Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 05 - 06 / 30.01.2006
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Johannes Zang

"Es kann nicht schlimmer kommen"

Die Palästinenser haben radikal gewählt und sehnen sich nach Normalität

Bethlehem/Jerusalem. Samar Ghattas scheint sich nicht sonderlich für die palästinensischen Wahlen zum Autonomierat zu interessieren, sie weiß nicht einmal, dass 13 Parteien antreten. Die Künstlerin aus Bethlehem denkt nur an eines: ihre Ausstellung am nächsten Mittwoch in Jerusalem. Ihre erste in der heiligen Stadt. Doch da ist die Mauer und der "Terminal Rachel" - so heißt der israelische Kontrollpunkt neuerdings. Werden ihr die israelischen Behörden am Tag der Ausstellung die Reise nach Jerusalem erlauben?

Gerade eben hat der palästinensischen Christin ein Deutscher Papiere gebracht, die ihr zu dem benötigten israelischen Passierschein verhelfen sollen. Ohne diesen kann sie den israelischen Kontrollpunkt unmittelbar an der Mauer nicht überqueren. "Bist Du mit dem Fahrrad gekommen?", fragt sie ungläubig den in Jerusalem arbeitenden Orgellehrer, als dieser den Helm abnimmt. "Mit dem Rad brauche ich nur eine halbe Stunde und am Kontrollpunkt war ich in einer halben Minute durch." Die Mittdreißigerin zieht die Augenbrauen hoch, wohl eine Art Kompliment, dann überfliegt sie das auf Englisch gehaltene Schreiben des theologischen Studienjahres der Abtei Hagia Maria Sion, Veranstalterin der Ausstellung. "Die Uhrzeit fehlt", bemängelt Frau Ghattas. Leichte Nervosität liegt in ihren Gesichtszügen. Dann Erleichterung - auf dem zweiten Schreiben entdeckt sie "19.30 Uhr". "Heute nachmittag will ich den Passierschein beantragen", sagt sie. Doch ob die palästinensische Stelle, die die Passierscheine mit dem israelischen Militärgouverneur koordiniert, am Wahltag arbeitet?

Beim Gang durch Bethlehem fällt dem Besucher an diesem wolkenverhangenen Tag das Meer an Wahlplakaten auf. An Hauswänden und Laternenmasten, an Autotüren und Windschutzscheiben prangen die Kandidaten. Quer über Straßen gespannt, lachen sie von Bannern herunter und versprechen (das Blaue?) im wahrsten Sinne des Wortes vom Himmel herunter. Vereinzelt hupen sich mit palästinensischen Flaggen geschmückte Autos durch die Straßen. Schulen bleiben geschlossen, einige der Geschäfte auch. Beim Olivenholzschnitzer Giacaman am Krippenplatz steht indes - trotz der Kälte - die Tür offen. Um eine Prognose gebeten, gibt sich Joseph zurückhaltend. "Alles ist noch unklar." Was ihn viel mehr beschäftigt, ist die Frage: "Warum kommen kaum Pilger in sein Geschäft?", etwa 200 Meter von der Geburtskirche entfernt. Immer wieder sieht er Pilgergruppen auf dem Weg zur Kirche, nach dem Besuch jedoch würden diese zum Bus zurückeilen. Der Zukunft seines Geschäftes, an dem etwa ein Dutzend Familien hängt, sieht er sorgenvoll entgegen.

Im Beit Gibrin-Flüchtlingslager, einem von dreien in Bethlehem, hat sich eine Menschentraube vor dem Wahllokal gebildet. Manch einer trägt hier einen Schal in den Nationalfarben. Etliche Kinder haben sich ein grünes Kopftuch umgebunden und geben sich als Hamas-Sympathisanten zu erkennen.

Meinungsumfragen hatten bis zuletzt einen Vorsprung von Fatah vorausgesagt. Wahlforscher hatten indes eingeräumt, dass dieser bei Regen schmelzen könnte. Denn dann - so die vermeintlichen Kenner der Volksseele - würden eher Hamas-Anhänger das Haus verlassen als deren Gegner.

