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Der polnische Staatspräsident Bronisław Komorowski hat sich vor dem Deutschen Bundestag für eine deutsch-polnische Verantwortungsgemeinschaft eingesetzt. In der Gedenkstunde aus Anlass des 75. Jahrestages des Beginns des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 sprach Komorowski am Mittwoch, 10. September 2014, als Gastredner von einer „Gemeinschaft für Europa, die allen Staaten der Europäischen Union und unseres Kontinents offensteht". Deutschland und Polen sollten heute nicht nur darin ein Beispiel sein, wie eine schwierige Vergangenheit zu überwinden ist, sondern auch darin, wie ein sicheres Europa für die nachkommenden Generationen aufzubauen ist.
Der polnische Präsident erinnerte nicht nur an das Leid des Krieges, sondern auch an die letzten 25 Jahre, die für eine „geradezu unglaubliche Geschichte“ des von Deutschen und Polen zusammen vorangetriebenen Aufbaus eines gemeinsamen Europas stünden.
„Dies ist eine einmalige Geschichte der Versöhnung, die der Millionen Gräber gedenkt, an die mit dem Rauch der Krematorien aufsteigende Asche, an die Ruinen des aufständischen Warschaus, aber auch an die Trümmer Berlins erinnert, die wunderbare Tradition des Jahres 1989 trägt und eine neue Hoffnung für Europa und die Welt aufbaut."
Komorowski bezeichnete sich als „lebendigen Zeugen dieses Wunders der Versöhnung, der außergewöhnlichen Gegenwart, in der die junge Generation von Deutschen und Polen zum ersten Mal seit Jahrhunderten zusammen lernen und arbeiten sowie die gemeinsame Zukunft der Völker eines geeinten Europas gestalten kann“. Er freue sich, dass „wir dieses wahrhaft kopernikanischen Umbruchs in der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen gemeinsamen gedenken wollen“.
Der Erfolg der europäischen Integration habe seine Wurzeln in einem ähnlichen Verständnis der Rolle des Menschen in der Welt, des „Personalismus“, um den herum eine möglichst breite „anthropologische Koalition von globaler Reichweite" aufgebaut werden müsse, die den Primat der Person voraussetzt: „Das ist uns eine grundlegende Botschaft, die heute von Europa und für Europa auszugehen hat.“
Dieses Menschenkonzept gelte es zu verteidigen: der Mensch als Person, als denkendes, freies und soziales Wesen, das mit unendlicher Würde ausgestattet ist. Europa habe heute eine Debatte über die Grundwerte, über die ethischen Fundamente dringend nötig. Die europäische Einheit könne nur dann tief und wirksam sein, wenn sie auf gemeinsamen Werten beruhe.
Deutschland und Polen sollten es sich nach den Worten Komorowskis zur Aufgabe machen, die alte Ost-West-Spaltung des Kontinents zu begraben und eine neue Spaltung zu verhindern. Die Nato müsse ein effizientes Militärbündnis bleiben können, damit Entscheidungen getroffen werden können, ohne Drohungen anderer fürchten zu müssen.
„Abschreckung bildet keinen Widerspruch zu Zusammenarbeit und Dialog, sondern ist deren notwendige Ergänzung. Denn es gibt Mächte in der Welt, die auf eingegangene Verpflichtungen keine Rücksicht nehmen, sobald sie bei ihren Partnern militärische Schwäche oder fehlende Entschlossenheit verspüren“, betonte der Staatsgast. Die Aufrechterhaltung der politischen, militärischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen transatlantischen Beziehungen stellten eine gute Investition in die gemeinsame Zukunft dar.
Die Freiheit werde bedroht durch Bewegungen und Ereignisse im Irak, in Syrien, Libyen, der Ukraine oder in Russland. Gemeinsam sei ihnen die Verachtung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten, „eine Verachtung von Menschen, die nach Freiheit und Solidarität streben, die ein demokratisches Volk sein möchten“.
Es vollziehe sich die Wiedergeburt einer nationalistischen Ideologie, die unter dem Deckmantel humanitärer Parolen über den Schutz von nationalen Minderheiten die Menschenrechte und das Völkerrecht verletze: „Wir kennen das allzu gut aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts.“
Aus Sicht Komorowskis muss auf die Gefahren für die Freiheit „mit aller Stärke und mit einer klaren Sprache" hingewiesen werden. „Wird Verständnis für angewandte Gewalt gezeigt, droht Europa eine Niederlage. Dies ist eine weitere Lehre aus der schwierigen deutsch-polnischen Geschichte, die wir gemeinsam Europa und der Welt wiederholt mitteilen sollten.“
Nur eine mutige Politik, die auf dem Fundament von Werten aufbaue, deren Kern die menschliche Würde darstelle, könne „Realpolitik“ genannt werden: „Machen wir doch in Europa kluge, langfristige, aber auch wirksame Politik, also eine, die die Würde des Menschen verteidigt.“
Durch den Angriff auf die Ukraine greife Russland die Fundamente einer demokratischen Gemeinschaft an, ihre Rechte und Werte, aber auch den fundamentalen Grundsatz einer zivilisierten Welt: das Prinzip der Achtung vor der Souveränität der Staaten. Die Ukraine tat nichts, was diese Aggression rechtfertigen würde.“
Es sei zu bedauern, so Komorowski, dass sich die derzeitige Führung im Kreml für den Antiokzidentalismus als Legitimation für die eigene Machtausübung, als eine eigene Identität und geopolitische Orientierung entscheide; dass sie den Weg der Dominanz und der Weiterentwicklung der eigenen Bedeutung nicht durch eine Modernisierung und durch die Zusammenarbeit mit dem Westen, sondern durch die Wiedererrichtung der alten Einflusszone, wenn auch in einem neuen Gewand, wähle, indem sie militärische Gewalt gegen die Nachbarn einsetze.
