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Der französische Künstler Christian Boltanski konzentriert sich in seinem Werk auf die Frage nach der Wahrnehmung von Vergangenheit. Für das Reichstagsgebäude hat er im Untergeschoss der Ostseite das „Archiv der Deutschen Abgeordneten“ entworfen, eine Installation, die einen unmittelbaren Bezug zu Gegenwart und Geschichte des Gebäudes herstellt. Nahezu 5000 Kästen sind mit den Namen der Abgeordneten beschriftet, die zwischen den Jahren 1919 und 1999 auf der Grundlage demokratischer Wahlen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung von 1919/1920, den Reichstagen der Weimarer Republik oder dem Deutschen Bundestag angehörten. Der in der Installation präsentierte Zeitraum endet mit der Wiederaufnahme des Parlamentsbetriebes im Reichstagsgebäude nach seiner Umgestaltung durch den Architekten Sir Norman Foster.
Die Jahre, in denen das deutsche Volk über kein demokratisch legitimiertes Parlament verfügte, werden durch eine einzelne schwarze Box repräsentiert. Es sind sozusagen die „schwarzen Jahre“ (als „les années noires“ bezeichnen die Franzosen die Jahre der deutschen Okkupation) für die Demokratie in Deutschland.
Die Kästen sind in zwei länglichen Blöcken bis zur Decke so übereinandergestapelt, dass zwischen ihnen ein schmaler Gang entsteht, nur wenig durch Kohlefadenlampen erhellt. So ist an diesem Kreuzungspunkt zwischen Jakob-Kaiser Haus und Reichstagsgebäude, den die Abgeordneten auf dem Weg von ihren Büros zu den Plenarsitzungen passieren, ein eigener Raum entstanden. Er wirkt wie ein vergessenes „Kellerarchiv“, das inmitten dieses belebten Kreuzungspunktes ein Gefühl stiller Abgeschiedenheit vermittelt und zum Innehalten und zur Kontemplation einlädt.
Die Metallkästen zeigen pittoreske „Rostblüten“ und sehen von fern wie übereinander-geschichtete Ziegel aus. So scheint unterhalb des Osteingangs des Reichstagsgebäudes eine Ziegelmauer zu stehen, die wie ein tragendes Fundament die demokratische Tradition Deutschlands eindrucksvoll verbildlicht und würdigt. Der Gedanke der Gleichheit aller Abgeordneten kommt durch die serielle Fügung der Kästen bildkräftig zum Ausdruck: Ob ein Parlamentarier nur zwei Jahre als „Hinterbänkler“ im Parlament gesessen oder die Geschicke Deutschlands maßgeblich geprägt hat – ihnen allen wird der gleiche Erinnerungsraum zuteil. Nur die Kästen derjenigen Abgeordneten, die ermordet wurden, sind zusätzlich mit einem schwarzen Streifen gekennzeichnet, auf dem der Hinweis „Opfer des Nationalsozialismus“ und ein Todesdatum stehen. Eine größere Anzahl kommunistischer Abgeordneter ist sowohl Opfer nationalsozialistischer als auch stalinistischer Verfolgung geworden. Viele von ihnen wurden in der Sowjetunion ermordet. Die Einzelschicksale lassen sich in den Gedenkbüchern nachlesen, die in der Abgeordnetenlobby des Reichstagsgebäudes ausliegen, oder in der entsprechenden wissenschaftlichen Literatur.
Das „Archiv der Deutschen Abgeordneten“ reiht sich in eine große Zahl von Installationen ein, die Christian Boltanski zum Themenkreis Erinnerung und Bewahrung gestaltet hat. Selber Sohn eines jüdisch-ukrainischen Vaters und in Paris kurz nach der Befreiung von deutscher Besatzung geboren, wendet er sich in vielen seiner Installationen sowohl der Spurensicherung der eigenen Kindheit als auch – gelegentlich fiktiven – Lebensspuren fremder Personen zu. Er vergegenwärtigt beispielsweise Lebensschicksale mit Hilfe großformatiger, grobkörniger Schwarz-weiß-Fotos, die Porträts anonym bleibender Kinder zeigen. Diese Porträtfotos arrangiert Boltanski als Wandtafeln mit Glühbirnen und Lampen zu Erinnerungsaltären, die zu Sinnbildern der Vergänglichkeit werden (Pourim réserve, 1989, Canberra). Zur Sammlung des Deutschen Bundestages gehört beispielsweise auch Boltanskis Lithographie „Die jüdische Schule (Berlin 1939)“ aus dem Portfolio „Der gefrorene Leopard“ (1992). Das Blatt zeigt ein Foto, leicht geknittert und mit Klebeband befestigt wie ein Fundstück aus einem vergessenen Nachlass. Eine Gruppe fröhlicher Kinder ist auf dem unscharfen Bild zu erkennen, doch ist kaum ein einzelnes Gesicht zu identifizieren. Dem Betrachter schnürt die Fröhlichkeit der Kinder die Kehle zu, denn er ahnt, welch ungewissem Schicksal die Kinder entgegengingen.
Diese Tragik ist auch im „Archiv der Deutschen Abgeordneten“ gegenwärtig durch die zahlreichen mit schwarzen Bändern versehenen Boxen jener Abgeordneten, die ermordet wurden. Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 hatte Heinrich Himmler mit der „Aktion Gitter“ gezielt demokratische Politiker der Weimarer Republik verhaften und in Konzentrationslager bringen lassen. Es mag daher zunächst befremden, dass Christian Boltanski in der Installation neben diesen verfolgten Parlamentariern auch ihre Gegner, die dem Regime dienenden nationalsozialistischen Abgeordneten, aufgeführt hat. Sie sind allerdings seinerzeit, vor der Einführung der Einheitsliste im November 1933, gleichfalls demokratisch in den Reichstag gewählt worden. So spiegelt das „Archiv der Deutschen Abgeordneten“ nicht nur die Errungenschaften, sondern auch die Verwerfungen deutscher Parlamentsgeschichte.
Es gelingt Christian Boltanski in seiner Kunst, konkrete Fragen der Geschichte mit übergreifenden Fragen menschlicher Existenz zu verbinden. Mit der Installation „Archiv der Deutschen Abgeordneten“ hat Boltanski seinen gedanklichen Ansatz auf das Reichstagsgebäude bezogen. Jeder der Abgeordneten ist durch sein Namensschild als historische Person zu identifizieren, und für viele Besucher ist daher diese Installation ein besonderer Anziehungspunkt. Die gleichförmige Reihung hingegen führt zugleich vor Augen, dass erst in der Abfolge vieler Generationen von Parlamentariern – und gerade auch in deren Kampf mit den Feinden der Demokratie – ein breites und solides Fundament des deutschen Parlamentarismus gestaltet werden konnte.
geboren 1944 in Paris, lebt und arbeitet in Malakoff bei Paris.
Archiv der Deutschen Abgeordneten, 1999, Metallkästen mit Aufklebern, Kohlefadenlampen
„Die Jüdische Schule (Berlin 1939)“, 1992, Lithographie, collagiert, a.p., aus dem Mappenwerk: „Der gefrorene Leopard“, Teil II, Galerie Bernd Klüser, München 1992
Text: Andreas Kaernbach, Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages