Ausstieg aus der Kohleverstromung unserer Meinung nach unerlässlich. Diese Meinung teilt auch der Vorsitzende des Sachverständigenrates für Umweltfragen, Martin Faulstich. Gegenüber der Zeit sagte er am 4. Mai mit Blick auf die Bundesregierung - ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten -:
Wenn sie den Klimaschutz wirklich ernst nimmt, dann kommt sie aber am Kohleausstieg nicht vorbei.
In Deutschland existiert schon seit längerem, gerade was die Frage der Treibhausgase angeht, eine Lücke bei der Erfüllung des Minderungsziels. Seit 2010 steigen die Treibhausgasemissionen in Deutschland sogar wieder. Sie alle wissen, dass den größten Anteil an diesem Anstieg die emissionsintensive, aber betriebswirtschaftlich preiswerte Braunkohleverstromung hat. Nach wie vor stammen 25 Prozent der in Deutschland erzeugten Elektrizität aus der Braunkohle.
Vor diesem Hintergrund sagen wir: Damit muss endlich Schluss sein.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir sind bis zu einem bestimmten Grade aus der Atomkraft ausgestiegen - noch nicht ganz; es wird in Deutschland nach wie vor Atomstrom produziert. Als Nächstes müssen wir meines Erachtens vor allen Dingen aus der dreckigen Braunkohleverstromung aussteigen, um in Deutschland die Energiewende hinzubekommen.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich weiß, wovon ich rede. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen, wo es Garzweiler II gibt. Vor diesem Hintergrund denke ich, dass es absolut an der Zeit ist - nicht nur aus Gründen des schmutzigen oder sauberen Stroms, sondern auch mit Blick auf die Landschaftsfragen -, aus dieser Form der Energiegewinnung endlich auszusteigen.
Klimaforscher wie der ehemalige NASA-Direktor James Hansen gehen davon aus, dass schon die bislang ausgestoßenen Treibhausgase eine 2-Grad-Erwärmung auslösen könnten. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt der Weltklimarat in seinen Studien. Mit Planeten lassen sich allerdings keine Kompromisse ausverhandeln. Deswegen sagen wir: Es muss Schluss damit sein, dass Klimaschutzziele im Interesse der Stromkonzerne und der energieintensiven Industrie mit Füßen getreten werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Wer den Klimaschutz ernst nimmt, muss endlich auf die Klimaforschung hören. Die Wissenschaft spricht eine deutliche Sprache. Für halbherzige Klimaschutzmaßnahmen ist keine Zeit mehr.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vor diesem Hintergrund ist die völlig verfehlte Änderung des EEG - das wird heute noch Thema sein - eine Katastrophe. Die Koalition hat das in seiner ursprünglichen Form so erfolgreiche EEG zerstört. Über das Ergebnis kann sich die Kohlelobby nur freuen. Durch die Befreiung von der EEG-Umlage sparen die Tagebaue 250 Millionen Euro, die Braunkohlekraftwerke 630 Millionen Euro. Das besagt eine Studie des BUND, die vor einigen Wochen bei einer Anhörung des Umweltausschusses vorgestellt wurde.
Damit gefährdet die Bundesregierung nicht nur die Energiewende in Deutschland, sondern auch die auf internationaler Ebene. Denn Deutschland hat - besser formuliert wäre vielleicht: hatte - in dieser Frage eine Vorreiterrolle. Dass die Bundesregierung die Energiewende hierzulande ausbremst, ist Wasser auf die Mühlen der Energiewendegegner anderswo in der Welt. Auch diese Zusammenhänge müssen klar werden.
Sie haben gerade zu Anfang der Diskussion im europäischen Sektor auf einige Widersprüchlichkeiten, was die Energiepolitik angeht, aufmerksam gemacht. Ich bin ganz bei Ihnen, wenn Sie zum Beispiel erwähnen, dass andere europäische Länder jetzt wieder verstärkt auf Atomkraft setzen und dass man bestimmte Entwicklungen in Europa nicht ausblenden darf.
(Beifall bei der LINKEN)
Das muss man meines Erachtens deutlich formulieren.
Ich bin sehr daran interessiert, mit Ihnen einen wirklich sachorientierten, konstruktiven Dialog darüber zu führen, wie eine Energiewendepolitik in Deutschland vor dem Hintergrund der allgemeinen weltwirtschaftlichen Entwicklung - Stichwort „Ressourcensicherheit“ - geführt werden kann. Damit habe ich gar keine Probleme. Allerdings müssen Sie auch tatsächlich dazu bereit sein, die Entwicklung hier in eine vernünftige Richtung zu lenken und Deutschland nicht die Vorreiterrolle zu nehmen, die es bisher hatte; denn dass es diese Rolle hat, ist sehr wichtig.
(Beifall bei der LINKEN)
Was wir im Moment erleben, ist eine Rolle rückwärts im Interesse der großen Konzerne, deren Börsenkurse in Gefahr waren. Dort liegt nach meiner Einschätzung der eigentliche Grund dafür, dass das EEG vor kurzem geändert worden ist. Eine Rolle rückwärts erleben wir in vielen Bereichen, gerade was die Braunkohleverstromung angeht. Einen Dialog über all das würde ich mit Ihnen ganz gerne einmal vertiefend führen wollen. Dazu ist heute leider keine Zeit; aber bei nächster Gelegenheit sollten wir das tun.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich will noch kurz auf die Emissionspreise eingehen. Wie bereits etliche betont haben, ist es so, dass es da aufgrund der viel zu hohen Anzahl an Zertifikaten, die auf dem Markt sind, dringend Änderungen bedarf, was das ganze Handelssystem angeht. Ich will zum Schluss Frau Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung zitieren. Sie hat vor kurzem gesagt:
Um Braunkohlestrom zu vermindern wären aber CO2‑Preise von 40 bis 50 Euro pro Tonne CO2 notwendig. Da dies eher unwahrscheinlich ist, muss man über flankierende Maßnahmen diskutieren. Das kann ein Kohleausstiegsplan sein …
Recht hat sie.
(Beifall des Abg. Ralph Lenkert (DIE LINKE))
Für einen solchen Kohleausstiegsplan setzen wir Linken uns auf jeden Fall ein, sei es in Brandenburg, sei es in Nordrhein-Westfalen oder sei es anderswo.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN - Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Brandenburg! Oh!)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege Matthias Miersch.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Dr. Matthias Miersch (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die Debatte hat gezeigt, dass wir hier mit einem sehr kontrovers diskutierten Thema beschäftigt sind. Es handelt sich um ein Thema, das letztlich zentrale Menschheitsfragen berührt. Wir machen das hier alles nicht zum Selbstzweck. Ich glaube, wir erkennen alle an, dass das, was wir augenblicklich erleben - den kontinuierlichen Anstieg der CO2-Emissionen und darüber hinaus viel gefährlicherer Gase -, dringend gestoppt werden muss. Ich glaube, da sind wir alle uns in diesem Haus einig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)
Wenn wir ehrlich miteinander umgehen, dann stellen wir fest, dass sowohl auf der internationalen Ebene wie auf der europäischen Ebene wie auf der nationalen Ebene - in diesem Parlament, aber auch, das sage ich ganz deutlich, innerhalb der einzelnen Fraktionen, innerhalb der einzelnen Parteien, in den Bundesländern, im Bundestag - unterschiedliche Konzepte existieren. Nach meiner Auffassung gibt es niemanden, der heute sagen kann: Wir haben ein Patentrezept, um diese große Menschheitsherausforderung tatsächlich in den Griff zu bekommen. Das festzustellen, gehört, finde ich, zur Ehrlichkeit einer solchen Debatte.
(Beifall bei der SPD - Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bestreitet niemand!)
Umso begrüßenswerter finde ich es, dass wir hier heute diese Debatte führen. Frau Baerbock, ich weiß nicht, ob ich die grünen Anträge in den Strandkorb ‑ wenn ich im Urlaub einen in Anspruch nehme ‑ mitnehme. Da die Bundesregierung diesbezüglich gerade Vorarbeiten leistet, bin ich mir sehr sicher, dass wir im Herbst darum ringen müssen, wie wir auf dieses Problem zumindest mit einer nationalen Antwort reagieren.
Ich will mich über die Ziele nähern und fragen, ob wir dort miteinander gehen können. Ich glaube, niemand kann mit der heutigen Situation, wie wir sie vorfinden, zufrieden sein. Niemand darf damit zufrieden sein, dass hocheffiziente Gaskraftwerke augenblicklich durch Kohlekraftwerke verdrängt werden. Das darf nicht sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich finde, es kann auch niemandem in diesem Hause recht sein, dass der europäische Emissionshandel und damit das, was wir durch ihn erreichen wollten, nämlich die Verteuerung von klimaschädlicher Energiegewinnung, am Boden liegt und der Energie- und Klimafonds praktisch leer ist. Auch das darf uns in diesem Haus nicht zufriedenstellen.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir dürfen auch nicht damit zufrieden sein, dass die CO2-Emissionen in Deutschland im vergangen Jahr gestiegen und nicht gesunken sind. Damit darf keiner in diesem Haus zufrieden sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich habe Sie aufmerksam beobachtet und gesehen, es haben irgendwie alle geklatscht.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Zuruf des Abg. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
- Jetzt müssen wir gucken, Herr Krischer, wie wir es von der Metaebene auf die konkrete Ebene kriegen. Ich bin mir sicher, dass wir über die eine oder andere Frage diskutieren müssen. Aber ‑ das will ich vorweg sagen ‑ es muss klar sein, dass wir Ökologie, Ökonomie und soziale Gerechtigkeit nicht gegeneinander ausspielen können und dürfen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU ‑ Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es wird immer unkonkreter! - Zuruf des Abg. Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE))
- Jetzt hören Sie doch erst einmal zu, und dann regen Sie sich auf! Aber ich komme gleich noch dazu.
Als Umweltpolitiker liegt mir daran, zu sagen: Der Gleichsatz dieser drei Werte geht nicht;
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt wird es noch philosophisch!)
denn die industrielle Überlebensfähigkeit in Deutschland und der soziale Ausgleich gehen nicht zusammen, wenn die Natur unwiderruflich zerstört wird.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr gut!)
Diese Sache müssen wir auch als Umweltpolitiker immer wieder berücksichtigen.
(Beifall der Abg. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und jetzt konkret!)
Jetzt, Herr Krischer, kommen wir zu der Frage, welche Antworten wir geben. Ich glaube, dass das Handeln der internationalen Staatengemeinschaft entscheidend ist. Das soll nicht heißen, dass wir auf nationaler Ebene nichts tun sollen.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Müssen!)
Aber wir brauchen auch die anderen. Mit dem Emissionshandel wurde ein System entwickelt, um mit marktwirtschaftlichen Instrumenten zu versuchen, diese Herausforderung in den Griff zu bekommen. Nach meiner persönlichen Auffassung müssen wir im Herbst in diesem Haus als Erstes darüber diskutieren, ob dieser europäische Emissionshandel überhaupt reanimierbar ist.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Richtig!)
Diese Grundsatzfrage, finde ich, müssen wir diskutieren.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wenn wir die Anträge von Linken und Grünen, die wir heute diskutieren, lesen, dann stellen wir fest, dass die Antworten von beiden Seiten unterschiedlich sind,
(Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Genau!)
also auch die Opposition unterschiedliche Wege vorschlägt, und darüber müssen wir diskutieren.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deswegen haben wir die Debatte hier!)
Ich glaube aber, Frau Baerbock und Herr Krischer, eines hat sich im Vergleich zu den letzten vier Jahren massiv geändert: Wir haben eine Bundesregierung, die nach Brüssel fährt und erstmals dort sagt: Der Emissionshandel geht so, wie er augenblicklich aufgestellt ist, nicht. ‑ Endlich gibt es eine deutsche Bundesregierung, die in Brüssel ambitioniert für die Reform wirbt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der SPD - Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wo? - Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das sehen wir aber nicht!)
Andere Länder sind anders unterwegs. Dazu muss man sehen, dass die Briten das locker machen können. Der Kollege Becker hat zu Recht darauf hingewiesen. Nur, der britische Weg, in die Atomkraft wieder einzusteigen, ist nicht unser Weg und darf nicht unser Weg sein!
(Beifall bei der SPD und der LINKEN - Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das hat ja auch niemand gesagt!)
Deswegen, finde ich ‑ da, lieber Kollege Pfeiffer, müssen wir wahrscheinlich noch alle zusammen miteinander ringen ‑, ist das, was Professor Edenhofer und andere vorschlagen, nämlich über CO2-Mindestpreise zu reden, eine Möglichkeit. Dies greifen die Grünen in ihrem Antrag ja auch auf. Wir müssen überlegen, Marktwirtschaft und ‑ Sie sagen jetzt: Planwirtschaft; ich sage: Ordnung ‑ Mindestpreise in irgendeiner Form zusammenzubringen; denn nur Markt bringt nichts. Das ist jedenfalls meine Überzeugung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Aber darüber hinaus werden wir uns die Frage stellen müssen, ob das ausreicht. Deswegen plädieren wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in unseren Energiekonzepten auch für eine Mehrwegestrategie. Ja, wir brauchen ein internationales Abkommen, spätestens in Paris im nächsten Jahr. Ja, wir brauchen europäische Antworten. Aber wir brauchen auch nationale Wege.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Genau! - Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das schlagen wir vor!)
Der Kollege Jung hat die Gebäudesanierung und die Mobilität angesprochen. Ich nenne noch die Landwirtschaft. Aber auch ordnungspolitische Maßnahmen sind zumindest zu diskutieren.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, das schlagen wir vor!)
Ich war bis vor kurzem ein Verfechter der CO2-Steuer. Nach der Rechtsprechung zur Brennelementesteuer muss ich allerdings sagen, dass das juristisch wohl nicht ganz einfach werden wird.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das stimmt!)
Deswegen werden wir uns nach meiner Auffassung auch über weitere ordnungsrechtliche Ansätze unterhalten müssen, wenn wir beispielsweise um Effizienzstandards von Kraftwerken ringen.