Und wer hat nun gewonnen? War bei Schließung der Wahllokale am 25. Januar noch gemeldet worden, Fatah hätte 58 und Hamas 53 Sitze errungen, so entstand am Tag danach ein spiegelverkehrtes Bild. Hamas selbst erklärte sich zum Sieger und einige Fatah-Leute bestätigten die Mehrheit des Erzwidersachers. Wenige Stunden später trat das palästinensische Kabinett unter Ministerpräsident Ahmed Kureia zurück.

Waren die Warnungen von Fatah verpufft, denen zufolge ein Hamas-Sieg ein Ende der finanziellen Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft an die palästinensische Autonomiebehörde bedeuten würde? Waren die Drohungen, die "muslimischen Extremisten" würden allen Palästinensern einen "unmöglichen Lebensstil" aufzwingen, an diesen ohne Wirkung abgeprallt?

Hamas-Führer Ismail Haniya präzisierte im Laufe des Tages den Sieg: "Hamas hat mehr als 70 Sitze in Gaza und dem West-Jordanland gewonnen, was eine Mehrheit der Stimmen bedeutet." Nach Auszählung von rund 95 Prozent der Stimmen stand am vergangenen Donnerstagabend dann fest: Die Hamas erhält mit 76 der 132 Mandate die absolute Mehrheit.

Mahdi F. Abdul Hadi, Professor für Geschichte, hatte dies im Gespräch mit "Das Parlament" vor Wochen schon vorausgesagt. Der Gründer und Vorsitzende von "Passia", der Palästinensischen Akademischen Gesellschaft zum Studium internationaler Angelegenheiten hatte Hamas im Rennen gegen die "unfähigen korrupten Greise" von Fatah vorne gesehen. Für ihn würde Fatah mit ihrer "Führungs- und Visionskrise" den Kürzeren ziehen gegenüber Hamas, der "islamischen, vereinten Bewegung mit einer Vision, einer Mission und einer Führung". Und was will die Hamas eigentlich? Der Name Hamas ist ein Akronym aus "Harakat al-muqawama al-islami-yya", was soviel wie "Islamische Widerstandsbewegung" bedeutet. Der Name selbst bedeutet im Arabischen "Begeisterung" und "Eifer". Die Gründungscharta der Hamas von 1988 erklärt "die Fahne Allahs über jedem Zoll von Palästina aufzuziehen" zum Ziel der Organisation. Die gesamte Region Palästina und damit auch Israel sieht die Bewegung als "islamisches Heimatland", das niemals Nicht-Muslimen überlassen werden dürfe. Pflicht eines jeden Muslims sei es, für die Eroberung Israels zu kämpfen. Fernziel ist die Errichtung einer islamischen Theokratie. Hamas-Organisationen haben sowohl politische Mittel als auch Gewalt angewandt, um ihre Ziele zu erreichen. Friedensinitiativen werden von der Hamas als "reine Zeitverschwendung" abgelehnt. Sie seien "nichts anderes als ein Mittel, um Ungläubige als Schlichter in den islamischen Ländern zu bestimmen", für Palästina gebe es keine andere Lösung als den Dschihad, wie Artikel 13 der Charta sagt.

Ihre Beliebtheit verdankt die Hamas nicht zuletzt ihrem karitativen Engagement sowie dem für Bildung und medizinische Versorgung. Der politisch-karitative Arm der Hamas wurde von Israel anerkannt. Viele Experten stimmen darin überein, dass Israel die Hamas unangetastet ließ, um sie der weltlichen Fatah-Bewegung Jassir Arafats entgegenzusetzen, manche sprechen gar von einer Unterstützung durch Israel.

Für den Aufstieg der Widerstandsbewegung machte der palästinensische Minister Saeb Erekat am Tag nach der Wahl jedenfalls Israel zusammen mit den Vereinigten Staaten verantwortlich. Passia-Chef Abdul Hadi hatte vor den Wahlen noch schärfer formuliert: "Israel stimmt indirekt für Hamas, da es der Hamas den Wahlkampf in Ost-Jerusalem verbietet." Israels Botschaft laute damit: "Unser Feind ist die Hamas. Somit werden die Leute für den israelischen Feind stimmen", hatte Abdul Hadi prophezeit.

