Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 05-06 / 31.01.2005

"Fragt uns aus - wir sind die Letzten"

Interview mit Arno Lustiger anlässlich des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Das Parlament:

Herr Lustiger, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, Sie möchten Ihre Erinnerungen mit den Menschen teilen. Lange wollten oder konnten Sie nicht darüber sprechen. Was hat Sie dazu bewogen, Ihr Schweigen zu brechen ?

Arno Lustiger: Das war genau vor 20 Jahren am 27. Januar 1985 - die Aktion Sühnezeichen, Pax Christi, organisierte in Frankfurt einen Schweigemarsch. Diese Art des Gedenkens hat mir sehr gut gefallen. Im Anschluss daran habe ich das erste Mal öffentlich gesprochen. Ich habe meine Rede mit einem Gedicht von Hans Sahl beendet: "Fragt uns aus, wir sind die Letzten." Bis dahin hatte ich geschwiegen und wollte nicht erzählen - aus verschiedenen Gründen.

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Warum?

Arno Lustiger: Zum Einen schmerzt es immer, wenn man darüber erzählt, zum Zweiten muss ich gefragt werden. Ich erzähle niemals, auch heute nicht, wenn ich nicht gefragt werde. Drittens war das, was ich zu erzählen hatte, auch immer sehr unglaubwürdig, weil solche Sachen noch nie in der Geschichte passiert sind. Ich hatte auch meiner Familie nichts erzählt.

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Hat die nicht gefragt?

Arno Lustiger: Als die Kinder klein waren und meine Tätowierung aus Auschwitz gesehen haben, wollten sie wissen, was das ist, und ich habe gesagt "Meine Telefonnummer". Mein Freund Wolf Biermann hat mit mir geschimpft und gefragt, warum ich meine Kinder belogen hätte. Ich sagte: "Ist es nicht genug, dass die Nazis meine Kindheit und Jugendzeit gestohlen haben? Muss ich das meinen Kindern auch antun? Haben sie nicht das Recht normal aufzuwachsen, ohne Vorurteile?"

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Die Begegnung mit Zeitzeugen wie Ihnen ist gerade für Jugendliche die eindringlichste Form der Erinnerung. Wie kann die Erinnerung aussehen, wenn es immer weniger direkte Zeugen dieser Geschichte gibt?

Arno Lustiger: Ich halte den Aufbau von Videodokumentationen mit Zeitzeugen nach dem Vorbild des amerikanischen Spielberg-Archivs für sinnvoll. Die Zeitdokumente sind in verschiedene Sprachen übersetzt und sehr anschaulich. Aber es ist schon spät, denn es gibt ja nicht mehr viele Zeitzeugen. Ich könnte mir nach diesem Beispiel aber auch eine Dokumentation vorstellen, die sich mit der Frage des Widerstands beschäftigt.

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Die Berichte von Übergriffen gegen Juden oder Verunsicherungen von Mitgliedern jüdischer Gemeinden häufen sich. Was haben Sie persönlich in der letzten Zeit für Erfahrungen gemacht? Ist der Antisemitismus im Alltag wieder spürbar?

Arno Lustiger: Wenn ich danach gehen sollte, was ich persönlich erfahre, habe ich überhaupt keine Probleme. Ich stehe im Telefonbuch, habe keine Geheimnummer, jeder kann mir schreiben oder faxen. Dass ich selbst nicht betroffen bin, beweist jedoch nicht, dass es das nicht gibt. Die jüngsten Ereignisse im Sächsischen Landtag sind ein Beispiel dafür, dass es Antisemitismus gibt. Wir müssen bedenken, dass diese Rechtsextremen in den Landtag gewählt worden sind.

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Wie sollte man also auf solche Vorfälle reagieren?

