Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 04 / 23.01.2006
Mirko Heinemann

Die Hauptstadt als Ort kreativen Potenzials in Zeiten leerer Kassen

Urbane Experimente: Der bevorstehende Abriss des ehemaligen Palastes der Republik in Berlin hat eine Debatte über den Umgang mit hohem Leerstand und vielen Brachflächen entfacht

Der Bauzaun ist bereits errichtet, in Kürze werden die Bagger der Ruine des Palastes der Republik den Rest geben. "Erichs Lampenladen", wie das nach sozialistischer Vorstellung architektonische Prunkstück in der Mitte von Berlin im Volksmund genannt wurde, wird demnächst Vergangenheit sein - auch wenn der Bundestag am Ende der vergangenen Woche noch einmal darüber diskutierte. Die Linkspartei hatte in einem Antrag dafür plädiert, den Palast mit seinem angeblichen "materiellen Wert von über 100 Millionen Euro" nicht abzureißen, sondern zu modernisieren. Die Grünen wollten einen Aufschub erwirken. Die derzeit geplante Nachnutzung des prominenten Grundstücks, so beide Fraktionen einhellig, sei zu teuer und lasse sich nicht realisieren.

Doch der Bundestag hatte sich bei den Beschlüssen vom 4. Juli 2002 und vom 13. November 2003 bereits positioniert: Der Palast der Republik soll abgerissen werden und an seine Stelle ein Museum mit Bibliothek neu entstehen. Dieses "Humboldt-Forum" solle mit einer Replik der Fassade des kaiserlichen Stadtschlosses ausgestattet werden, dessen Überreste 1950 gesprengt worden waren. Die Beschlüsse dokumentieren eine große Sehnsucht nach der Wiederauferstehung der historischen Berliner Mitte. Allerdings ist die Finanzierung des Schloss-Neubaus, der nach dem Vorbild der Dresdner Frauenkirche in Teilen durch Spenden erfolgen soll, bisher nicht gesichert. Zumal der Förderverein Berliner Schloss erst kürzlich in die öffentliche Kritik geriet, da er unverhältnissmäßig hohe Aufwandsentschädigungen an den Architekten und den Vereinsvorstand gezahlt haben soll. Der Vorsitzende des Vereins, der Hamburger Kaufmann Wilhelm von Boddien, wies die Vorwürfe zurück. Gleichwohl: Wie die geplante Barockfassade des Schlosses, die mit 80 Millionen Euro veranschlagt worden ist, bezahlt werden soll, ist immer noch unklar. Übergangsweise soll das Grundstück nun mit Rasen begrünt werden.

In den vergangenen Jahren wurde die Palastruine von einer Künstler-Gruppe bespielt, gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds. Mit großem Erfolg: Mehr als 600.000 Besucher kamen nach Angaben der Veranstalter zu den Aktionen der Künstler. Die enorme Resonanz hat eine Debatte in Berlin losgetreten, in deren Umfeld das Interesse von Künstlern an leer stehenden Gebäuden in der Stadt geradezu explodierte.

Der vergangene Sommer brachte Berlin eine Flut von temporären Bespielungen: Im leer stehenden Tierpark-Restaurant Friedrichsfelde gab es Theateraufführungen, Kunstobjekte verzierten Brachflächen in Berlin-Mitte, in alten Brauereien fanden Ausstellungen statt, Jugendliche tanzten Breakdance auf einem Industriegelände, Bands spielten in Baugruben. Performances in halb verfallenen Läden zogen Neugierige an.

Die Entwicklung ist Ausdruck der schrumpfenden Einwohnerzahl Berlins und des ausbleibenden ökonomischen Aufschwungs. Innerstädtische Brachen bleiben unbebaut, Grünflächen verwildern. Zehn Prozent der Büroflächen stehen leer, über 100.000 Wohnungen können nicht vermietet werden. Das alles trotz großflächigen Abrisses und Aufwertungsmaßnahmen mit Hilfe des Programms Stadtumbau Ost. Die teuren Träume der Stadtplaner sind zerplatzt. Auch der Umbau des Alexanderplatzes mit Hochhäusern nach einem Entwurf von Star-Architekt Hans Kollhoff, beschlossen Anfang der 90er-Jahre, wartet noch auf seine Realisierung. Für das hochtrabende Bauprojekt lassen sich keine Investoren finden.

Nach der Wiedervereinigung glaubte man, Berlin werde binnen weniger Jahre zur Sechs-Millionen-Einwohner-Metropole anwachsen. Das heutige Szenario ist dagegen nüchtern, wenn nicht gar ernüchternd. Berlin ist seit der Wende nicht gewachsen, sondern geschrumpft - um immerhin 40.000 Einwohner.

Bisher ist kein Großinvestor in Sicht

Nun hat die Bespielung des ehemaligen Palastes der Republik eine hitzige Debatte um die Zwischennutzung von Gebäuden und Brachflächen in Berlin entfacht. Verfechterin von temporären Kunstprojekten ist die parteilose Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds, Adrienne Goehler. Die ehemalige Berliner Kultursenatorin hatte die Projekte in der Palast-Ruine mit großzügigen Finanzmitteln aus dem Fond unterstützt. Der hohe Leerstand biete die Chance, so Adrienne Goehler, künftige Gesellschaftskonzepte zu erproben: "Wir werden künftig andere Formen finden müssen, wie wir uns ernähren und arbeiten." Berlin bilde mit seiner Rekordarbeitslosigkeit und der gleichzeitig bundesweit höchsten Dichte von Künstlern und Wissenschaftlern eine "Avantgarde der prekären Verhältnisse". Ein ideales Experimentierfeld, auf dem "Desillusionierung und kreatives Potenzial" zusammen gebracht werden könnten.

