Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 12 / 20.03.2006

"Die Gerechtigkeit muss kommen"

Interview mit dem Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel
Der Militärputsch in Argentinien jährt sich am 24. März zum 30. Mal und wirft noch immer seine Schatten auf die Gesellschaft des südamerikanischen Landes. Die Argentinier könnten nie mehr so werden, wie sie vorher gewesen seien, sagt der Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel über die Auswirkungen der Militärdiktatur (1976-1983). In Berlin war der 74-Jährige anlässlich der internationalen Tagung "30 Jahre Militärputsch in Argentinien", die am 10. März von der "Koalition gegen Straflosigkeit", dem Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika, der Berliner Rechtsanwaltskammer und dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein veranstaltet wurde.

Das Parlament: Der Militärputsch ist 30 Jahre her, die Verbrechen der Junta liegen lange zurück und das Land hat seitdem mehrere demokratische Regierungen gehabt. Warum beschäftigt Sie dieses Thema noch?

Adolfo Pérez Esquivel: In erster Linie deswegen, weil es sich bei den Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt, die niemals verjähren. Zum andern lässt sich keine wirkliche Demokratie aufbauen, wenn sie auf Straflosigkeit der Verbrechen der Vergangenheit beruht. Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung müssen garantiert werden, damit sich solche Verbrechen an keinem Ort der Welt wiederholen. Bis heute werden die Nazi-Verbrecher weltweit gesucht. Wir müssen dafür sorgen, dass auch die Diktatoren Argentiniens und der anderen südamerikanischen Staaten zur Rechenschaft gezogen werden.

Das Parlament: Die sind aber inzwischen alt. Sollte man sie nicht die letzten Jahre ihres Lebens in Ruhe lassen?

Adolfo Pérez Esquivel: Nein. Die Gerechtigkeit muss kommen, auch wenn es noch viele Jahre dauert. Es ist die einzige Möglichkeit, die Gesellschaft zu heilen.

Das Parlament: Südamerika ist nach links gerückt, es gibt inzwischen viele sozialistische und sozialdemokratische Regierungen. Was bedeutet das für die Menschenrechtssituation?

Adolfo Pérez Esquivel: Das bedeutet, dass die Menschenrechte stärker als Gesamtkomplex berücksichtigt werden. Es geht nicht allein um Folter, sondern auch um die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte.

Das Parlament: Was hat sich unter der Regierung von Präsident Néstor Kirchner in Argentinien verändert?

Adolfo Pérez Esquivel: Die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit ist unter der Regierung Kirchner verbessert geworden. Die Regierung hat auf rechtlicher Ebene Dinge geleistet, die die vorherigen Regierungen nie gemacht hätten. Zudem hat sie sich auch mit symbolischen Gesten von der Militärdiktatur abgesetzt. Was die wirtschaftliche und soziale Situation angeht, beispielweise die Arbeitslosigkeit, geschehen aber nur langsam positive Veränderungen. Es gab auch Repressionen gegen die sozialen Proteste der Bevölkerung. Das kann man allerdings nicht nur der Regierung Kirchner vorwerfen. Die argentinischen Provinzen haben sich in eine Art Feudalstaaten verwandelt, in denen es starke Repressionen gibt.

Das Parlament: Die Amnestiegesetze sind unter der Präsidentschaft Kirchners aufgehoben worden. Reicht das?

Adolfo Pérez Esquivel: Mit der Annullierung der Straffreiheitsgesetze sind wir vorangekommen. Das war ein sehr wichtiger Schritt, um die Straffreiheit der Juntamitglieder auf rechtlicher Ebene zu überwinden. Jetzt liegt alles in den Händen der Justiz, es gibt laufende Verfahren. Nun muss es zu Strafen und einer Entschädigung der Opfer kommen.

Das Parlament: Wie schätzen Sie die derzeitige Situation der Menschenrechte in Südamerika ein?

Adolfo Pérez Esquivel: Entführungen, gewaltsames Verschwindenlassen und Folter passieren in den meisten südamerikanischen Ländern nicht mehr. So etwas geschieht aber noch in Kolumbien und Guatemala.

Das Parlament: In Europa gibt es angesichts des Gefangenenlagers Guantanamo und der Geschehnisse im irakischen Gefängnis Abu Ghraib heftige Diskussionen über die Legitimität von Folter. Wird in Südamerika auch darüber diskutiert?

Adolfo Pérez Esquivel: Ja, klar wird über Abu Ghraib und Guantanamo diskutiert. Es ist Besorgnis erregend, dass Staaten wie die USA und Großbritannien, die sich als demokratisch bezeichnen, dieselben Methoden anwenden, wie sie in Argentinien angewendet wurden, unter anderem auch Folter. Deshalb ist es auch so wichtig, dass solche Verbrechen nicht straflos bleiben.

Das Parlament: Ist man in Argentinien heutzutage sensibler gegenüber Folter, weil man selbst in Zeiten leben musste, in denen das üblich war? Oder ist man abgestumpfter?

Adolfo Pérez Esquivel: Unsere Vergangenheit spiegelt sich in dem, was heute in anderen Ländern passiert. Es ist sehr schmerzhaft, das zu sehen. Deshalb kämpfen wir auch weiter gegen die Straflosigkeit von Folter und fordern von der Organisation Amerikanischer Staaten und den Vereinten Nationen, dieses Ziel mit mehr Nachdruck zu verfolgen.

Das Parlament: Wie beurteilen Sie die deutsche Außenpolitik gegenüber Argentinien in der Vergangenheit und heute?

Adolfo Pérez Esquivel: Wir fordern seit Jahren von der deutschen Politik, dass sie aktiver und präsenter ist, was die Verfahren gegen die argentinischen Täter angeht. Wir sind im Gespräch und ich habe den Eindruck, dass einige Fortschritte auf dem Weg sind. Wir arbeiten weiter daran und hoffen, zu Vereinbarungen zu kommen.

 

Das Interview führte Ulrike Schuler


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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