Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 04 / 23.01.2006
Eckart Dietzfelbinger

Nicht mehr Himmelsstürmer, aber immer noch in der Mitte

Zweimal Deutschland: Historische und aktuelle Annäherungen
Der Publizist Wolfgang Büscher hat in drei Monaten Deutschland durchquert. Er hat sich Zeit dafür genommen und treiben lassen, zu Fuß, per Anhalter oder je nach Gelegenheit mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Seine Beobachtungen und Erfahrungen sind zu einem funkelnden Juwel der Gattung Reiseliteratur geworden. Eingefasst in eine anregend zu lesende und mit prägenden Metaphern verzierte Sprache birgt es Stimmungen und Farben, transportiert Landschaften und ihre Besonderheiten und lässt die verschiedenen Jahreszeiten mit dem wechselnden Licht, Wind und Wetter nachempfinden.

Im Mittelpunkt aber stehen die Menschen und ihr Leben. In den bereisten Orten und Städten verweist Büscher auf Mythen oder Legenden, erzählt von Schmugglergeschichten, streut aber ebenso gut recherchierte reale Begebenheiten aus Vergangenheit und Gegenwart ein. Wie in einem Kaleidoskop formen sich daraus unbekannte und immer wieder anders zusammengesetzte Blicke auf Deutschland und reflektieren seine Eigenwilligkeiten, insbesondere seine jüngere Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

Zum Beispiel von der Insel Helgoland: 1890 hatte das Deutsche Reich sie von den Briten im Austausch gegen Sansibar erworben. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten die Bewohner das Felseneiland verlassen, die Briten wollten Helgoland mit 6.700 Tonnen Sprengstoff sprengen. Doch nur der Südteil der Insel verschwand im Meer. Dann diente sie der britischen Armee als Bombenabwurfplatz, bis im Jahr 1950 zwei Studenten die Insel besetzten und eine Welle der Sympathie und Solidarität auslösten. Nach längeren Verhandlungen gab die britische Luftwaffe nach, die Helgoländer durften 1952 zurückkehren.

Zur Historie fügt Büscher ein Porträt des Inselarztes auf der Grundlage seines Kriegstagebuches hinzu und belebt sie damit entscheidend. Seine Deutschland-Reise bleibt stets abwechslungsreich und ist ein echtes Lesevergnügen.

Nüchterner, aber ebenfalls mit eigenem Blick ausgestattet ist das Buch des Historikers Dirk van Laak. Beide Publikationen können als Versuche verstanden werden, Deutschland ein Stück näher kennenzulernen. Folglich finden sich an einigen Stellen Verbindungen. Um beim Beispiel Helgoland zu bleiben: Für van Laak verdeutlicht der rote Sandsteinfelsen wie ein Geschichtszeichen wesentliche Elemente des deutschen Imperialismus: den Einfluss strategischer Überlegungen, die Vermittlungsarbeit von Intellektuellen für das nationale Selbstbild und für die deutsche Expansion ebenso wie die Wahrnehmung symbolischer Orte und Räume.

Imperialismus versteht der Autor als den offensiven Teil deutscher Weltaneignung und somit eher als Anspruch, nicht als Vorwurf, ohne freilich diese so gewaltsame Epoche zu relativieren. Denn sie war weder naturnotwendig noch unvermeidlich. Alle seine Erscheinungsformen sind trotz ihrer komplexen Strukturen verständlich beschrieben: Ob die mit Hilfe der modernen Wissenschaften konstruierte Definition von der Höherwertigkeit der europäischen Zivilisation gegenüber fremden Kulturen, der verspätete Charakter des deutschen Staatsverbandes oder der Anspruch auf einen "Platz an der Sonne", personifiziert in der Gestalt Kaiser Wilhelms II. In diesem Bewusstsein führte die deutsche Regierung den Ersten Weltkrieg (1914 - 1918) mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln an Mensch und Material bei fortschreitendem Realitätsverlust bis zum bitteren Ende.

Nach dem Scheitern der Weimarer Republik kann die Vorbereitung und Auslösung des Zweiten Weltkrieges (1939 - 1945) durch die Nationalsozialisten mit ihrem "Führer" Adolf Hitler auch als übersteigerte Neuauflage des Ersten Weltkriegs und als Fortsetzung imperialistischer Weltaneignung interpretiert werden. Allerdings ist die Eigenständigkeit des mörderischen Antisemitismus und der rassistischen NS-Ideologie hervorzuheben. Die deutsche Invasion in den Osten eskalierte zu einem nie dagewesenen und beispiellosen Rassen- und Vernichtungskrieg.

Im abschließenden Kapitel fragt van Laak nach der Bedeutung und den Folgen des Imperialismus bis heute. Nach dem welthistorischen Umbruch von 1989/90 richtet er den Blick vom wiedervereinigten Deutschland auf die Welt. Bei dem Phänomen, das gemeinhin als Globalisierung bezeichnet wird, macht er Kontinuitäten aus: Nicht die formalen und territorialen Inbesitznahmen bewährten sich als Expansionsmethoden, sondern die flexiblen Formen der ökonomischen und kulturellen Durchdringung der Welt durch die wohlhabenden Industrieländer. Somit wurde das expansive Europa mit der Hochzeit des Imperialismus zum Schicksal der übrigen Welt. Seine Denkstrukturen dominieren heute in der globalen Raumordnung, bei den Grenzziehungen, beim ,nation building' und bei den Wirtschaftsstrukturen, aber auch - stärker amerikanisch geprägt - bei der Medien-, der Konsum- und der Werbeindustrie. Deutschland hat dabei als einer der höchstentwickelten Industriestaaten an sämtlichen Prozessen einen erheblichen Anteil.


Wolfgang Büscher

Deutschland, eine Reise.

Rowohlt Berlin, Berlin 2005; 250 S., 17,90 Euro


Dirk van Laak

Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert.

Verlag C.H. Beck, München 2005; 229 S., 14,90 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.