(Beifall des Abg. Dirk Becker (SPD) - Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Genau!)
Ich glaube, das wäre eine Maßnahme, die wir flankierend einsetzen könnten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der SPD - Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann können Sie unserem Antrag zustimmen! - Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann stimmen Sie doch zu!)
Wir werden darüber hinaus noch über ganz andere Maßnahmen reden, an denen Barbara Hendricks gerade im Rahmen der Nationalen Klimaschutzinitiative arbeitet. Wir werden auch darüber im Herbst diskutieren können. Da wird es eine Fülle von kommunalen, nationalen und Ländermaßnahmen geben, und wir werden die Frage stellen müssen, ob unser Ziel „40 Prozent Reduktion bis 2020“ mit diesen Maßnahmen erreicht wird.
Herr Krischer, dann werden wir um die einzelnen Maßnahmen miteinander ringen müssen. Sie haben einige genannt; Barbara Hendricks hat andere genannt. Ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, bei diesem großen Thema einen Konsens zu finden.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da müssen Sie erst mal mit Pfeiffer reden!)
Ähnlich wie bei der Atomkraft ist es hier sehr einfach, als Opposition etwas in die Debatte zu werfen. Damit kann man super bestehen. Das ist ja auch Ihre Aufgabe. Aber letztlich werden wir nur eine Lösung finden, wenn wir alle mitnehmen. Das haben wir beim Atomkonsens geschafft. Etwas Ähnliches ist dringend notwendig beim Thema Kohle.
Lassen Sie uns das gemeinsam machen! Lassen Sie uns die Sommerpause meinetwegen als schöpferische Pause begreifen und dann im Herbst miteinander die Maßnahmen diskutieren! Ich glaube, hier haben wir einen langen Weg vor uns. Aber wir haben bei der Atomenergie gezeigt: Es geht gemeinsam. - Das würde ich mir auch hier wünschen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Jetzt hat das Wort der Kollege Oliver Krischer für Bündnis 90/Die Grünen.
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Miersch, das war jetzt einmal ein vernünftiger Beitrag, der die Sache auf den Punkt gebracht hat.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
- Ja, das war ein Kompliment. Das hat sich wohltuend unterschieden von dem und steht in diametralem Gegensatz zu dem, was Herr Pfeiffer und andere eben gesagt haben.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Eines ist doch klar wie Kloßbrühe: Es geht nicht mehr um das Ob des Kohleausstiegs; es geht nur noch um das Wie, darum, wie wir das organisieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE))
Wenn wir unsere Klimaschutzziele ernst nehmen - minus 80 Prozent bis minus 95 Prozent bis Mitte des Jahrhunderts -, dann wird es kein Kohlekraftwerk mehr geben dürfen.
Wir müssen uns die Frage stellen: Lassen wir das jetzt alles irgendwie geschehen, oder reden wir so wie Herr Pfeiffer? Wenn man ehrlich ist, muss man sagen: Er tritt die Klimaschutzziele in die Tonne. - Die Frage, meine Damen und Herren, müssen Sie beantworten; die müssen Sie als Große Koalition beantworten. Da sind Sie ein bisschen im Nebulösen geblieben.
Wir haben konkrete Vorschläge gemacht. Wir haben konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt. Man kann andere Vorschläge machen. Aber nichts zu tun, so wie es Herr Pfeiffer vorgeschlagen hat, das wird nicht gehen. Da werden wir Sie nicht rauslassen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Meine Damen und Herren, es ist doch völlig irre: Im Energiewendeland Deutschland - das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen; das wird weltweit sehr wohl registriert - steigen die CO2-Emissionen. Das ist das Energiewendeparadoxon, gegen das wir dringend etwas unternehmen müssen. Es kann doch nicht sein, dass in meiner Heimat, im Rheinischen Braunkohlerevier, Kraftwerke aus den 60er-Jahren 8 000 Stunden, 365 Tage im Jahr rund um die Uhr, laufen und brummen, während nebenan ein hochmodernes Gaskraftwerk steht, sein Geld nicht verdient, nicht laufen kann, stillsteht. Das, meine Damen und Herren, müssen wir ändern. Dazu haben wir konkrete Vorschläge gemacht, die Ihnen auf dem Tisch liegen. Ich hätte mir gewünscht, dass die Union an der Stelle klar sagt, wie sie dazu steht,
(Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Wir auch!)
anstatt dumpfbackige Parolen in die Welt zu setzen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Unsere Antwort ist: Wir müssen über den Emissionshandel reden. Ich hoffe ‑ bei der Union bin ich mir nicht ganz sicher ‑, dass es wenigstens hier einen Konsens gibt. Das allein wird das Problem aber nicht lösen. Wir sagen: Wir brauchen CO2-Grenzwerte für fossile Kraftwerke nach britischem Modell. Das hat nichts mit der Atomkraft in Großbritannien zu tun. Die Briten haben sie; daran können wir uns orientieren, damit es auch europäisch funktioniert. Dabei kann man in keinen Konflikt mit der Kommission geraten, weil es dort praktiziert wird. Das schlagen wir Ihnen kombiniert mit einem ökologischen Flexibilitätsmarkt vor. Das ist unser Angebot für die Debatte, die jetzt ansteht. Wenn das am Ende die Vorschläge der Großen Koalition sind, dann haben Sie uns auf Ihrer Seite. Aber bisher habe ich dazu konkret nichts gehört. Ich habe von der Union gehört, dass sie darüber überhaupt nicht reden will. Offensichtlich hat sie die Vorstellung, dass es bis zum Jahr 2100 Kohlekraftwerke in Deutschland geben soll. So habe ich Herrn Pfeiffer verstanden, meine Damen und Herren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir Grüne sagen klipp und klar ‑ auch das gehört dazu ‑: Es muss in Deutschland endlich Schluss sein, dass ganze Landschaften abgebaggert werden, dass Menschen aus ihrer Heimat vertrieben werden, dass Naturressourcen zerstört werden, um dann zu 60 Prozent aus Wasser bestehende Braunkohle zu fördern und in Kraftwerken zu verfeuern. KWK findet dort nicht statt, Herr Pfeiffer, weil diese Kraftwerke Wirkungsgrade unter 30 Prozent haben. Das ist nicht einmal Technik des 20. Jahrhunderts, das ist Technik des 19. Jahrhunderts. Das ist nicht modern. Das ist nicht zukunftsweisend. Damit muss endlich Schluss sein, meine Damen und Herren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Deshalb brauchen wir auch endlich ein Ende des Tagebaus.
Ich will noch einen anderen Aspekt anführen. Bei Kohle reden wir völlig zu Recht über Klimaschutz, CO2. Das ist ein ganz entscheidendes Thema. Wenn wir Klimaschutzziele erreichen wollen, dann müssen wir an die Kohlekraftwerke denken. Wer anderes erzählt, erzählt Unsinn. Aber es gibt noch andere Punkte. Kohlekraftwerke sind inzwischen bei manchen Schadstoffen die größten Schadstoffquellen in Deutschland. Ich will nur ein Beispiel herausgreifen.
