Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 12 / 20.03.2006
Sabine Kebir

Heilige und unheilige Fronten

Der arabische Fernsehsender Al-Dschasira
1989 brachen mit den totalitären Regimen des Ostblocks auch deren straff kontrollierte Nachrichteninstitutionen zusammen. In einem Teil der Entwicklungsländer blieben ähnliche Systeme erhalten, in anderen veränderten sie sich. Die folgenreichste Neuerung fand im Emirat Katar mit der Gründung des Fernsehsenders Al-Dschasira statt, der weltweit schon Ärger verursachte, der aber von vielen - auch westlichen - Berufsorganisationen als unabhängig anerkannt ist. Der amerikanische Journalist Hugh Miles hat eine nun auch auf deutsch vorliegende Studie über Al-Dschasira verfasst.

Es war vorhersehbar, dass Prozesse der Demokratisierung und der Entwicklung unabhängiger Medien in den reichen Golfemiraten nicht durch politischen Kampf, sondern durch Beschluss aufgeklärter Herrscher in Gang gebracht würden. Ein solcher Herrscher ist Hamad bin Khalifa Al Thani. 1996 stürzte er seinen Vater und verordnete dem Land, das dank immenser Gasreserven das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Welt hat, demokratische Wahlverfahren für einige Institutionen, an denen auch Frauen teilnehmen. Insbesondere ist der neue Kommunalrat zu nennen, dessen Mitglieder zu zwei Dritteln direkt gewählt werden.

Das Land investiert viel in Bildung, unterhält als einziger Golfstaat Verbindungen nach Israel und ist ein enger Verbündeter der USA, deren riesige Militärbasen als militärisches Hauptquartier für die Kriegsoperationen im Irak dienen. Dass der Emir seit 1996 auch einen unabhängigen Fernsehsender, der die Politik der USA und ihrer Verbündeten im Nahen Osten scharf kritisiert, finanziell unterstützt, gehört zu den Rätseln der aktuellen Welt. Al Thani und der Sender verweisen auf das Vorbild der BBC, die ja ebenfalls staatliche Unterstützung erhält und trotzdem als unabhängig gilt.

Die Verwandtschaft Al-Dschasiras mit der BBC beruht auch darauf, dass der Sender aus den Trümmern eines gescheiterten Gemeinschaftprojekts der BBC und Saudi-Arabiens entstand. Dieses Projekt musste nach einer ersten Sendung, in der Saudi-Arabien kritisiert wurde, aufgegeben werden. Al Thani warb einen Teil des Personals für das Senderprojekt Al-Dschasira an, dessen Professionalität und Legitimität nicht nur durch die ehemaligen BBC-Leute, sondern bald auch durch abgeworbene Journalisten von CNN sofort glaubwürdig war.

Im arabischen Raum sicherte sich Al-Dschasira sofort hohe Zuschauerzahlen, weil er mehrere dort bislang nicht praktizierte Formate wie Live-Interviews einführte, bei denen auch Zuschauer per Telefon direkt zugeschaltet werden. Die berühmteste dieser Sendungen heißt "Meinung und Gegenmeinung". Hier kommen profilierte Oppositionelle der muslimischen Welt zu Wort, weshalb sich der Sender schon viel Ärger und Behinderungen einhandelte. Außerdem verfügt er über ein Netz von hochmotivierten Reportern in der ganzen Welt, insbesondere in Kriegsgebieten.

Da Al-Dschasira auch über Saudi Arabien sehr kritisch berichtet, verhindert der große Nachbar durch gezielten Druck auf die Werbebranche und Boykottandrohungen an werbewillige Firmen bis heute, dass der Sender finanziell selbständig ist. Er hängt noch immer vom Emir ab, mit dem aber seit 1998 ein offizielles Abkommen besteht, wonach dieser sich nicht in die Belange des Senders einmischt. Dies hebt der Emir auch gegenüber seinen engsten Verbündeten, den USA hervor, die ihn öfter baten, mäßigend auf Al-Dschasira einzuwirken.

Die größte Empörung rief immer wieder die Ausstrahlung von Videobändern Ousama bin Ladens und anderer Al-Kaida-Führer hervor, einmal sogar ein von dem Mitarbeiter Taisir Alluni geführtes Interview mit Bin Laden. Al-Dschasira vertritt die Position, dass alle Kriegsparteien zu Wort kommen müssen, auch wenn sie keine völkerrechtliche Legitimation besitzen.