Was in der Ostukraine passiere, sei das Ergebnis der Angst des Kremls vor einem Erfolg der demokratischen Modernisierung, „die wir sowohl der Ukraine als auch Russland selbst wünschen“. Komorowski rief dazu auf, den Ukrainern bei der Stärkung der Grundlagen ihrer Staatlichkeit zu helfen und die „Östliche Partnerschaft“ der EU aufrechtzuerhalten.
Gerührt erinnerte Komorowski, dessen Familie aus dem heutigen Litauen stammt, an seine Kindheit in einem Haus in Niederschlesien, das eine deutsche Familie verlassen hatte. „Ich verstehe sehr wohl den Schmerz wegen des erlittenen Leids und des Verlustes der Heimat.“
Der mitgefühlte Schmerz sei für ihn ein weiteres Argument für das Engagement zugunsten der deutsch-polnischen Versöhnung und Zusammenarbeit. "Dank der Versöhnung und der Zusammenarbeit, dank der gemeinsamen Mitwirkung beim europäischen Einigungs- und Integrationsprozess können wir eine deutsch-polnische Verantwortungsgemeinschaft aufbauen.“
Nach lang anhaltendem Beifall des gesamten Hauses, das sich zu Ehren des Redners erhoben hatte, dankte Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert dem Gast für diese Rede mit ihren vielen Anregungen.
Zuvor hatte Lammert an den Besuch des polnischen Papstes Johannes Paul II. 1996 im wiedervereinigten Deutschland erinnert, der einmal gefragt habe: „Wo liegt die Wasserscheide zwischen Generationen, die nicht genug bezahlt haben, und Generationen, die zu viel bezahlt haben? Wir, auf welcher Seite stehen wir?“ Diese Frage, so Lammert, stelle sich für jede Generation neu: „Und für uns Deutsche stellt sie sich ganz besonders.“
„Wir erinnern heute an den verheerendsten Krieg in der Geschichte, an einen von Deutschland mutwillig herbeigeführten Krieg, für den Generationen viel, zu viel bezahlen mussten“, betonte der Bundestagspräsident. „Zugleich sehen wir täglich die schockierende Gewalt und das menschliche Leid gegenwärtiger Kriege, in Syrien, im Irak, im Südsudan, im Nahen Osten, in der Ukraine.“ Auch heute zahlten Generationen viel für ihre Freiheit – ohne die Gewissheit, sie tatsächlich zu erreichen.
„Indem wir an diese deutsche Schuld erinnern, bekennen wir uns zu unserer Verantwortung, nicht zu vergessen. Wir stehen zu den Lehren, die wir aus dieser Geschichte gezogen haben. Wir sind dankbar für die Chance, die unserem Land zuteil wurde, in die Gemeinschaft der Nationen zurückkehren zu dürfen“, sagte Lammert. „Uns ist bewusst, dass es dazu der Bereitschaft zur Versöhnung all derjenigen Nationen bedurfte, die unter der deutschen Besatzung schwer gelitten und unter hohen Verlusten auf Seiten der Gegner Hitler-Deutschlands gekämpft haben.“
Der Bundestagspräsident erinnerte an diejenigen, die ihren mutigen Widerstand mit dem Leben bezahlten, etwa im Warschauer Ghetto 1943 oder beim Warschauer Aufstand der polnischen Heimatarmee 1944, die Frauen und Männer der Weißen Rose und des 20. Juli. Wenn man heute auch des Leids gedenke, das persönlich meist schuldlose Deutsche als Opfer politischer Entwicklungen erlitten hätten, „dann können wir dies nur deswegen, weil wir zugleich keinen Zweifel über Ursache und Wirkung lassen.“
Die Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen beweise, dass Frieden in Europa nur möglich sei, wenn die territoriale Integrität nicht mehr infrage gestellt werde – „eine Erkenntnis, um die auch in Deutschland lange, auch noch im Kontext der Wiedervereinigung und der deutsch-polnischen Grenze, gerungen wurde. Diese Erkenntnis ist im heutigen Europa aktueller denn je“. Gerade deshalb sei die Wahl eines polnischen Ministerpräsidenten zum Präsidenten des Europäischen Rates ein starkes Signal und ein Symbol für das Selbstverständnis dieser Europäischen Gemeinschaft, sagte Lammert unter Beifall.
Der 1. September 1939 und seine Folgen seien und blieben für die Deutschen ein Stück Geschichte, das nicht einfach Vergangenheit ist, so Lammert: „Sie beschämt uns, und sie stärkt uns in unserem Willen und der Selbstverpflichtung unserer Verfassung, gemeinsam mit allen unseren Nachbarn und Partnern als gleichberechtigtes Glied in einem freien Europa dem Frieden in der Welt zu dienen.“ Dass Polen und Deutsche gemeinsam daran arbeiten – als Nachbarn, als Partner, als Freunde – sei ein ermutigendes Beispiel dafür, „dass wir aus der Geschichte lernen können, wenn wir ihre Lektionen begriffen haben“.
Die Gedenkstunde schloss mit der Europahymne. (vom/10.09.2014)