(Thomas Jurk (SPD): Quecksilber!)
- Quecksilber. Ja, Sie haben es begriffen.
Die größte Emissionsquelle für Quecksilber, für einen hochgiftigen Stoff, sind Braunkohlekraftwerke. Es ist doch ein Irrwitz, dass in den USA, einem Land, das nun wirklich nicht für seine Umweltstandards bekannt ist, viel strengere Quecksilbergrenzwerte gelten als in Deutschland. Diese Werte werden mit einer Technologie eingehalten, die in Deutschland entwickelt worden ist. Wenn wir diese Grenzwerte in Deutschland einführten, müsste jedes alte Kohlekraftwerk stillgelegt werden. Deshalb sage ich: Lassen wir uns deutsche Technologie und deutsches Know-how anwenden, damit endlich mit diesem Irrsinn von Quecksilberemissionen, die die Gesundheit und die Umwelt belastet, Schluss ist. Es müssen endlich Umweltstandards eingeführt werden, die dem Stand der Technik entsprechen. Da, meine Damen und Herren, hat die Große Koalition bisher versagt, genauso wie vorher Schwarz-Gelb. Es gab genug Gelegenheiten, das zu tun. Auch das müssen wir anpacken.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Zum Schluss, eines ist klar: Das Kohlezeitalter ist definitiv zu Ende. Die Träumereien, die es vor einigen Jahren einmal gab, von 30 neuen Kohlekraftwerken - auch Sigmar Gabriel und der eine Christ- oder Sozialdemokrat sprachen begeistert davon -, sind vorbei. Alle, die in Kohle investiert haben, schreiben heute tiefrote Zahlen. Es ist zum Albtraum geworden. Wir müssen uns jetzt um den Strukturwandel im fossilen Kraftwerkspark im Zusammenhang mit dem Ausbau der Erneuerbaren im Sinne des Klimaschutzes kümmern, aber auch, um Investitionssicherheit in der Energiewirtschaft zu schaffen.
Deshalb, meine Damen und Herren, verstehen Sie unseren Antrag, den wir heute hier vorlegen, als Angebot, um einen Strukturwandel zu schaffen; denn die Zeit für einen organisierten Kohleausstieg ist überfällig. Das müssen wir gemeinsam anpacken.
Ich danke Ihnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Barbara Lanzinger für die CDU/CSU.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Barbara Lanzinger (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Kohle ist auf Dauer auch für uns keine Lösung.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aha!)
Ich denke, daraus haben wir nie einen Hehl gemacht.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Außer Herr Pfeiffer! ‑ Gegenruf des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): So ein Quatsch!)
Wir alle wollen langfristig aus der Kohle aussteigen. Wir sehen das ganz genauso. Alles andere wäre paradox in der Energiewende. Kaum jemand arrangiert sich mit einer neuen Stromtrasse vor der Haustür, wenn durch sie immer mehr statt immer weniger klimabelastender Strom transportiert wird. Aber ich sage jetzt einmal: Erst die Atomkraft, jetzt die Kohle, alles auf einmal geht nicht.
(Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Das sagt auch keiner!)
Bei uns würde man dann auf gut Bayerisch sagen: Gemach, gemach, net oalles oaf oimoa, schee loangsoam.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben Sie den Antrag gelesen? ‑ Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben Sie Herrn Miersch zugehört?)
Eines ist klar: Wir wollen eine Versorgung mit einem intelligenten Energiesystem ohne Kohlestrom und mit mehr marktwirtschaftlicher Steuerung statt staatlicher Regulierung. Wir als CSU haben bereits im Januar 2014 in Wildbad Kreuth ‑ darauf möchte ich ganz bewusst verweisen ‑ eine konsequente und klimafreundliche Umsetzung der Energiewende beschlossen. Dazu gibt es einen Plan, den wir als Koalition gemeinsam formen ‑ wir sind gerade dabei ‑ und umsetzen werden. Die Energiewende ist weitaus mehr als nur das Drängen, aus der Kohlekraft auszusteigen. Wir müssen schon aufpassen, dass bei den derzeitigen Grundstrukturen unserer Energieversorgung keine Versorgungslücke entsteht. Deshalb ist alles gut durchdacht anzugehen. Wichtig ist, denke ich ‑ ich glaube schon, dass wir uns da auch einig sind ‑, dass in Bezug auf die Versorgungssicherheit Gründlichkeit vor Schnelligkeit geht.
Nun habe ich mir allerdings schon die Frage gestellt, warum Sie diesen Antrag überhaupt noch stellen. Wir haben den Koalitionsvertrag, und wir haben einen Zeitplan des Wirtschaftsministeriums zur Umsetzung wichtiger Schritte im Rahmen der Energiewende ‑ der Kollege Becker hat schon darauf hingewiesen ‑, übrigens auch zur Reform des Emissionshandels und der Einführung einer Marktstabilitätsreserve.
An die Fraktion der Grünen gerichtet sage ich: In Ihrer Kleinen Anfrage, die Sie am 4. Juni 2014 an die Bundesregierung gerichtet haben und die am 26. Juni 2014 beantwortet wurde, haben Sie ja detaillierte Fragen zu den geplanten Vorhaben zur Erreichung der gesetzten Klimaschutzziele gestellt. Ich erläutere gerne jetzt noch einmal unsere Vorhaben in dieser Legislaturperiode: Wir brauchen und wollen zügig ein neues marktwirtschaftliches Strommarktdesign. Deshalb wird nach der Sommerpause ein strukturierter und offener politischer Dialog über das Strommarktdesign in Deutschland beginnen. Im Herbst 2014 wird das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie dann ein Grünbuch zum zukünftigen Strommarktdesign veröffentlichen, welches öffentlich konsultiert und im Jahr 2015 zu einem Weißbuch mit konkreten Lösungsvorschlägen weiterentwickelt werden soll. Im Rahmen dieses Dialogs über das neue Marktdesign geht es für uns ausdrücklich nicht um die Subventionierung alter Kohlekraftwerke, sondern um einen sehr viel breiteren Ansatz.
(Beifall bei der SPD ‑ Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Da sind wir ja gespannt!)
Bayern setzt sich dafür ein, Umweltbelange, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit in eine verträgliche Balance zu bringen. Viele Jahre lang stand der Aufbau von Kapazitäten aus erneuerbaren Energien sehr im Vordergrund. Ich denke, ich kann sagen: Wir in Bayern wissen, wovon wir reden. Wir sind an der Spitze bei der Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien ‑ im Gegensatz zu Nordrhein-Westfalen zum Beispiel. Wir decken bereits 36 Prozent unseres Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Erzählen Sie mal etwas zur Windenergie in Bayern!)
Wir alle wissen aber auch: Leistung durch erneuerbare Energien ist nicht durchgängig sicher und auch nicht grundlastfähig.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was ist denn mit der Windenergie in Bayern?)
Die Energiewende bedeutet die Umstellung unseres gesamten Energiesystems. Dafür brauchen wir verlässliche Rahmenbedingungen ‑ das möchte ich heute auch noch einmal erwähnen ‑, wie es zum Beispiel bei einem Kapazitätsmarkt der Fall sein kann.
Für einen Kapazitätsmarkt brauchen wir eine technologieoffene, wettbewerbliche und europakompatible Lösung. Notwendig sind die Einbeziehung gesicherter Erzeugungskapazitäten, von Speichern ‑ dahinter setze ich mehrere Ausrufezeichen; Fragezeichen könnte man theoretisch auch setzen ‑, eines Lastmanagements sowie die Verstetigung von erneuerbaren Energien, die sehr verlässlich Strom liefern, wie zum Beispiel Wasserkraft und Biogas. Wir brauchen die richtige Mischung.
Es ist gut, dass Sie ebenso wie wir die Speicher als wichtigen Bestandteil der Umstrukturierung unseres Energiesystems betrachten. Es wäre gut gewesen ‑ das sage ich heute sehr deutlich ‑, wenn wir es geschafft hätten, das Thema Speicher in das EEG einzupflegen. Das ist leider nicht geschehen.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wieso haben Sie es denn nicht gemacht? Sie haben doch die Mehrheit!)
Im Kapazitätsmarkt werden konventionelle Kraftwerke weiter eine Rolle spielen. Sie sind auf absehbare Zeit zur Deckung der Residuallast und damit zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit unverzichtbar. Diese konventionellen Kraftwerke müssen jedoch dringend einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung der CO2-Reduktionsziele leisten; es ist von mehreren Kollegen ausgeführt worden. Deshalb werden an einen zukünftigen Kraftwerkspark hohe Anforderungen hinsichtlich Effizienz, Emissionen, Flexibilität und Verfügbarkeit gestellt. Hier kommen ‑ auch das wurde schon diskutiert ‑ Gaskraftwerke oder Gasturbinen infrage, die teilweise mit Biogas sowie regenerativ erzeugtem Wasserstoff und Methan betrieben werden könnten.
Neben dem Einsatz hocheffizienter und flexibler Gaskraftwerke ist jedoch der europäische Emissionshandel ‑ auch darauf wurde schon eingegangen ‑ das wichtigste regulatorische Instrument zur Reduktion der CO2-Emissionen. Ich denke schon, dass die zu günstigen Preise ‑ auch das wurde gesagt ‑ ein wesentlicher Grund für den Anstieg der Kohlestromproduktion sind; sie führen dazu, dass sich die klimaschonenden und effizienten Gaskraftwerke nicht rentieren. Auch deshalb müssen wir dringend gemeinsam mit der EU-Kommission an neuen marktwirtschaftlichen Modellen arbeiten und auf nationaler Ebene über unser System der Strombörse diskutieren.
Neben der Umstrukturierung des bisherigen CO2-Emissionszertifikatehandels gilt es aber auch an anderen Stellen weiterzuarbeiten. Die Sicherstellung der Zuverlässigkeit und der Bezahlbarkeit unserer Energieversorgung kann nicht allein dadurch erreicht werden, dass wir weitere Kapazitäten zubauen, ohne über einen Abbau von Kapazitäten im Kohlebereich zu diskutieren. Erforderlich sind Maßnahmen zur Umsetzung verbindlicher Effizienzvorgaben. Wir haben ein riesiges Energieeffizienzpotenzial von mindestens 10 bis 15 Prozent, das wir nutzen können, um den Leistungsbedarf zu reduzieren und dadurch Lasten zu verschieben. Ich denke schon, es ist allerhöchste Zeit, insgesamt verantwortungsbewusster mit Energie umzugehen.
Auch wenn wir alle aus der Kohle aussteigen wollen, müssen wir uns dessen bewusst sein, dass sich der Kohleausstieg über etliche Jahrzehnte hinziehen und auch nicht nach dem Muster des Atomausstiegs erfolgen kann und wird. Ich denke, den gewaltigen Unterschied kennen wir alle: Die Atomkraft birgt weitaus höhere Risiken als die Kohlekraft, was einen möglichst schnellen Ausstieg aus der kommerziellen Atomenergienutzung rechtfertigt. So sieht es im Übrigen auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen. Er bescheinigt, dass ein Kohleausstieg und eine vollständige Versorgung mit Strom aus erneuerbaren Quellen technisch erst ab 2040 realisierbar sind, und ich denke, darauf gründet auch der Antrag der Linken.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist ja mal eine Ansage!)
Klar ist auch: Die Bedeutung der Kohle muss in dem Maße schrumpfen, in dem die Bedeutung der erneuerbaren Energien wächst; darüber besteht auch in der Gesellschaft durchaus Konsens.
Lassen Sie mich unsere bayerische Umweltministerin Ilse Aigner zitieren. Sie hat einen sehr treffenden Vergleich gezogen:
Die Energiewende … ist kein Spaziergang, sondern eine anspruchsvolle Bergtour, bei der man Kondition braucht und die Fähigkeit, bei Unvorhergesehenem auch mal die Route anzupassen oder das Tempo zu ändern.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie ist ja eine Philosophin! Das wusste ich noch gar nicht!)
Man muss auch mal stehen bleiben, wenn es zum Beispiel Unwetter gibt; das weiß jeder, der schon mal im Gebirge war. Entscheidend ist jedoch, dass es aufwärts geht, dass man - ich bleibe bei diesem Vergleich - das Gipfelkreuz vor Augen hat, das die Richtung und das Ziel vorgibt. Dieses Ziel ist eine sichere, bezahlbare, umweltfreundliche Energieversorgung in einem gut durchdachten Energiesystem.
Je schneller wir die Kohle nicht mehr brauchen, desto besser - das sage ich ganz deutlich. Wir können den Ausstieg aus der Kohle allerdings erst dann gezielt planen, wenn wir ein funktionierendes Marktdesign haben; erst dann können wir sicher sein, eine ausreichende Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Zum Schluss wünsche ich allen einen schönen Sommer, auch einen Arbeitssommer; ich gehe davon aus, dass wir nicht nur Ferien haben, sondern auch zu Hause arbeiten. Ich wünsche, dass alle Kraft tanken können, damit wir im Herbst in aller Sachlichkeit und Ruhe mit Verantwortungsbewusstsein und einem Stück Gelassenheit weiterdiskutieren können.
Vielen herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Danke auch, Frau Kollegin Lanzinger. ‑ Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege Thomas Jurk.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Thomas Jurk (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Energiewende muss gelingen, und zwar unter ökonomischen, sozialen und ökologischen Aspekten. Das löst man nicht mit einem „den Schalter umlegen“. Die Energiewende ist für mich kein unendliches Experimentierfeld, sondern es gibt Rahmenbedingungen, die wir beachten müssen. Als ehemaliger Elektrotechniker sage ich dazu: Es gibt Gesetzmäßigkeiten, die auch wir als Politiker nicht außer Kraft setzen können.
Sehr geehrter Herr Kollege Krischer, Sie haben als Beispiel die Energiepolitik in Großbritannien genannt. Also, ich möchte keine Verhältnisse wie in Großbritannien.
(Dirk Becker (SPD): So ist es!)
Soweit ich weiß, plant man in Großbritannien, Kernkraftwerke unter Zuhilfenahme von Einspeisevergütungen zu errichten.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe von CO2-Grenzwerten gesprochen und ausdrücklich nicht von Atomkraft!)