Den seit dem 11. September insgesamt ausgestrahlten fünf Stunden mit Bin Laden stehen 500 Stunden gegenüber, in denen US-Präsident Bush direkt zu Wort kam. Al-Dschasira war der einzige Sender der Welt, der die Rede von US-Außenminister Powell vor dem Irak-Krieg live und vollständig ausstrahlte. Trotz aller Behinderungen, denen der Sender und seine Web-Seite in den USA selbst ausgesetzt ist, hält man es in Washington hin und wieder für nützlich, sich direkt von Al-Dschasira interviewen zu lassen, weil es sich um den Kanal handelt, der in der arabischen Welt die höchsten Zuschauerzahlen besitzt.

Nicht nur die großen europäischen, sondern auch die amerikanischen Kanäle übernehmen gern die Aufnahmen, die die wagemutigen Reporter von Al-Dschasira aus Gebieten senden, aus denen sich andere Kamerateams längst zurückgezogen haben. Al-Dschasira war der einzige Kanal, der 1998 das "Operation Desert Fox" genannte 70-stündige Bombardement der USA und Großbritanniens auf 100 militärische Ziele im Irak filmte. Es wurde mit fünfminütigem Verzug weltweit von allen großen Sendern gezeigt.

Von besonderer Bedeutung ist Al-Dschasiras Präsenz in Israel und in den besetzten Gebieten, seit die palästinensischen Rundfunk- und Fernsehanlagen zerstört wurden. Al-Dschasira ist hier durch den aus der Westbank stammenden, auch als Übersetzer in der Knesset tätigen Reporter Walid al Omri präsent. Zum ersten Mal ließ ein arabischer Nachrichtensender israelische Amsträger direkt zu Wort kommen.

Weil Al-Dschasira auch die Korruption der Autonomiebehörde nachdrücklich kritisierte, wurde das Büro in Ramallah einmal von Sicherheitskräften der Fatah gestürmt. Von israelischer Seite wurde der Sender dagegen immer wieder beschuldigt, Sprachrohr der Al-Aksa-Brigaden zu sein. Im Irak musste sich Al-Dschasira gegen Einschränkungen und Instrumentalisierungsversuche durch das Saddam-Regime wehren. Als der Sender die einrückenden Koalitionstruppen in Bagdad filmen wollte, wurde sein Standort mit amerikanischen Panzerraketen beschossen, obwohl die in einem Wohnviertel gelegene Adresse dem Koalitionsmilitär bekannt war. Der Mitarbeiter Tarik Ajub erlag seinen Verletzungen.

Sowohl aus Afghanistan als auch aus dem Irak berichtete Al-Dschasira über die "Kollateralschäden" des Krieges, über Opfer und Drangsalierungen der Zivilbevölkerung, über radioaktive Verseuchung. Er zeigte aber auch Gefangene und Tote der Koalitionstruppen, was wiederum deren Proteste hervorrief. Es wundert wenig, dass Al-Dschasira, nachdem im Irak Satellitenschüsseln erlaubt sind, dort der meist gesehene Sender ist, obwohl die USA mehrfach versuchten, andere Medienprojekte oder -netzwerke zu starten.

Der Sender steht ständig unter dem Verdacht, mit Terroristen zusammenzuarbeiten. Daher wurden schon zahlreiche in Afghanistan und im Irak tätige Mitarbeiter festgenommen. Einige haben das Gefängnis Abu Ghraib und sogar Guantanamo erlebt. Dass die heutige irakische Regierung die im Lande tätigen Journalisten verpflichtet, Personen oder Zusammenhänge preiszugeben, von denen Gewalt ausgehen könnte, zeigt deutlich den schmalen Grat, der zwischen dem für die journalistische Arbeit unabdingbaren "Quellenschutz" und Kollaboration mit einer Konfliktpartei besteht. Generell scheint es notwendig, auf die Etablierung eines Codes zu dringen, auf dessen Grundlage Journalisten zwischen den Fronten tätig werden können.

Dass Al-Dschasira Videobänder von Hinrichtungen Entführter gezeigt hat und dass redaktionelle Kommentare es manchmal an Neutralität mangeln ließen, sind Fehler, die der Sender selbst anerkennt. Schließlich plant er ein zweites, weltweites englischsprachiges Programm. Hugh Miles hebt hervor, dass man Al-Dschasira wohl einiges vorwerfen könne; aber es sei dem Sender erstmals gelungen, "die Richtung des Informationsflusses umzukehren, so, dass er nunmehr zum ersten Mal seit hunderten von Jahren von Ost nach West fließt". Der Sender habe er erreicht, dass sich viele zuvor als Verlautbarungsorgane der Regierungen funktionierende Fernsehkanäle anderer muslimischer Staaten zu Veränderungen gezwungen sahen, freilich nirgends so einschneidend wie bei Al-Dschasira selbst.

 

Hugh Miles

Al-Dschasira. Ein arabischer Nachrichtensender fordert den Westen heraus.

Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2005; 336 S., 24,80 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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