Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 05 - 06 / 30.01.2006
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Ursula Homann

Gibt es wieder "die Judenfrage"?

Moshe Zimmermann über Judenhass und soziale Probleme

Der Antisemitismus ist ein trübes Kapitel mit vielfältigen Aspekten. Dieser Eindruck drängt sich auf, sobald man sich in die Aufsätze vertieft, die der israelische Historiker Moshe Zimmermann während der letzten 25 Jahre für unterschiedliche Publikationen verfasst und nun, überarbeitet und mit aktuellen biografischen Hinweisen versehen, in einem Sammelband neu herausgegeben hat.

Zimmermanns Beiträge zeigen sehr deutlich, wie sich in Deutschland der Judenhass - ab 1879 Antisemitismus genannt - seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein entwickelt hat, welche Funktion er für die deutsche Gesellschaft hatte, wie deutsche Juden versuchten, mit dieser Provokation fertig zu werden und wie Historiker das Phänomen bewertet und eingeordnet haben. Manche Diskontinuitäten und auch Ungereimtheiten in der Entwicklung des Antisemitismus treten dabei sowohl auf individueller wie auf kollektiver Ebene zutage.

Weder Adolf Hitler noch Theodor Fritsch noch Julius Streicher wurden als Antisemiten geboren. Wilhelm Marr, der Schöpfer des Begriffs Antisemitismus, entpuppte sich erst im Alter von 40 Jahren als bewusster "Judenfresser". Doch gibt es auch Beispiele in umgekehrter Richtung. Helmuth von Gerlach überzeugte durch seine Hinwendung "von Rechts nach Links", während Friedrich Naumann als junger Pfarrer mit dem Antisemiten und Berliner Hofprediger Adolf Stoecker kooperierte, um sich nach seinem Wandel zum Liberalen klar und offen vom Antisemitismus zu distanzieren.

Wie aber konnte ausgerechnet in der Zeit der Emanzipation und rechtlichen Gleichstellung der Juden der Antisemitismus derart anwachsen? Zimmermann konstatiert einen Zusammenhang zwischen der "sozialen" und der "nationalen Frage". Viele, die sich durch Industrialisierung und Modernisierung gefährdet fühlten, schmähten die Juden. Die letzten Schranken fielen nach 1933, nachdem alle staatlichen Organe und Institutionen in Deutschland in den Dienst der "Lösung der Judenfrage" gestellt worden waren und so der Weg vom Vorurteil über die Technik zur radikalsten Tat frei geworden war.

Wie indessen verlief die jüdische Auseinandersetzung mit dem deutschen Judenhass? Nicht wenige Juden sahen im jüdischen Nationalismus und Zionismus eine angemessene Antwort auf den Antisemitismus. Allerdings machte sich in der jüdischen Bewegung der Selbstemanzipation am Ende eine deutlich antiliberale und antiaufklärerische Strömung breit. Man wetterte gegen Mischehen und plädierte für die "Reinerhaltung der jüdischen Art". Jedoch sollten, mahnt Zimmermann, die aufklärerischen Komponenten des nationalen Judentums nicht übersehen werden. Es gab den "Verein zur Abwehr des Antisemitismus", in dem Juden und Nichtjuden zusammenarbeiteten. Zugleich bemühte man sich, um eine weitere Steigerung des Antisemitismus zu verhindern, die vermehrt in den Westen flüchtenden Ostjuden so reibungslos wie möglich in Richtung Amerika oder Palästina zu befördern.

Fatale Fehleinschätzung

In der Weimarer Republik wiederum dachten die meisten Juden und das gesamte Bürgertum, die Gefahr des Kommunismus sei gravierender als die Gefahr von Rechts. Nach dem 30. Januar 1933 entstand in Deutschland die "innere Emigration" als Reaktion auf die Diktatur. Nur wenige schätzten die NS-Pläne realistisch ein. Kaum einer ahnte, was sich dann später, nach 1935 und 1938, tatsächlich abspielen würde.

Nach 1945 habe der Antisemitismus, obgleich Vorurteile gegenüber Juden noch keineswegs verschwunden seien, erheblich an Bedeutung verloren, meint der israelische Historiker. Das hänge nicht nur mit dem Schrecken von Auschwitz zusammen, sondern auch damit, dass die soziale Frage und die nationale Frage lange Zeit nicht mehr als Synonyme für die "Judenfrage" instrumentalisierbar gewesen seien. Allerdings habe die gegenwärtige Gefährdung des Wohlfahrtsstaates in Deutschland "die Voraussetzung für eine erneute Thematisierung der ,Judenfrage' und für eine Aktualisierung des Themas des Antisemitismus" geschaffen.

Das ist eine, wie mir scheint, recht gewagte These. Sollten wirklich wieder einmal nur die ökonomischen Verhältnisse unser Denken bestimmen? Hat der aufgeklärte und sich seiner geschichtlichen Verantwortung bewusste Geist denn gar nichts zu vermelden? Die so genannte Judenfrage sollte doch längst als Chimäre durchschaut und ad acta gelegt worden sein!

Als Resümee bleibt festzuhalten, dass Moshe Zimmermann mit großer wissenschaftlicher Gründlichkeit, anhand zahlreicher Details und konkreter Beispiele, den keineswegs gradlinigen Weg des Antisemitismus verfolgt. Er schneidet viele Fragen und Probleme an und vermittelt eine, mitunter verwirrende Fülle von Informationen. Bedauerlicherweise hat sich der Druckfehlerteufel fast ungehindert austoben können, obwohl ihm sicherlich nicht allein auch noch die grammatikalischen und stilistischen Ungenauigkeiten in den übersetzten Beiträgen anzulasten sind.


Moshe Zimmermann

Deutsch-jüdische Vergangenheit.

Der Judenhaß als Herausforderung.

Schöningh Verlag, Paderborn 2005; 308 S., 29,90 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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