Arno Lustiger: In meiner Rede habe ich ja gesagt, man sollte die Samthandschuhe ausziehen, wenn es um Feinde unserer Verfassung und unserer Demokratie geht. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, das Verbotsverfahren gegen die NPD einzustellen, war ja nicht einhellig. Jeder Demokrat muss sich Gedanken machen, wie auf Rechtsextreme reagiert werden sollte.

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Und wie sollte man Ihrer Meinung nach mit ihnen umgehen?

Arno Lustiger: Diese Leute sind unbelehrbar. Mit ihnen zu reden, hat keinen Zweck. Mir würde es gut gefallen, wenn ein Parteiverbot käme. Dann müss-ten sie sich verstecken und sich konspirativ treffen, und es würde Ihnen nicht so leicht fallen, auf die Straße zu gehen und ihre rassistischen Gedanken zu verbreiten - so wie etwa bei dem geplanten Aufmarsch am Brandenburger Tor. Der Neonazi von heute ist zehnmal so schuldig wie der von früher.

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Wie meinen Sie das?

Arno Lustiger: Damals zum Beispiel 1934 gab es noch keine Nürnberger Gesetze, es gab noch keine systematische Verfolgung der Juden, es gab keinen Krieg, keinen Holocaust, gar nichts. Aber der Nazi von heute weiß um alle diese Verbrechen, der weiß alles, was die Nationalsozialisten verbrochen haben, wieviele Menschen sie ermordet haben. Und dann noch immer dieser Ideologie anzuhängen, das zeugt davon, dass sie nichts gelernt haben, unbelehrbar sind. Und dass sie das offen machen können, ist einfach beschämend.

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Viele Wähler haben der NPD ihre Stimme gegeben. Wie sollte die Politik darauf reagieren?

Arno Lustiger: Die Politiker unserer Republik sollten dort hingehen und die demokratischen Parteien an diesen Orten noch viel mehr Veranstaltungen machen. Die prominenten Politiker sollten mit den Leuten reden. Unsere Politik muss an diesen Brennpunkten Präsenz zeigen. Und was tätliche Angriffe angeht, muss gelten: Null Toleranz.

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Sie kennen das Argument, dass rechtsextreme Parteien durch ein Verbot an Attraktivität gewinnen?

Arno Lustiger: Ich halte nichts davon, denn es gibt sehr viele Menschen, die in ihrer Meinung schwanken. Wenn sie sehen, dass diese Parteien illegal sind oder wenn eine Mitgliedschaft bestraft wird, würde es sich so mancher sicher überlegen, weiter mitzumachen. Dann bliebe es nur bei einem harten Kern - der ist unbelehrbar, mit dem braucht man gar nicht zu diskutieren. Aber den muss man beobachten, sorgfältig beobachten.

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Oftmals wird die Debatte um den Antisemitismus vermischt mit der Debatte um den Nahostkonflikt. Gibt es für sie eine Art "neuen Antisemitismus"?

Arno Lustiger: Ja, ich glaube schon, und diese Tatsache speist sich auch zu großen Teilen aus der Berichterstattung der Medien. In Israel gibt es sehr viele ausländische Journalisten, die über alles berichten, aber über die wirklich genozidalen Tragödien wie in der Provinz Darfur im Sudan oder davor in Ruanda oder noch früher in Kambodscha, das interessiert überhaupt keinen.

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Wie würden Sie den "neuen Antisemitismus" beschreiben?

Arno Lustiger: Der neue Antisemitismus verkleidet sich. Das war genauso bei der Verfolgung der Juden durch Stalin. Die staatstreuen sowjetischen Juden sind erstmal zu Zionisten umgetauft worden und so konnten sie dann verfolgt werden. Manche sagen, wir sind keine Antisemiten, wir sind nur Antizionisten. Aber ich glaube, dass diese Ablehnung von Israel und indirekt der Juden auch eine bewusste oder unbewusste Abwehr der eigenen Schuld oder auch von Schuldgefühlen sein könnte.

Das Interview führten Susanne Kailitz und Annette Sach.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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