Das gehört auch zur Wahrheit dazu. Wollen Sie das wirklich?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist doch albern!)
Es ist völlig richtig, was einige Vorredner betont haben: Ein paralleler Ausstieg aus der Atomkraft und aus der Braunkohle wird nicht funktionieren können.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aha, also doch nicht! Was hat denn Herr Miersch eben gesagt? Was ist denn da jetzt bei den Sozialdemokraten?)
Es ist Ihnen schon einmal vorgetragen worden, aber damit Sie es sich vor Augen führen:
(Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Ja, die wollen es nicht kapieren!)
Woraus erzeugen wir unseren Strom in Deutschland? 45 Prozent Kohle, 15 Prozent Kernkraft, 25 Prozent erneuerbare Energien. Ich möchte gerne, dass der letztgenannte Anteil weiter steigt. Aber wir alle wissen doch, dass erneuerbare Energien volatil sind. Deshalb müssen wir uns als Politiker darum kümmern, dass die Rahmenbedingungen, auch was die Speicherung anbetrifft, verbessert werden. Ich glaube, die Bundesregierung ist gerade dabei.
Ein anderer wichtiger Punkt ist für mich für das Gelingen der Energiewende notwendig, und das ist die Regelbarkeit. In diesem Zusammenhang komme ich zu den von einigen so verhassten Braunkohlekraftwerken.
Ich komme aus einer Region, in der vor kurzem ein neuer Block ans Netz gegangen ist, der Block R in Boxberg. Er hat übrigens einen Wirkungsgrad von 44 Prozent. Dieser Block lässt sich im Lastmanagement zu je 3 Prozent pro Minute hoch- und runterfahren. Das heißt konkret: Man kann bei einer Gesamtleistung von 675 Megawatt bis zu 250 Megawatt in einer Viertelstunde hoch- oder runterregeln. Das ist eine gewaltige Leistung. Das ist auch dringend notwendig, um passgenaue Lösungen dann zu finden, wenn es mal mehr, mal weniger Sonnen- und Windstrom gibt. Und deshalb sollte man zur Kenntnis nehmen: Das ist ein wichtiges Element für unsere Energiewende.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist das jetzige Modell! Wollen Sie denn noch weitere Kohlekraftwerke? Sagen Sie doch einmal was dazu!)
Bundesminister Gabriel hat am Montag seine 10-Punkte-Energie-Agenda zu zentralen Vorhaben der Energiewende für die 18. Legislaturperiode vorgestellt; einige Vorredner sind bereits darauf eingegangen. Ich finde, es ist ein sehr gutes Papier und es lohnt, gelesen zu werden, auch vor dem Hintergrund, dass es klare Aussagen zum Strommarktdesign enthält; ich erinnere an die Arbeitsweise: Grünbuch, Weißbuch und entsprechende Gesetzesvorhaben. Das macht deutlich, dass wir nicht nur mit unseren Nachbarländern grenzüberschreitende Lösungen brauchen, sondern in der Europäischen Union insgesamt.
Neue Erzeugerstrukturen, wie sie in den letzten Jahren aufgewachsen sind, verlangen daran angepasste Netze. Sowohl bei Übertragungs- wie auch bei Verteilnetzen gibt es riesigen Investitionsbedarf. Das alles muss finanziert werden.
An dieser Stelle möchte ich den Verteilnetzbetreibern durchaus meinen Dank und meine Anerkennung zollen. In den letzten Monaten und Jahren haben sie Hervorragendes geleistet, um die Versorgungssicherheit in unserem Land aufrechtzuerhalten.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Auch hier macht die 10-Punkte-Energie-Agenda von Sigmar Gabriel klar: Wir brauchen Vorgaben und vor allen Dingen eine zeitliche Rahmensetzung, damit auch dieser riesige Kraftakt des Netzausbaus bewältigt werden kann.
Ich komme zum Thema Bergrecht. Ich habe mir sagen lassen, dass das ein altes Thema ist, das auch Sie, Kollege Krischer, immer wieder vor sich hertragen.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bundesrat!)
Selbst wenn es in Deutschland keine Kohlekraftwerke gäbe, wäre die rohstoffliche Bedeutung für viele Branchen unserer Volkswirtschaft darin abgebildet. Es ist klar: Da braucht man eine Gesetzgebung.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das stellt niemand in Zweifel!)
Seit 1982 haben wir mit dem einheitlichen Bergrecht, das damals in Deutschland geschaffen wurde, eine solide Grundlage geschaffen, die am 3. Oktober 1990 auf das Gebiet der ehemaligen DDR übertragen wurde.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, schlimm genug!)
Natürlich gab es noch weitere Vorläufer von Vorschriften, aber ich bitte Sie von den Grünen: Tun Sie doch nicht so, als hätten Sie ein altes und völlig überholtes Gesetz vor sich.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben Sie schon was vom Garzweiler-Urteil gehört?)
- Das Garzweiler-Urteil legt jeder so aus, wie er es braucht; auch wir haben eine Meinung dazu. Wenn Sie ganz in Ruhe darüber nachdenken, stellen Sie fest: So weit ist man da manchen nicht entgegengekommen; das interpretieren Sie hinein.
Auch die SPD-Bundestagsfraktion hat in der jüngsten Zeit Bedarf nach Weiterentwicklung des Bergrechts gesehen,
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aha!)
ohne es abschaffen zu wollen.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer sagt denn, er wolle es abschaffen?)
Deshalb ist es wichtig, darauf hinzuweisen - Sie haben es wahrscheinlich vergessen, deshalb sage ich es jetzt noch einmal -: Uns geht es um die Beteiligung der Öffentlichkeit, zum Beispiel von Gemeinden, von Umwelt- und Wasserbehörden. Besonders wichtig ist uns eine frühzeitige Bürgerbeteiligung auch, um die Akzeptanz für bergrechtliche Verfahren zu erhöhen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Bergrecht muss an die Anforderungen einer modernen, aufgeklärten und an Teilhabe interessierten Gesellschaft angepasst werden.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann passen Sie es an!)
Ich sage Ihnen aus meiner Erfahrung heraus: Es gibt keine undemokratischen Verfahren. Schaue ich mir die Erweiterung des Tagebaus in meiner Heimat an, so kann ich feststellen, dass die Mitglieder des Braunkohleausschusses oder der regionale Planungsverband in seiner Verbandsversammlung sehr verantwortungsbewusst das umgesetzt haben, was sie an Informationen bekommen haben. Sie haben übrigens nicht nur Vorlagen von bergbautreibenden Unternehmen, sondern auch Hinweise aus der Bevölkerung aufgegriffen. Nicht jeder war damit einverstanden. Am Ende gehört es zur Demokratie dazu, dass man abstimmt.
Frau Baerbock, ich hatte im Gegensatz zu Ihnen nicht das Glück, vor 1990 einen solchen Rechtsstaat erleben zu können. Mein Heimatort wäre im Jahre 2010 abgebaggert worden, hätte es die DDR noch gegeben. Ich bin sehr froh, dass die Menschen 1989 dafür gesorgt haben, dass das zu Ende war.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU - Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was hat das mit dem Thema zu tun? - Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt baggern sie aber weiter!)
‑ Ich bin jetzt bei der Region angekommen. Kohle ist ein regionaler Wirtschaftsfaktor ‑ Herr Krischer, das werden Sie selbst für NRW nicht bestreiten können ‑ für Brandenburg, für Sachsen und für Sachsen-Anhalt. Ganz nebenbei reden wir über einen einheimischen Energieträger, genauso wie das auch auf die erneuerbaren Energien zutrifft.
Im Koalitionsvertrag ist dazu völlig richtig ausgeführt:
Die Energiewende ist für die neuen Länder sowohl als Produktionsstandort für Anlagen als auch für die Erzeugung erneuerbarer Energien eine große Chance. Auch die Braunkohle spielt nach wie vor eine bedeutende Rolle für die Wirtschaftsstruktur.
Bei manchen Antragstellern hatte ich den Eindruck ‑ spontan fällt mir das Bild vom Hebelumlegen ein ‑: Jetzt beschließen wir einmal den Strukturwandel. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in meiner Heimatregion, in ganz Ostdeutschland haben wir seit 24 Jahren einen ständigen Strukturwandel ‑ mit unterschiedlichem Erfolg.
(Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Das wissen wir schon! - Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben wir in NRW auch!)
‑ Ich glaube, das kann man nicht vergleichen, Herr Krischer.
(Wolfgang Tiefensee (SPD): 50 Jahre!)
Das hat noch eine andere Dimension. Viele Probleme, die wir im Osten haben, die wir jetzt gerade lösen, werden Sie auch in Westdeutschland einholen.
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wollen Sie gerade neuen Tagebau? - Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie wollten doch nicht abgebaggert werden! - Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber Sie baggern ab!- Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schamlos ist das!)
Ich bin froh, dass diese Planung zu Ende ist und dass wir ganz genau wissen, was wir vor uns haben. Deshalb ist es notwendig, einen richtigen Planungsrahmen zu haben. Sie haben nicht vor 1990 in meiner Heimat gelebt und können sich kein Bild machen.
(Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wissen Sie, wo ich gelebt habe?)
Was Sie jetzt machen, ist eine pauschale Verurteilung derjenigen, die dort leben. Das weise ich mit Entschiedenheit zurück.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU - Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wo hat Frau Lemke gewohnt?)
Da bin ich bei einem wichtigen Punkt. Auch in der Braunkohlewirtschaft hat es enorme Anpassungsprozesse gegeben. Wir hatten 1990 noch rund 140 000 Beschäftigte in diesem volkswirtschaftlichen Sektor ‑ sicherlich völlig aufgebläht. Momentan arbeiten in Ostdeutschland 11 000 Leute direkt im Tagebau, in Kraftwerken. Rechnet man mit einem Multiplikator von zwei, kommt man ungefähr auf die Effekte, die durch Dienstleister und Zulieferer entstehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Strukturwandel führt auch zu neuen Landschaftsstrukturen. Das sind einerseits Chancen für den Tourismus ‑ wenn ich an die Seengebiete denke ‑, aber auch Chancen, der Natur Flächen wieder zurückzugeben. Stetiger Wandel braucht Zeit.
(Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deshalb baggern Sie ab! Geht’s noch? Was ist das denn?)
- Das, was Sie sagen, ist alles zu vereinfacht, Frau Höhn. Das ist der Sache nicht angemessen. Sie setzen sich nicht mit Argumenten auseinander.
(Beifall bei der Abgeordneten der CDU/CSU - Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber Sie! - Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das sagt der Richtige!)
Strukturwandel braucht seine Zeit. Sie können jetzt gern einmal aufstehen. Ich bin ja noch relativ neu in diesem Parlament. Ich kenne aus dem Sächsischen Landtag Mikrofone; von diesen aus kann man Zwischenfragen stellen. Ich bin bereit, sie zu beantworten.
(Beifall bei der SPD - Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wurden ja nicht zugelassen!)
Stetiger Wandel braucht Zeit. Wir haben für die Region übrigens auch gute Konzepte. Da wird nicht alles gelöst werden können. Das ist doch gar keine Frage. Aber es gibt in diesem Zusammenhang nach wie vor eine sehr hohe Akzeptanz für die Braunkohle. Das sollte man auch einmal zur Kenntnis nehmen. Es gab im Jahr 2013 eine repräsentative Umfrage von forsa in allen Landkreisen und Städten der Region. Zwei Drittel der Befragten haben auf die Frage ‑ ich lese sie Ihnen vor, damit Sie wissen, was gefragt wurde ‑: „Ist zur Sicherung der langfristigen, zuverlässigen und kostengünstigen Versorgung mit Energie die Erweiterung des Braunkohletagebaus in der Lausitz notwendig?“, mit Ja geantwortet.
Ich verstehe alle, die von Braunkohletagebauen betroffen sind und die ihre Heimat verlassen müssen. Das ist ein unglaublich schmerzhafter und harter Prozess, der begleitet werden muss. Ich sage aber auch sehr deutlich: Die Menschen in der Region wollen keine falschen Versprechungen, und sie wissen, was wichtig für sie ist.
Lassen Sie mich die Debatte zusammenfassen. Eines ist klar geworden: In dem Maße, in dem der Ausbau und die Systemintegration der erneuerbaren Energien voranschreiten, wird der Einsatz der Braunkohle als Energieträger zur Stromerzeugung mehr und mehr reduziert werden können. Das ist ja auch das Ziel des Ausbaus der erneuerbaren Energien. In diesem Zusammenhang wird der Anteil der Braunkohle sinken.
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Herr Kollege Jurk, denken Sie an die vereinbarte Redezeit.
Thomas Jurk (SPD):
Ja, ich sehe gerade die Uhr, Herr Präsident. ‑ Ich sage noch einen schönen Schlusssatz: Wir betrachten die Braunkohle als Brückentechnologie, die wir so lange benötigen, bis wir unser Ziel einer klimaneutralen Energieerzeugung erreicht haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Vielen Dank. ‑ Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Jens Koeppen, CDU/CSU.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Jens Koeppen (CDU/CSU):
Vielen Dank, Herr Präsident. ‑ Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Immer wenn wir über den Kohleausstieg reden ‑ alle Monate wieder ‑, dann geht es sehr emotional zu. Aus meiner Sicht ist das verständlich. Sie von den Grünen sind mit Ihren Anträgen immer sehr beharrlich und sehr konsequent.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Genau!)
Das nötigt mir natürlich Respekt ab. Allerdings sind Sie immer auch sehr dogmatisch. Deswegen müssen Sie damit rechnen, dass wir Ihre Anträge beharrlich und konsequent zurückweisen, weil Ihre Anträge keiner wirklich sachlichen Betrachtung standhalten.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU ‑ Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie lehnen doch sowieso jeden Antrag von uns ab!)
