Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 05-06 / 31.01.2005
Ursula Homann

Sondierungen in einem schwierigen Terrain

Ist Kritik an Israel gleich Antisemitismus?
Deutsche Antisemitismus-Debatten werden häufig vor dem Hintergrund der Aufarbeitung von Nationalsozialismus und Holocaust geführt. Einerlei, ob über Martin Walsers Buch "Tod eines Kritikers", über Äußerungen der FDP-Politiker Karsli und Möllemann, über das Buch "Nach dem Terror" von Ted Honderich oder eine Rede des CDU-Politikers Martin Hohmann diskutiert wird, stets fragt man sich: Wird der Antisemitismus wieder gesellschaftsfähig? Kann man mit antisemitischen Äußerungen erneut Wählerstimmen gewinnen?

Bei vielen der jüngsten antisemitischen Debatten, die es sowohl in den USA, in Israel als auch in England, Frankreich und in Deutschland gibt, steht freilich nicht der Holocaust im Zentrum, sondern der Nahostkonflikt, vor allem seit mit dem Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000 die Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern radikaler und gewalttätiger geworden sind.

In dem Sammelband von Suhrkamp werden diese Debatten mit ihren vielfältigen Argumenten und Bezügen von amerikanischen, britischen, israelischen und deutschen Wissenschaftlern und Publizisten sachkundig erörtert. Allgemein werde, schreibt Antony Lerman, die Auffassung vertreten, dass wir es heute nicht mit einer Wiederkehr der 30er-Jahre zu tun haben, wohl aber mit einem "neuen Antisemitismus", der sich in neuer verbaler Radikalität gegen Israel und gegen Juden insgesamt ausdrückt und auch in gewalttätigen Übergriffen gegenüber einzelnen Juden und jüdischen Einrichtungen.

Nahostkonflikt als Katalysator

Für zahlreiche Autoren, die hier zu Wort kommen, wie zum Beispiel für Daniel Goldhagen, Ulrich Beck, Moshe Zimmermann und Dan Diner, ist der Nahostkonflikt zum "Katalysator" eines neuen Antisemitismus geworden, bei dem alte antijüdische Klischees aus der christlichen Tradition im arabisch-muslimischen Kulturkreis (etwa die Vorstellung von einer jüdischen Weltherrschaft) ihre Urständ feiern. Das Zentrum des neuen, von seinen christlichen Ursprüngen gelösten Antisemitismus liege zwar in der islamischen Welt - darin sind sich in diesem Band fast alle Autoren einig -, doch werde der Judenhass mittlerweile von Immigranten nach Europa getragen und stelle erneut eine Gefahr für Juden in Europa dar.

Welche Rolle spielt dabei Israel? Zieht Israel als Staat der Juden den klassischen Antisemitismus auf sich, oder ist es die Politik des jüdischen Staates, die weltweit Kritik provoziert? Diese Frage wird unterschiedlich beantwortet. Die einen erheben den Vorwurf, dass durch einseitige Fernsehberichte und aufwühlende Bilder von palästinensischem Leid eine maßlos verzerrte Kritik an Israel hervorgerufen werde, deren wahres Motiv antisemitisch sei. Andere wiederum argwöhnen, dass derartige Vorwürfe nur dem Interesse Israels dienten, um legitime Missbilligung an Israels Vorgehen gegenüber den Palästinensern zum Schweigen zu bringen.

Kein Zweifel, meint Tony Judt, einige der härtesten Gegner Israels lassen antisemitische Neigungen erkennen. Andererseits sei nicht jeder Antizionismus antisemitisch gefärbt. Judith Butler fordert daher die klare Unterscheidung zwischen einer produktiven und kritischen Distanz zum Staat Israel und zum Antisemitismus. Nicht alles, was Israel im Namen seiner Selbstverteidigung unternehme, sei völlig legitim. Ulrich Beck gibt dagegen zu bedenken, dass Deutsche und andere Europäer nicht selten in "verräterischer Einäugigkeit" gegen den israelischen Staatsterror, den Ministerpräsident Sharon praktiziere, protestierten, dabei jedoch den Selbstmordterror übersähen, mit dem Palästinenser Israel tyrannisierten.

Wie ist es indes mit dem Antisemitismus in Europa bestellt? Alain Finkielkraut zeigt sich beunruhigt. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hätten Juden in Frankreich wieder Angst. Aus amerikanischer Perspektive ist Europa von einem Rückfall in alte Muster erfasst, der oft mit einer antiamerikanischen Haltung verknüpft sei. Für Jeffrey Herf sind Antisemitismus und Antiamerikanismus, wie für Andrei S. Markovits und andere Autoren in diesem Band auch, zentrale Bestandteile der Geschichte der Neuen Linken, die vor allem in den Reihen der Globalisierungskritiker zu finden seien. Allerdings sei die Vorstellung von Israel als "Außenposten" des amerikanischen Imperialismus "ein schlechter Witz", befindet Michael Walzer.

Was ist zu tun? Mit den Antisemiten, meint Omer Bartov, müsse man sich auseinander setzen und sie mit allen Mitteln bekämpfen. Michael Walzer wiederum fordert "Toleranz für den Islam als religiöse Gemeinschaft unter anderen - so lange er diese Einordnung akzeptiert - ", aber keine Toleranz für muslimischen Judenhass. Gewalt sei zu ächten auf palästinensischer und israelischer Seite, verlangt Judith Butler und meint, dass es weder angehe, wenn Juden immer wieder durch Selbstmordanschläge umkommen, noch dass Palästinenserkinder durch israelisches Gewehrfeuer grausam getötet werden.

Der Band führt die Komplexität des "neuen Antisemitismus" in all seinen Facetten anschaulich vor Augen, auch wenn die Deutungen der mannigfaltigen Probleme mitunter widersprüchlich ausfallen und endgültige oder gar einfache Antworten auf all die hier angeschnittenen schwierigen Fragen nicht zu haben sind. Dem eigenen Nachdenken dürfte dies indes keineswegs hinderlich sein

Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Natan Sznaider (Hrsg.)

Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte.

Suhrkamp Verlag, Frankfur/M. 2004; 331 S., 12,50 Euro


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