Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 04 / 23.01.2006
Werner Krätschell

Mitunter fehlte das Prophetische

Die Evangelische Kirche in der DDR

Das ist ein verdienstvolles Buch. Es hält die wesentlichen Vorgänge im spannungsreichen Verhältnis zwischen DDR-Staat und Evangelischer Kirche fest, die leicht "vom Winde verweht" werden könnten. Der Autor, ausgewiesener Kirchengeschichtler mit Verdiensten vor allem in der Reformationsgeschichte, wird mit der für ihn typischen Nüchternheit - mit Sinn für gute, politische Witze - in den wichtigs-ten Passagen zum Zeithistoriker. Dies zeigt sich bereits am Anfang an zwei Karten, die die komplizierte kirchliche, staatliche und geografische Gliederung der DDR gegenüberstellen, sowie an einer Zeittafel, in der die jeweiligen politischen Ereignisse synoptisch mit kirchlichen Vorgängen und mit guten Stichworterklärungen nebeneinander stehen.

Auf dieser Zeitschiene bewegt sich die Darstellung: von den schwierigen Anfängen einer vom Gift des Nationalsozialismus zu reinigenden Kirche über den anfangs harten Kampf der Kommunisten gegen diese Institution, die Neuorientierung der Kirche(n) in der DDR nach dem Mauerbau 1961, die schließlich 1969 unter Aufgabe der alten Bindungen zur gesamtdeutschen Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Gründung eines eigenen Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) führte, bis hin zu den dramatischen Spannungen zwischen Staat und Kirche in der DDR seit Beginn der 80er-Jahre, unter deren Dach sich immer stärker eine Oppositionsbewegung formierte, die bei der weltpolitischen Wende 1989 eine wichtige Rolle spielte.

Die Kapitulation der Staatsführung wird durch viele Details und Zitate aus den Reden damaliger Protagonisten in der Evangelischen Kirche im Osten (Schorlemmer, Eppelmann, Falcke, Forck, Stolpe) anschaulich. Es könnte sein, dass innenpolitisch eine frühe "Beißhemmung" des Staates gegenüber der Oppositionsbewegung bereits durch einen Schock ausgelöst worden war, der durch die Selbstverbrennung von Pfarrer Brüsewitz in Zeitz am 18. August 1976 Staat und Kirche gleichermaßen erfasst hatte.

Die Darstellung dieses Falles gelingt dem Autor besonders gut, ebenso die Erklärung der Hintergründe zu Reizthemen zwischen Staat und Kirche wie Konfirmation und Jugendweihe, die Benachteiligung von Christen im Bildungswesen, die Ausreiseproblematik, der Wahlbetrug. Gelungen ist auch die Beschreibung der innerkirchlich umstrittenen Formel "Kirche im Sozialismus". Auch das "kleine Wunder" inmitten der spannungsvollen Jahrzehnte, das Gespräch am 6. März 1978 zwischen Erich Honecker und dem Vorstand des BEK unter Leitung von Bischof Schönherr, wird mit Genesis und positiver Auswirkung auf die Beziehungen zwischen Staat und Kirche veranschaulicht.

Kritisch seien drei Punkte angemerkt. Erstens: Mit dem Titel des Buches ist der Mund zu voll genommen, weil der Autor seinen Blick ausschließlich auf die Evangelische Kirche in der DDR mit ihren Beziehungen zum Staat und zur Zeitgeschichte richtet. "Protestantismus" ist aber weit mehr als die verfasste Kirche. Persönlichkeiten wie die jetzige Bundeskanzlerin Angela Merkel oder der Vorsitzende der SPD, Matthias Platzeck, sind auch "protestantisch" sozialisiert, aber außerhalb der kirchlichen Strukturen. Im Stammland Martin Luthers wäre eine Untersuchung darüber von Interesse, wie "Protestantismus" sich außerhalb der Kirche entwickelt hat und welche kulturellen und politischen Folgen sich daraus ergeben haben.

Zweitens: Leider fehlt am Schluss eine das Ganze noch einmal wertende Zusammenfassung. So bleibt es dem Leser überlassen, Schlüsse aus dem Verhalten der Kirche(n) in der DDR zu ziehen, dass sie nämlich an vielen Stellen zwar das praktisch Mögliche erreicht hat, aber dass oft zu große Ängstlichkeit das Agieren, Reagieren und die Redeweisen bestimmt hat. Im kirchlichen Sprachgebrauch würde man sagen, dass der Kirche in der DDR zu oft das "Prophetische" abgegangen ist. Erst als es nicht mehr gefährlich war, wurde Klartext geredet.

Drittens: Mit nur zehn Seiten ist die Darstellung der spannungsreichen Wiedervereinigung der Kirche in Ost und West nach der Wende viel zu kurz gekommen. Vielleicht wird die Lücke von dem in dieser Reihe demnächst spiegelbildlich erscheinenden Buch von Martin Greschat über den Protestantismus im Westen Deutschlands geschlossen.


Rudolf Mau

Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945 - 1990).

Ev. Verlagsanstalt, Leipzig 2005; 247 S., 28,- Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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