Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 04 / 23.01.2006
Stefan Scholl

Stehen bleiben oder ich schieße!

Politischer Winter zwischen Russland und der Ukraine
Es hat schon albernere Anlässe für einen Krieg gegeben. Am 13. Januar besetzten ukrainische Hafenbeamte in Krimhafen Jalta einen Leuchtturm und verweigerten russischen Küstenwächtern den Zutritt. Am selben Wochenende versuchten fünf ukrainische Studenten, in eine Funkstation der russischen Schwarzmeerflotte bei Cherson einzudringen, die Wachen hielten sie auf. Die russische Schwarzmeerflotte nutzt mit Erlaubnis der Ukraine Häfen auf der Krim. Und das Kommando der Schwarzmeerflotte schickte Marineinfanteristen los, um die Objekte zu sichern. Kiew und Moskau tauschten Protestnoten aus.

Schon erinnert der Moskauer "Kommersant" daran, was der russische Verteidigungsminister Anfang der vergangenen Woche mit den Worten meinte, die Mannschaften der Schwarzmeerflotte würden im Ernstfall nach ihrem Wachreglement handeln: "Erst der Ruf ,Stehen bleiben oder ich schieße!', dann ein Warnschuss, dann wird scharf geschossen."

Minister und Diplomaten beider Staaten aber streiten heftig darüber, wer nun das Nutzungsrecht über Leuchttürme der Schwarzmeerflotte habe. Die Russen verweisen auf Mietverträge bis 2017, die Ukrainer behaupten, dass sie den Russen auf der Krim zwar andere Liegenschaften vermieten, aber keinen der sieben Leuchttürme und keines der rund 100 anderen hydrografischen Objekte, von denen die Russen Gebrauch machen.

Der so genannte Gaskrieg zwischen den beiden ostslawischen Nachbarn endete zu Beginn des Jahres schnell und glimpflich. Man einigte sich auf einen Kompromiss, den die meisten Beobachter als Sieg der Ukrainer betrachteten. Statt geforderter 230 Dollar für 1.000 Kubikmeter Gas müssen sie nun 95 Dollar zahlen. Aber die Ukraine scheint sich noch immer über die Preissteigerung von 50 auf 230 Dollar zu erbosen, die die Russen angestrebt hatten. "Wenn in einem so wichtigen Energiesektor statt ,Brüderlichkeit' jetzt ?fairer Markt' herrscht, wird dies logischerweise auch für andere Bereiche der ukrainisch-russischen Beziehungen gelten", erklärte Verteidigungsminister Anatolij Grizenko am 17. Januar in Kiew. Es sei gut möglich, dass die Miete für die Flottenbasis auf der Krim von zurzeit 97 Millionen auf 400 Millionen Dollar jährlich angehoben werde. Noch ein Preiskrieg, nur das jetzt die Ukrainer die Rechnung aufmachen.

Und am 19. Januar erklärte Grizenko, man plane, sich wieder mit taktischen Raketen zu bewaffnen, "weil sie eine abschreckende Wirkung sicherstellen" - was man in Russland als einen Wink in die eigene Richtung wertet. Moskauer Experten mutmaßen sogar, dass diese neuen Raketen atomare Sprengköpfe tragen könnten. Grizenko schloss das zwar aus, aber Präsident Viktor Juschtschenko erklärte schon, die Ukraine wolle wieder selbst Uran anreichern, sein Land solle binnen fünf Jahren unabhängig von Energieimporten werden. Bisher bezog die Ukraine ihre nuklearen Brennstäbe aus Russland… Droht kalter Krieg zwischen den ostslawischen Brüdervölkern? Oder Schlimmeres?

Die Ukrainer gelten wie die Russen als friedfertig. Als Osteuropas Vielvölkerstaaten auseinanderbrachen, als sich Jugoslawen und Kaukasier grausam bekriegten, da floss bei den Ostslawen nur Wodka. Auch jetzt erklärt der ukrainische Verteidigungsminister Grizenko die Krim für gewaltfrei: "Zwischen unseren Ländern gibt es viele Probleme, doch kein einziges könnte jemals zu einem bewaffneten Zusammenstoß führen." Man lud die russischen Kollegen für Mitte Februar zu Verhandlungen nach Kiew ein.

Bis dahin allerdings schmettern wohl weiter verbalpatriotische Breitseiten Richtung Moskau. Denn Ukrainer und Russen haben noch eine Gemeinsamkeit: Für die Machthaber am Dnjepr wie an der Moskwa gilt: "Außenpolitik ist vor allem Innenpolitik."