So weit, dass er Zwischennutzungen eine gesellschaftspolitische Dimension einräumt, würde der Architekt Philipp Oswalt nicht gehen. Er forderte allerdings schon vor Jahren die Stadtplaner zum Umdenken auf. Oswalt ist einer derjenigen, die den Anstoß für die Zwischennutzung der Palast-Ruine gegeben hatten. Die Nutzung sollte "ein Fragezeichen" hinter die Diskussion um den an der Stelle geplanten Wiederaufbau des kaiserlichen Stadtschlosses setzen und die Planungspolitik hinterfragen. Philipp Oswalt: "Die Stadtplaner müssen sich endlich von dem Gedanken verabschieden, dass ein Investor mit viel Geld kommt."

Oswalt hat die Berliner Architekturdebatte der 90er-Jahre stark beeinflusst. Er trug mit seinem Buch "Berlin - Stadt ohne Form" zahlreiche Ideen von prominenten Architekten zusammen. Als Quintessenz seiner Untersuchungen schlug er dem Berliner Senat die Errichtung eines "Zwischennutzungsfonds" vor. Als "kommunales Aktivierungswerkzeug" für brachliegende Räume sollte das Büro Informationen über Leerstand bündeln, juristische Probleme angehen und Vertrauen zwischen Besitzern und Zwischennutzern aufbauen. Die Senatorin für Stadtentwicklung, Ingeborg Junge-Reyer (SPD), wird zwar nicht müde zu betonen, dass sie Zwischennutzungen generell unterstütze, eine institutionelle Verankerung ist jedoch bisher ausgeblieben.

Dabei könnte Zwischennutzung durchaus die Funktion einer Vorhut für Investoren haben. Aufwertung, "Gentrification", von Stadtvierteln findet oftmals infolge kreativer Zwischennutzung statt. Berlin ist geprägt durch Vielfalt und Kreativität, die ohne den massiven Leerstand nicht in diesem Maße denkbar wären. Die Auswirkungen auf mittlerweile weitgehend modernisierte Stadtviertel wie den Prenzlauer Berg oder die Gegend rund um den Hackeschen Markt sind immer noch präsent.

Sogar die Wirtschaft hat Zwischennutzung als Marketingvehikel entdeckt. Während der Kunstaktion im ehemaligen Palast der Republik feierten die Unternehmensberater von McKinsey im Palast ihr 40-jähriges Betriebsjubiläum, und Modefirmen wie Nike mieteten in Berlin kurzzeitig leer stehende Läden an, um PR-Aktionen und Mode-Events zwischen den verwitterten Wänden stattfinden zu lassen. Im vergangenen Herbst wurde ein Wohnhaus im Prenzlauer Berg mit Einverständnis des Besitzers vorübergehend von einer Künstlergruppe "besetzt". Die Künstler versahen das Haus mit auffälligen Kunstobjekten, was das Augenmerk von Passanten auf die zum Verkauf stehenden Wohnungen lenkte.

Der aus Seattle/USA stammende und in Berlin lebende Stadtplaner Michael LaFond möchte, dass "Brachflächen nicht als Last, sondern als Potenzial erkannt werden". Sein "Institut für kreative Nachhaltigkeit" will aufzeigen und diskutieren, was zum Thema Zwischennutzung oder gar Nachnutzung in Berlin derzeit gemacht wird. Dabei denkt Michael LaFond über Zwischennutzungen hinaus. "Wir wollen mögliche Nachnutzungen initiieren", sagt LaFond. Kulturprojekte wie im Palast der Republik seien per se auf temporäre Nutzung festgelegt, andere jedoch sehnten sich nach einer langfristigen Perspektive. "Zwischennutzer werden von Staat und Investoren oftmals ausgenutzt und nicht ernst genommen." Das will LaFond ändern.

Erfolgreiche Nachnutzung

Einige Gruppen haben in Berlin bereits Fakten geschaffen. Jüngstes Beispiel für eine erfolgreiche Nachnutzung: Das Musikerprojekt Orwo-Haus. Der ungeliebte Plattenbau im Stadtteil Marzahn stammt aus DDR-Zeiten und sollte von der Treuhand verkauft werden. Als die dort als Zwischennutzer probenden Musiker hinauskomplimentiert werden sollten, kauften sie das Gebäude kurzerhand. Derzeit bauen sie es in Eigeninitiative zu einer "Musikfabrik" aus.

Michael LaFond führt derzeit Gespräche mit über 40 Projekten und Initiativen in Berlin, die Interesse an temporären und längerfristigen Nutzungen haben, und vermittelt Treffen mit Projektentwicklern, Architekten und Politikern. Im kommenden Sommer wird sich Berlin passend zur Fußball-Weltmeisterschaft auf eine förmliche Explosion von temporären Kulturprojekten einstellen können. Mit einem nicht zu verachtenden Nebeneffekt: Die in die Stadt strömenden Besucher werden eine Menge zu entdecken haben.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.