Wo steht die Hamas, die bei dieser Wahl unter dem Motto "Wechsel und Reform" angetreten ist, jetzt? Vor den Wahlen hatte der Hamas-Führer Mahmud Asahar in Gaza mit seiner Aussage aufhorchen lassen, dass Verhandlungen mit Israel "kein Tabu" seien. Und in der Vergangenheit hatten führende Hamasköpfe eingeräumt, sich mit einem Staat innerhalb des West-Jordanlandes, des Gaza-Streifens und Ost-Jerusalems zufrieden zu geben. Nach Meinung des israelischen Politologen Gershon Baskin hätten zwei von Israel im vergangenen Herbst verhaftete Hamas-Aktivisten begonnen, das "Hamas-Programm umzugestalten". Sie hätten sogar vorgeschlagen, den Hamas-Schwur, der "zur Zerstörung Israels aufruft" zu ändern. Und Scheich Hassan Yousef habe geäußert, dass ein "Zehn-Jahre-Waffenstillstand mit Israel möglich und für weitere zehn Jahre erneuerbar" sei, sollte Israel sich von allen besetzten Gebieten zurückziehen. Der in Haft sitzende Hamasführer Mohammed Ghazal soll gesagt haben, dass die Hamas-Charta "nicht der Koran" und deshalb änderbar sei. Für Baskin stellten deshalb die Verhaftungen "nicht gerade das dar, an dem Israel interessiert sein sollte". Für den Israeli, der zusammen mit dem Palästinenser Hanna Siniora die "israelisch-palästinensische Denkfabrik" IPCRI leitet, befindet sich Hamas in einem "Prozess der Evolution", in dem es "seine Seele sucht". Er als Israeli frage sich, ob die Hamas, die "deine Zerstörung anstrebt", ein Verhandlungspartner für Israel sein kann.

Um eine Stellungnahme zum Wahlausgang gebeten, antwortet Baskins Kollege Siniora: "Die Menschen wollten den Wechsel und sie bekamen ihn." Und was werden die Konsequenzen für den Alltag der Menschen sein? "Es kann ja gar nicht schlimmer kommen", so der Palästinenser.

Angesichts von 376 israelischen Barrieren im West-Jordanland - nicht einmal halb so groß wie Thüringen - gut verständlich. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist seit 1999 um 38 Prozent zurückgegangen. Nahezu die Hälfte der Palästinenser lebt - bei einer Arbeitslosenrate von 27 Prozent - unterhalb der Armutsgrenze, das heißt mit weniger als zwei Dollar am Tag.

Gershon Baskin hatte sein Land schon vor Monaten aufgefordert, Mahmud Abbas zu unterstützen. Dieser müsse "richtige Ergebnisse" vorlegen, um Zuspruch zu gewinnen. "Die (palästinensischen, die Red.) Gebiete müssen geöffnet werden", hatte Baskin gefordert. "Der Durchschnittspalästinenser muss in die Lage versetzt werden zu verstehen, dass Frieden sich bezahlt macht." Ariel Scharon müsse die israelische Hand zu Abbas ausstrecken und sich engagieren.

Viel ist wohl auf beiden Seiten seitdem nicht geschehen, sonst müsste sich Samar Ghattas jetzt nicht den Kopf wegen ihrer Ausstellungseröffnung zerbrechen. Wenn sie einen Passierschein erhalten sollte, für wieviele Stunden wird er gültig sein?, fragt sie sich. Nur bis 19 Uhr, wie er für viele in Israel tätige palästinensische Arbeiter ausgestellt wird? Oder gar bis 22 Uhr? Das Zittern bleibt. Für sie ist es nach wie vor einfacher und kalkulierbarer, nach Jordanien, Japan oder Deutschland zu reisen als die acht Kilometer zum Zionsberg in Jerusalem.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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