In Kiew herrscht hitziger Wahlkampf, mehrere tausend Kandidaten aus 45 Parteien ringen um 450 Sitze in der Obersten Rada, dem Parlament, das am 26. März neu gewählt werden soll; eine innenpolitische Entscheidungschlacht, denn seit dem 1. Januar gilt eine Verfassungsreform, die der Rada mehr Macht verleiht. Vor allem bestimmt jetzt die Parlamentsmehrheit - und nicht mehr wie bisher der Präsident - über das Schicksal des Premierministers und seiner Regierung. Die Rada probierte ihre neue Vollmacht prompt aus, am 10. Januar feuerte sie Premier Jurij Jechanurow und sein Kabinett. Obwohl - oder gerade weil - Jechanurow und seine Minis-ter noch lautstark den Sieg im Gaskrieg gegen die Russen feierten. Aber Jechanurow kandidiert auch für die Rada als Spitzenkandidat des Wahlblocks "Unsere Ukraine", der Hausmacht des Präsidenten.

Um der Wählerschaft wahren Patriotismus zu zeigen, zerfetzte die politische Konkurrenz in erstaunlicher Einheit den Liefervertrag mit den Russen als Schande. Die Kommunisten machten Front, ebenso Juschtschenkos alter Widersacher, Expremier Viktor Janukowitsch, dessen "Partei der Regionen", sich fast ausschließlich auf die russischsprachige Wählerschaft im Osten des Landes stützt. Die heftigste Kritik kam aber von der Demokratin Julia Timoschenko. Sie kündigte sogar eine Strafanzeige an; Juschtschenkos und Jechanowitschs Unterhändler hätten in geheimen Zusatzklauseln den Russen die Kontrolle über das ukrainische Gasleitungssystem eingeräumt. Auch diese Verschwörungstheorie ist offenbar an das Wahlvolk adressiert.

Timoschenko war im letzten Winter noch die engs-te Revolutionsgefährtin Juschtschenkos und seine ers-te Premierministerin. Aber nach wirtschaftlichen Rückschlägen tauschte er sie aus - gegen Jechanurow. Halb Kiew glaubt, dass der "Samurai im Rock", wie die Zeitschrift "Korrespondent" Timoschenko nennt, sich gründlich rächen will.

Juschtschenko reagierte mit einem betont patriotischen Wutanfall, beschimpfte die Rada vor der staunenden Fernsehnation als "fünfte Kolonne, der ihr kleinliches korporatives Interesse wichtiger als das Wohl des Landes ist". Außerdem kündigte der Präsident eine Volksabstimmung zur Verfassungsreform an; sie sei durch grobe Verfahrensfehler zustande gekommen. Das bestätigen ukrainische Juristen und EU-Verfassungsrechtler. Aber der Präsident wettert offenbar weniger gegen die Mängel der hastig neu geschriebenen Konstitution, als gegen den Machtverlust, den sie für ihn bedeutet.

Juschtschenko und Timoschenko, die beide Pluralismus, Marktwirtschaft und EU-Anschluss predigen, zerfleischen sich vor ihrer irritierten Klientel, beschwören dann wieder gemeinsame "orangene" Ideale. Eine traurige Vorstellung. "Die Orangen müssen aufhören, sich zu bekriegen, sonst werden ihre Stimmenanteile weiter sinken", urteilt die Meinungsforscherin Irina Bekeschkina von der Stiftung "Demokratische Initiative".

Nach letzten Meinungsumfragen führt tatsächlich Janukowitschs "Partei der Regionen" mit 31 Prozent der Stimmen vor dem "Block Julia Timoschenkos" mit 16 Prozent und Juschtschenkos "Unsere Ukraine" mit 13 Prozent. Zehn weitere Parteien mühen sich an der Drei-Prozent-Hürde: Kommunisten, Sozialisten oder demokratische Splitter wie die Partei "Reformen und Ordnung" oder die Jugendbewegung "Es ist soweit". Angesichts der Ambitionen und Animositäten der Spitzenkandidaten wird es mühsam werden, eine Mehrheit für, aber sehr leicht Mehrheiten gegen einen neuen Premier zu finden. Oder wie der Volksmund sagt: "Es gibt zu viele Hetmane in der Ukraine."

Allerdings stellt niemand mehr die innenpolitischen Verhältnisse in Russland als Vorbild hin, nicht einmal Viktor Janukowitsch, der bei der Präsidentschaftswahl 2004 noch als Kandidat des Kremls galt. "Wir können die ,Orangen' hier nicht leiden. Aber auch Putins Ansehen ist bei uns ziemlich lau", sagt ein Bankkaufmann aus Janukowitschs russischsprachiger Heimat Donezk. "Welcher nüchterne Mensch holt sich freiwillig die Moskauer Hämorrhoiden?" Den großen russischen Bruder zu beschimpfen, dass scheint der letzte gemeinsame Nenner der politischen Ukraine zu sein.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.