Wir wollen ruhig und sachlich,
(Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das sind wir!)
aber auch ein bisschen emotional antworten. Eigentlich ist es schade, dass wir jetzt, am letzten Sitzungstag vor der Sommerpause, noch einmal anderthalb Stunden lang darüber reden müssen. Wir haben in Plenarsitzungen, in Ausschusssitzungen und in AG-Sitzungen darüber gesprochen, und immer wieder wurde dasselbe thematisiert und wurden dieselben Anträge gestellt.
Die Geschichte ist eigentlich sehr schnell erzählt: Der überstürzte Ausstieg aus der Kohleverstromung ‑ das haben letztendlich alle Redner gesagt ‑ ist derzeit nicht machbar, jedenfalls nicht ohne größere volkswirtschaftliche Risiken.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Zur Historie gehört auch ‑ auch das haben alle gesagt ‑, dass es einen politischen Beschluss gibt, aus der Kernenergieerzeugung auszusteigen. Wir haben noch nicht beschlossen, aus der Kernenergienutzung auszusteigen, aber wir haben beschlossen, aus der Kernenergieerzeugung auszusteigen. Im Jahr 2003 betrug der Anteil des Stroms aus Kernenergie noch 27 Prozent, im Jahr 2013 15 Prozent. Auch diese 15 Prozent weiter zurückzufahren und damit weiter auszusteigen, ist kein Thema. Gleichzeitig überstürzt aus der Kohleverstromung auszusteigen ‑ das haben alle Redner gesagt ‑, wäre aber energiepolitischer und volkswirtschaftlicher Harakiri. Nahezu jede zweite Kilowattstunde, Frau Baerbock, wird durch Kohleverstromung erzeugt. 2003 waren es noch 50 Prozent, 2013 waren es 45 Prozent, und jetzt sind es noch etwas über 40 Prozent.
Wir sollten uns eigentlich das Thema der erneuerbaren Energien vornehmen, anstatt an den anderen Themen herumzudaddeln; denn der Ausbau der erneuerbaren Energien ist eine Erfolgsgeschichte. 2003 betrug der Anteil des Stroms aus erneuerbaren Energien 7,5 Prozent, und jetzt sind es 25 Prozent. Das ist ein Erfolg. Lassen Sie uns doch darüber reden. Lassen Sie uns darüber reden, wie wir auf diesem Gebiet weiterkommen können, um dann synchron aussteigen zu können.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das bremsen Sie gerade ab! Also, Herr Koeppen!)
Zu glauben, den 45-prozentigen Anteil der Kohle heutzutage durch Gas ersetzen zu können, und das schnell, ist aus meiner Sicht schlicht und ergreifend naiv.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deswegen ein Fahrplan! Schrittweise!)
Ich jedenfalls möchte nicht, dass wir in Abhängigkeit von unsicheren Gaslieferanten geraten, von Staaten wie ‑ das kann man ruhig sagen ‑ Russland. Ich möchte keine nationale Klima- und Umweltpolitik. Sie wollen keine Kohleverstromung in Deutschland. Sie wollen natürlich auch kein Fracking in Deutschland. Sie wollen keine CCS-Technologie in Deutschland. Aber ist es denn sinnvoll, fossile Energien im Ausland zu fördern und in Deutschland zu verbrennen? Das ist doch auch kein Weg.
(Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wollen Sie denn Fracking?)
Eine rein nationale Orientierung ‑ das ist klar ‑ ist nicht sinnvoll. Das ist nicht mein Verständnis von einem sinnvollen Umgang mit fossilen Energieträgern.
Der eilige und national einseitige Kernenergieausstieg führte bereits zu einigen Absurditäten; das kann uns natürlich auch bei der Kohle passieren. Bei den erneuerbaren Energien haben wir an Tagen mit geringer Abnahme natürlich einen negativen Strompreis; das kennen wir alle. An Tagen mit großem Bedarf hingegen kaufen wir Strom aus Kernenergie in Frankreich oder Temelin in Tschechien; auch das ist nicht der richtige Weg. Deswegen kommt es zur nächsten Absurdität - das stand neulich auch in der Zeitung -: dass Russland bzw. Putin uns Strom aus noch nicht einmal gebauten Kernkraftwerken in Kaliningrad anbietet. Das ist völlig absurd. Wollen Sie diesen Weg etwa gehen und sich in diese Abhängigkeit begeben? Ich denke, das ist nicht der Sinn der Energiewende.
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nur weil er es anbietet, müssen wir es doch nicht abnehmen! - Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ihre Partei wollte mal die Stromleitung dafür bauen!)
Die Kohle wird eine Brücke sein - da haben Sie alle recht; Barbara Lanzinger hat darauf hingewiesen, Herr Jurk auch -, logischerweise aber eine Brücke hin zu erneuerbaren Energien. Sie kann keine Brücke zu einem anderen fossilen Energieträger sein, aus meiner Sicht jedenfalls nicht. Anders als bei der Kernenergie müssen wir den Ausstieg synchron betreiben:
(Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Genau das schlagen wir vor!)
synchron mit den neuen Technologien, synchron mit den erneuerbaren Energien, synchron mit den Speichern, die wir teilweise noch nicht haben, synchron mit den Netzen, bestenfalls natürlich mit den vorhandenen Netzen, und synchron mit der Grundlast bzw. mit nutzbarer Energie. Es nützt uns nichts, wenn wir erneuerbare Energien nur installieren, sie aber dann, wenn sie gebraucht werden, nicht zur Verfügung stehen. Unser Ziel muss sein, wegzukommen von der Renditeversorgung und wieder hinzukommen zur Energieversorgung.
Sie sprechen in Ihrem Antrag von steigenden Emissionen. Aber Sie haben dabei nicht bedacht, dass die Braunkohleverstromung sehr viel effizienter geworden ist. Das mag Sie nicht zufriedenstellen, aber es ist zumindest so. 2013 wurde mehr Strom aus Kohle produziert; das ist richtig. Dafür wurde aber weniger Kohle verbrannt. Das ist ein Szenario, das dargestellt wurde. Es geht um die NOx- und die SO2-Werte. Bei NOx sind wir so weit, dass wir den Wert von 1990 halbiert haben. Bei SO2 beträgt der Wert, von der Basis 1990 ausgehend, 7 Prozent. Lediglich 6 Prozent aller Feinstaubemissionen kommen von Kraftwerken; alles andere ist auf den Straßenverkehr und auf andere Bereiche zurückzuführen.
Zum Quecksilber - Sie haben es angesprochen - kann man sagen: Beim Quecksilber ist die Situation kritisch; gar keine Frage. Aber europäische Kraftwerke machen weniger als 2 Prozent der weltweiten Quecksilberemissionen aus. Auch das kann uns nicht zufriedenstellen, aber das sind erst einmal die Fakten. Die Produktion einer Leuchtstofflampe oder einer Energiesparlampe irgendwo auf der Welt trägt jedoch mehr zum Quecksilberausstoß bei als die Kraftwerke.
Zu Ihren Forderungen zum Emissionshandel sei gesagt: ETS ist ein marktwirtschaftliches Instrument. Es ist kein Instrument, um den Energiemix staatlich festzulegen. Es ist auch kein Instrument, um die Staatskasse zu füllen; das sage ich, weil Sie immer wi