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Niemand hat das Wort ergriffen, ohne seine tiefe Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen. Und doch zeigten sich in der vereinbarten Debatte am Mittwoch, 22. April 2015, über die Flüchtlingstragödien im Mittelmeer Differenzen, welche politischen Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Zu Beginn aber erhoben sich alle Abgeordneten, als Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) der Opfer der „schwersten Katastrophe in einer langen Reihe ähnlicher Unglücke“ gedachte. „Wir“ als verantwortliche Akteure in Politik und Gesellschaft seien „mehr denn je aufgefordert, alles in unserer Macht Stehende zu tun, diese tragischen Ereignisse nicht wiederholen zu lassen“, sagte Roth in den mucksmäuschenstillen Plenarsaal.
Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière (CDU) sagte, die Bilder vom Wochenende hätten sich „in unsere Herzen eingebrannt“. Er berichtete von mehreren Begegnungen mit Flüchtlingen und deren bewegenden Berichten über ihre Schicksale. Dann erzählte er aber auch von einer Frau, die mit wenigen arabischen Worten gesagt habe, sie stamme aus Syrien, über die der Dolmetscher dann aber gesagt habe, sie sei aus Serbien.
Das Thema Asyl, Flucht und Migration sei sehr vielschichtig, sagte de Maizière, und folgerte: „Wir brauchen Emotion und kühlen Verstand.“ Es sei richtig, dass Europa sich nicht abschotten darf, aber auch, dass es nicht alle aufnehmen kann.
De Maizière verteidigte das europäische Grenzschutzprogramm im Mittelmeer „Triton“ gegen Kritik. Es habe nicht weniger Mittel zur Flüchtlingsrettung zur Verfügung als das eingestellte italienische Vorgängerprogramm „Mare Nostrum“. Allerdings müsse nun die Seenotrettung dringend verbessert werden, „auch mit deutscher Beteiligung“.
Die EU-Kommission habe eine Verdoppelung der Mittel vorgeschlagen, „es kann auch das Dreifache sein“. De Maizière forderte zudem den Kampf gegen Schlepperbanden, eine Beteiligung aller EU-Staaten an der Aufnahme der Flüchtlinge sowie eine Stabilisierung Libyens und der Herkunftsländer. Und er fragte: „Was sagen eigentlich die afrikanischen Führer dazu, dass ihnen die Mittelschicht davonläuft?“
Als Rednerin der Fraktion Die Linke nannte Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau die Ereignisse im Mittelmeer nicht nur „eine menschliche Katastrophe“, sondern auch „ein politisches Desaster“. „Versagt hat die EU-Flüchtlingspolitik, also auch die deutsche. Sie ist auf Abwehr ausgerichtet statt auf Lösung. Das muss sich ändern.“
Pau sagte, wer weniger Flüchtlinge wolle, müsse eine globale Entwicklung fordern, die Gerechtigkeit schaffe und Frieden gebiete. Das beginne bei fairem Handel ohne Rüstungsexporte.
Die Bekämpfung von Fluchtursachen nahm auch in der Rede von Bundesaußenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) einen zentralen Raum ein. Allerdings werde es nicht ganz einfach sein, die Herkunftsländer der Flüchtlinge sowie die Transitländer, durch die sie an die Küsten des Mittelmeers kommen, zu stabilisieren. Das sei aber kein Grund zu resignieren.
Mit dem Verweis auf die Atomverhandlungen mit dem Iran gab Steinmeier einen Anhaltspunkt für die Zeiträume, mit denen man bei solchen Bemühungen rechnen müsse, aber auch einen Hinweis auf die Hoffnung, zu einem guten Ergebnis kommen zu können. Wichtig sei vor allem die Stabilisierung Libyens. Dass das Mühe, Zeit und Aufwand kosten werde, gehöre „zum Realismus, mit dem ich die gegenwärtige Situation beschreibe“.
Die Toten im Mittelmeer seien „auch unsere Toten“, klagte Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, an. Nicht das Mittelmeer sei grausam, sondern „die Abschottungspolitik, die wir seit Jahren betreiben“. Wer auf sicherem, legalem Weg nach Europa kommen könne, brauche keine Schlepper. „Das war mit Ansage. Das war mit Wissen“, sagte Göring-Eckardt, und an de Maizière gewandt: „Das sind auch Ihre Toten!“
Einen ähnlichen Vorwurf erhob auch Ulla Jelpke (Die Linke): „An den 900 Menschen, die vor wenigen Tagen ertrunken sind, tragen Sie eine Mitschuld, genauso wie alle anderen Innenminister, die legale Zugangswege bisher verhindert haben“, hielt sie dem Bundesinnenminister vor. Zu den militärischen Maßnahmen gegen Schlepperbanden, über die auf dem EU-Gipfel am Donnerstag, 23. April, diskutiert werden soll, sagte Jelpke: „Das wird ein Krieg werden gegen Flüchtlinge.“ Statt Kriegsschiffen solle Europa Fähren an die Nordküsten Afrikas schicken.
Rüdiger Veit (SPD) verwahrte sich gegen die Zuweisung persönlicher Verantwortung an de Maizière durch Jelpke, lobte aber ansonsten den „angemessenen Ton der Debatte“. Ebenso wies Dr. Hans-Peter Friedrich (CDU/CSU) die Schuldzuweisungen Göring-Eckardts an den Innenminister zurück.
Veit forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf, beim bevorstehenden EU-Gipfel für die Beteiligung aller EU-Staaten an der Unterbringung von Flüchtlingen zu kämpfen. Friedrich appellierte an Bundesaußenminister Steinmeier, sich bei afrikanischen Regierungen für die Schaffung von Fluchtalternativen innerhalb Afrikas einzusetzen.
Für einen wirksameren Einsatz von Entwicklungshilfe zur Bekämpfung von Fluchtursachen plädierte Andrea Lindholz (CDU/CSU). Die EU-Staaten leisteten mehr als die Hälfte der weltweiten Entwicklungshilfe. Diese Mittel gelte es auf europäischer Ebene besser zu koordinieren.
Dr. Lars Castellucci (SPD) hob hervor, wie viel Verantwortung Deutschland und Europa in der Welt übernähmen. „Aber vor Lampedusa haben wir versagt. Die Toten im Mittelmeer sind auch meine Toten.“ (pst/22.04.2015)